Читать книгу Die Welt ist ein großer Flipper - Velibor Colic - Страница 7

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Der Arzt nimmt die Brille ab und massiert lange seine Nasenwurzel. Er ist ein schlanker, braungebrannter Mann mit den geschmeidigen Bewegungen eines Tennisspielers. Er trägt einen gepflegten Bart, ein edles und teures Parfum und einen maßgeschneiderten Dreiteiler. Seine Praxis wurde, so vermute ich, von einem berühmten Designer entworfen: ein langer Tisch mit Stühlen, ein fast leeres schwarzes Regal, ein paar abstrakte Gemälde an den Wänden. Alles andere schmerzhaft weiß.

»PTBS«, sagt er mit einem Räuspern, »Posttraumatische Belastungsstörung. Mit verzögertem Eintreten, das heißt, dass mindestens sechs Monate zwischen dem traumatischen Ereignis und dem Auftreten der Symptome liegen.«

»Das kann nicht sein«, sage ich, »vor dem Krieg war ich auch schon so.«

»Bitte schön«, sagt der Arzt. »Ich habe Ihnen eine KVT gegen die PTBS verschrieben.«

»?«

»Kognitive Verhaltenstherapie. Die Ergebnisse verschiedener Kontrollstudien belegen, dass die KVT zur Behandlung von PTBS sehr wirksam ist. Bei Opfern verschiedenartiger traumatischer Ereignisse erreicht die KVT eine Erfolgsquote von 60 bis 70 Prozent. Zurzeit ist die KVT also der am besten geeignete psychotherapeutische Ansatz, um eine PTBS zu behandeln. Sie zeigt die besten Ergebnisse und fördert eine Beruhigung, die Reduzierung der Symptome oder sogar eine vollständige Heilung.«

»Aber ich bin nur leicht dyslektisch und …«

»Ja, natürlich«, unterbricht er mich, »das wird Ihnen helfen, Sie werden sehen.«

*

Ich verlasse sein Sprechzimmer noch gestörter, als ich beim Hineingehen war. Seine ruhige Sicherheit und sein Vokabular, dieser ganze Arztjargon passen so gar nicht zu der unverständlichen Schwermut, an der ich leide.

Ich setze mich in ein Bistro und bestelle einen Kaffee.

Ich habe mich schon von allen verabschiedet, die ich liebte, von meinen Freunden und meinen Städten. Aber ich habe noch keine echte Trennung vollzogen. Vielleicht, weil die echte Trennung noch nicht möglich ist. Die Menschen, mit denen wir gelebt haben, sind wir selbst: Wir sind unsere eigene Geschichte. Wenn wir auch nur für einen Moment aus dieser Geschichte heraustreten könnten, würde die Trennung möglich werden.

*

Dabei kenne ich den Ursprung meiner PTBS. Ich kann sogar das Datum nennen, der 18. Mai 1992, und die Zeit, ein friedlicher Nachmittag, blau und klar, fast durchsichtig. Wir, vier Soldatenkameraden, sitzen vor einem zerstörten Haus. Wir teilen uns den Ersatzkaffee, eine bräunliche, warme Brühe, nach einem festgelegten Ritual – jeder nimmt einen Schluck, dann reicht er die Tasse weiter. Um uns herum herrscht eine besondere Ruhe, die Ruhe nach der Schlacht. Der Frühling ist schön und brav, er ahnt nichts von unserem dreckigen Krieg. Wespen, Wildbienen und Fliegen tanzen in komplizierten, geradezu magischen Bewegungen ein entzückendes Luftballett. Sogar ein paar Spatzen sind da, kleine Federknäuel, die unter der strahlenden Sonne zittern. Zehn Meter entfernt spielt ein kleines Mädchen mit Dingen, die wir, die Erwachsenen, nicht sehen. Sie hat ein Stück Holz in der Hand, das sich für sie, so stelle ich mir vor, in etwas Wunderbares verwandelt hat, in ein Flugzeug, einen Engel oder sogar eine Freundin. Ich kenne sie, sie heißt Alma. Sie ist sieben Jahre alt und lebt von der brutalen, unbeständigen Großzügigkeit der Trinker, denen sie in den Cafés Blumen und ihr Kinderlächeln verkauft. Plötzlich sehe ich sie fallen, ohne ein Geräusch. Sie rührt sich nicht mehr. Das ist irgendwie seltsam, ein Kind, das hinfällt, steht entweder sofort wieder auf oder es weint, aber die kleine Alma rührt sich nicht. Als wir bei ihr sind, erkennen wir den Grund. Die eine und einzige Kugel, die ein Sniper von den Hügeln herab schoss, hat die kleine eifrige und frivole Zigeunerin mitten in den Hals getroffen. Ihr kleiner Körper liegt ganz natürlich da, als würde sie schlafen. Das Blut, das den Staub um sie herum tränkt, ist wie eine Bürde für uns alle, für dieses verfluchte Land und für diesen gottverdammten Krieg.

*

Am nächsten Tag beginne ich im Heim, das Vergessen zu üben. Erst die Menschen, dann die Dinge. Erst die Liebe und dann den Hass. Auf einer Liste, lang wie ein Fluss, verzeichne ich die zu vergessenden Namen und Vornamen. Ich notiere meine Geliebten, meine Nachbarn, meine Schulfreunde und meine Armeekameraden. Meine Cousins, mein erstes, in Jugoslawien erschienenes Buch und die Beisetzung meiner Mutter, unsere Fußballspiele, unsere Bäume und unsere Wälder, unseren Regen und unsere Sterne …

Alles werde ich mit dem feuchten Schwamm des Vergessens wegwischen.

Ich bin nicht fertig, der Weg ist noch lang. Ich weiß, dass mein neues Leben in Frankreich einen starken Geist und ein leeres Gedächtnis verlangt. Niedergeschlagen sitze ich auf dem Bett. Vor mir liegen meine Schulhefte und alle meine Stifte, wie schwarze und rote Sardinen. Ich weiß, dass mein Heil, meine Kognitive Verhaltenstherapie nur eines sein darf: das Schreiben.

Ich muss so schnell wie möglich Französisch lernen. Dann wird mein Schmerz für immer in meiner Muttersprache bleiben.

Ich nehme ein Heft und lege es sorgsam auf meine Knie. Dann greife ich nach einem roten Stift und schreibe in Großbuchstaben den Titel: Chronik der Vergessenen.

Die Welt ist ein großer Flipper

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