Читать книгу Die Welt ist ein großer Flipper - Velibor Colic - Страница 5

2

Оглавление

Vom ersten Tag meines Exils an bin ich überzeugt, Krebs zu haben: Kehlkopf- oder Lungenkrebs, Hirntumor oder eine besonders bösartige Krabbe in meinen Eingeweiden. Ich bin kein richtiger Hypochonder, ich glaube nur felsenfest, dass ich die Krankheiten meiner drei Lieblingskünstler des Tages habe. Am Morgen bin ich Modigliani und huste meine Tuberkulose heraus, am Nachmittag habe ich einen Lungenkrebs namens Raymond Carver und abends bin ich Alkoholiker, also Hemingway. Und so geht es weiter. Am nächsten Tag bin ich blind wie Borges, epileptisch wie Dostojewski und ständig betrunken wie Fitzgerald. Ich habe eine große Auswahl, die Literaturgeschichte gleicht einem Medizinlexikon.

Mein Manuskript ist ein echtes Manuskript, mit der Hand geschrieben. Auf engen Zeilen, um Platz zu sparen, liste ich meine Beobachtungen, meine Gedanken und meine Flüche auf. Ich bin zugleich Kriegsgegner und Friedensgegner, Humanist und Nihilist, Surrealist und Konformist, der Hemingway des Balkans und wahrscheinlich der größte jugoslawische Dichter unserer Zeit. Da ist nur ein Detail: Meine Texte sind viel schlechter als ich. Meine Weltanschauung ist universell, mein Schreiben nur eine endlose Aufzählung von Dingen und Menschen, die ich nie mehr sehen werde.

Oft besuchen mich in meinen Träumen eine Stadt und eine Frau, dann eine andere Sonne. Die Stadt in meinen Träumen ist eine eigenartige Mischung aus meinem Geburtsstädtchen, Sarajevo und Dubrovnik. Die Frau ist eine große Blonde, lasziv und sanft, ihr langes Haar schimmert orange. Die Sonne ist ein blasser, gequälter Stern, wie bei Lorca der Mond, Beschützer der Zigeuner, Diebe und Vagabunden.

Mein Problem ist das Aufwachen. Das Aufwachen ist immer niederschmetternd. Ich möchte in der Geografie des Südens bleiben, ich begehre die schöne Skandinavierin, ich will durch die vertrauten und beruhigenden Straßen meiner Jugend spazieren. Aber sobald ich die Grenze zwischen beiden Welten überschritten habe, finde ich mich im geschlossenen Universum meines dunklen und kalten Zimmers wieder. Ich bin traurig, ich bin wütend. Ich träume davon, mich in einen Bär im Winterschlaf, eine in Illusionen balsamierte Mumie zu verwandeln. Ich sehne mich danach, einer der Sieben Schläfer von Ephesus zu werden, versunken in dreihundertjährigem Schlaf. Ich möchte für immer der Bewohner meiner eigenen Träume bleiben, ein anderes, flüchtiges und leichtes Leben leben, ein Märchendasein ohne Schmerz. Und vor allem ohne Exil.

*

Die neue Welt um mich herum ist eckig und gefährlich. Ich erlebe sie wie einen großen Flipper. Ständig stoße ich mich, überall: an den Schienbeinen, den Hüften, den Schultern und meinem armen Kopf. Ständig steht ein Stuhl, eine Tischecke oder eine zu niedrige Tür in meinem Weg, und ich stoße mich daran. Ich pralle mit voller Wucht dagegen, ich blute. Ich habe das Gefühl, diese Folge kleiner Schmerzen bestätige mir, dass ich immer noch lebendig bin. Ich bin schlecht angepasst. Mein Frankreich besteht aus einem beschränkten Raum voll unheilvoller Dinge. Ich bin ein Elefant in einer Porzellanwelt, in der sich viele höfliche und geschmeidige Menschen mit bemerkenswerter Leichtigkeit zwischen den Fallen bewegen.

Unglaublich, seufze ich, wie sie es schaffen, auf so wenig Raum so viele Dinge unterzubringen. Noch besser als wir in Bosnien. Wir haben nur versucht, drei große Länder in einem kleinen zu errichten.

*

Zwei Wochen lang bin ich praktizierender Katholik. Ich treibe mich in der Cathédrale Saint-Pierre rum und gebe mein letztes Geld für Kerzen aus. Jeden Tag entzünde ich eine für die heilige Rita, die Schutzpatronin für aussichtslose Anliegen, für Miles Davis, den Fürsten der Engel, und für Christophorus, der die Reisenden schützt. Für Franz von Assisi, der mit den Vögeln sprach, Antonius von Padua, an den man sich wendet, um wiederzufinden, was man verloren hat, und manchmal für unsere teuren Toten. Aber ich höre bald damit auf. Wie viele Arme bin ich ein starker Raucher. Ich fange an, mir von dem Kerzengeld Zigaretten zu kaufen.

Und wenn ich nun anstelle einer Kerze eine Zigarette anzünde?, überlege ich. Meine Heiligen würden es sicher verstehen. Es ist schließlich Krieg.

Die Sonntagsmessen sind enttäuschend. Die Anbetung des Altars und die Lesung der Psalme, die Predigt des Priesters – das ist alles zu kompliziert, zu verschlüsselt. Ich kenne kein einziges Gebet. Ehrlich gesagt, kann ich den Anfang vom Vaterunser und vom Ave Maria, aber das reicht nicht, um von der Himmlischen Macht richtig verstanden zu werden. Umgeben von einigen ehrbaren Damen sitze ich hinten in der Kirche und warte auf ein Zeichen oder Wunder. Ich habe es wohl zu eilig, unser Schöpfer arbeitet für die Ewigkeit, und mein Schicksal ist vergänglich.

Der Priester in der Cathédrale Saint-Pierre ist Vietnamese. Ein ewig junger, rundlicher, weicher Mann, ein Michelin-Männchen des Evangeliums, das mit weicher, sanfter, fast weiblicher Stimme spricht. Er ist das genaue Gegenteil der langen Gesichter der Apostel und der Askese Christi. Ich stelle mir seine gepflegten Hände, seinen glatten Eunuchenkörper und den Schweiß vor, der über seinen Rücken rinnt, während er hinter dem Altar die heiligen Formeln murmelt. Um ihn herum sehe ich Blut und Gold, eine barocke Atmosphäre, die mich an die Gemälde der flämischen Meister erinnert. Ich suche das wahre Wort Gottes, der Priester hat offenbar anderes zu tun.

Gott fischt die Seelen mit der Angel, der Teufel mit dem Netz.

*

An einem Montagmorgen setze ich mich auf eine Bank und rauche eine Zigarette. Ich ziehe meinen Rosenkranz aus der Jackentasche. Der kleine Jesus sieht besorgt und müde aus, er beobachtet mich aus seinen winzigen Augen. Ich habe den Eindruck, dass seine Wunden wieder bluten.

»Bist du immer noch da, am Kreuz? Bist du nicht abgehauen? Zweitausend Jahre, das ist lang.«

»Timor mortis conturbat me …«, antwortet er.

»Du bist lustig«, sage ich.

»Nein«, seufzt Jesus, »ich bin nicht lustig. Ich bin der Sohn Gottes …«

Ich lege meinen Rosenkranz vorsichtig, als wäre er wirklich aus kostbarem, zerbrechlichem Material, auf die Bank. Dann stehe ich auf und durchquere wieder einmal ohne klares Ziel die Stadt.

Die Welt ist ein großer Flipper

Подняться наверх