Читать книгу Tote Models nerven nur - Vera Nentwich - Страница 10

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V

Jochen hat mich an einen Kollegen von der Kripo übergeben, dessen Namen ich mir nicht merken kann. Der Beamte weist auf einen Stuhl und sagt, dass ich warten solle. Ich schaue mich um. Das Polizeirevier hatte ich mir glanzvoller vorgestellt. In den Serien, die ich mir so ansehe, sind die Polizisten mit Hightech ausgerüstet und die Büros sehen aus wie in Hochglanzprospekten. Die Wache in Kempen ist eher das Gegenteil. Schon von außen strahlt das Gebäude den morschen Charme der Siebziger aus. Innen wird es nicht besser. Es wirkt alles dunkel und die Wände müssten dringend mal gestrichen werden. Wenn dies so sein soll, um die Verbrecher einzuschüchtern, muss ich sagen, dass es bei mir auf jeden Fall seinen Zweck erfüllt. Ob das bei wirklichen Verbrechern auch so ist, kann ich nicht sagen. Die sind wahrscheinlich noch dunklere Löcher gewohnt.

Der Schreibtisch vor mir ist mit Akten und Papieren bedeckt. Ich hatte damit gerechnet, in einen Vernehmungsraum geführt zu werden, an dessen einer Seite ein großer Spiegel prangt, durch den mich die Beamten erst einmal beobachten würden. Stattdessen sitze ich mitten in einem Büro und warte darauf, dass ich nun endlich vernommen werde.

Endlich kommt Leben auf. Ein Mann von ungefähr fünfzig, mit grauem, lockigen Haar, einer randlosen Brille und ziemlich missmutigem Gesichtsausdruck kommt herein. Der Beamte, der mich hier hingesetzt hat, begrüßt ihn und zeigt mit der Hand in meine Richtung. Der Mann kommt auf mich zu.

»Sie sind Frau Hagen?«

»Ja.«

Er reicht mir die Hand.

»Ich bin Hauptkommissar Terhoven.« Wir schütteln uns kurz die Hände, dann zieht er seine Jacke aus, schmeißt sie auf das Ende des Schreibtischs und setzt sich mir gegenüber hin. Er wiegt leicht den Kopf, als er die Unordnung wahrnimmt, und schiebt einige Akten zur Seite. Er legt einen Block in den freigewordenen Bereich, zieht einen Kugelschreiber aus seiner Jacke und legt diesen dazu.

»Danke, dass Sie sich gemeldet haben, Frau Hagen. Vielleicht können Sie uns einen näheren Einblick geben, wie Frau Schöller zu Tode gekommen ist. Sie waren also bei der Leiche. Was haben Sie da gemacht?«

»Ich war mit ihr dort verabredet.«

»Wann waren Sie verabredet?«

»Um 18 Uhr. Sie hatte mir eine SMS gesendet.«

»Schildern Sie bitte, was Sie vorgefunden haben, als Sie am Treffpunkt angekommen waren.«

Ich beginne zu erzählen, wie ich zuerst dachte, sie würde sich nur verspäten und wie ich dann später bei ihr angerufen hatte, als das Klingeln ihres Handys mich zur Leiche führte. Er macht Notizen auf seinem Block und schaut nur kurz zu mir auf.

»Wie haben Sie die Leiche vorgefunden?«

»Zuerst habe ich nur ihre Schuhsohlen gesehen. Sie lag bäuchlings im Teich. Ihr Gesicht lag ganz im Wasser.«

»Was haben Sie dann gemacht?«

»Ich habe mich zu ihr gebeugt und versucht, ihren Kopf aus dem Wasser zu ziehen. Ich musste mit den Armen tief ins Wasser, um sie erreichen zu können. Dann erst wurde mir klar, dass sie tot war.«

»Sie haben aber nicht die Polizei gerufen.« Er hat seinen Kopf wieder gehoben und mustert mich.

»Nein, eine ältere Dame war zwischenzeitlich auch gekommen und war schon dabei, die Polizei zu rufen.«

»Warum sind Sie nicht am Ort des Geschehens geblieben?«

Das ist die Frage, vor der ich schon die ganze Zeit Angst habe. Ich knete nervös meine Finger und überlege, wie ich die Antwort möglichst unverfänglich formulieren könnte.

»Die alte Dame hat am Telefon gesagt, ich sei die Mörderin. Da habe ich Panik bekommen.«

»Wie ist die alte Dame denn darauf gekommen?« Sein Kopf bewegt sich leicht auf mich zu.

»Das weiß ich nicht. Wahrscheinlich weil sie gesehen hat, wie ich mich über Judith beuge.«

»Sind Sie denn die Mörderin?«

»Nein, nein!« Ich muss hastig nach Luft schnappen. »Nein, ich habe Judith nicht ermordet.« Nie hätte ich damit gerechnet, dass ich derartige Sätze einmal sagen müsste.

»Wie ich gehört habe, hatten Sie aber einen kräftigen Streit mit dem Opfer. Erst vorgestern hat sie Sie angezeigt. Geprügelt sollen Sie sich auch haben. Leute berichten, dass Sie das Opfer gehasst und mehrfach gesagt haben, dass Sie ihr nichts Gutes wünschen. War es gestern endlich so weit? Haben Sie Ihre Drohung nun endlich in die Tat umgesetzt?«

Er hat sich vom Stuhl erhoben. Sein Gesicht ist immer näher an mich gerückt. Seine grauen Bartstoppeln sehe ich deutlich vor mir. Ich rieche seinen Atem. Eine Mischung aus Zigarettenrauch und Pfefferminz.

»Nein, nein, das habe ich nicht. Ich könnte so etwas nie tun«, jammere ich und muss sehr kämpfen, nicht gleich loszuheulen. Einen kurzen Moment schaut er mir tief in die Augen. Dann setzt er sich wieder auf den Stuhl und fährt ruhig fort: »Wo waren Sie in der Zeit von siebzehn bis achtzehn Uhr?«

»Da war ich in der Kanzlei. So gegen zwanzig vor sechs bin ich dann losgefahren.«

»Kann das jemand bezeugen?«

»Ich war alleine in der Kanzlei.«

»Hmm.« Er macht eine Notiz, aber sein Kugelschreiber versagt. Er schüttelt ihn und versucht erneut zu schreiben, aber es klappt nicht. Dann beginnt er, auf dem Schreibtisch nach einem anderen Schreibgerät zu suchen. Als er eines gefunden hat, schreibt er weiter, aber auch dieser Kugelschreiber funktioniert nicht.

»Verdammt, wird jetzt sogar schon an Kugelschreibern gespart!« Er wühlt weiter unter den Akten und findet endlich einen Bleistift. Während er etwas notiert, fällt mir etwas ein. »Moment mal! Da war ein Mann.«

Ein ganzes Gebirge fällt mir vom Herzen. Na klar, der Mann mit dem blauen Kittel.

»Welcher Mann?«

»Als ich am Hallenbad vorbeiging, war da ein Mann im blauen Kittel, der irgendetwas reparierte. Wir haben uns gegrüßt. Er kann bezeugen, wann ich gekommen bin.« Ich habe ein Alibi. Juchhuh, ich habe ein Alibi. Ich könnte vor Erleichterung gleich lostanzen.

»Wer ist der Mann?«

»Das weiß ich nicht, aber er hat mich gesehen.«

»Sie sagten doch, Sie hätten sich gegrüßt.«

»Ja, haben wir. Aber ich kannte ihn trotzdem nicht.«

»Hmm.« Wieder notiert er etwas.

»Wir werden das überprüfen.«

»Halten die mich für die Mörderin?« Jochen sitzt neben mir und lenkt den Wagen auf die Umgehungsstraße in Richtung Grefrath. Da er gerade Dienstende hat, nimmt er mich mit nach Hause.

»Wenn sie dich für die Mörderin halten würden, hätten Sie dich belehren müssen, dass du verdächtigt wirst. Das war nur eine Zeugenvernehmung.« Das klingt beruhigend.

»Aber sie werden sicher alles genau überprüfen, was du gesagt hast und auch sonst Nachforschungen anstellen.« Das ist jetzt gar nicht mehr beruhigend.

»Was mache ich denn jetzt?« Jochen dreht sich kurz zu mir. Sein Blick ist für mich nicht einzuordnen. Irgendetwas zwischen Besorgnis und Unmut.

»Du machst gar nichts.« Der Ton ist sehr bestimmend. Ich spüre, wie Widerspruch in mir aufsteigt. Ich hasse es, wenn er mir Vorschriften machen will.

»Wie meinst du das?«, knirsche ich.

»Wie soll ich das schon meinen?« Er sieht mich kurz an. »Du machst mal gar nichts und hältst dich einfach zurück, bis die Sache aufgeklärt ist.«

»Ich mache ›mal‹ gar nichts? Was habe ich denn gemacht?«

»Ach, Biene.«

»Wenn du noch mal ›Ach, Biene‹ sagst, kratze ich dir die Augen aus. Was habe ich denn gemacht? Na, was? Ich habe versucht, mich bei Judith zu entschuldigen, wie du es von mir verlangt hast. Was kann ich denn dafür, dass sie dann plötzlich tot im Teich liegt?« Jochen sieht mich wieder nur kurz an. Ich kann seinen Blick nicht deuten.

»Na, was? Sag schon!« Er schweigt.

»Moment mal. Du denkst doch nicht etwa, dass ich mit Judiths Tod etwas zu tun habe?« Wieder schweigt er. Ich sehe deutlich, wie es in ihm arbeitet. Die Adern an seiner Schläfe zeichnen sich deutlich ab. Er denkt doch nicht wirklich, dass ich Judith ermorden könnte?

»Halt sofort an! Ich steige hier aus.«

Nun ist sein Blick verblüfft.

»Wir sind mitten auf der Umgehung!«

»Ist mir egal. Ich fahre keine Sekunde länger mit einem, der mich für eine Mörderin hält.«

»Ich halte dich nicht für eine Mörderin.«

»Doch, das tust du. Ich sehe dir doch an, dass du überlegst, ob ich etwas mit dem Tod von Judith zu tun habe.«

»Nein, du bist keine Mörderin. Aber manchmal etwas unbeherrscht …«

»Jetzt halt sofort an!« Meine Stimme überschlägt sich.

»Jetzt beruhige dich …«

»Ich mich beruhigen! Du hältst mich für eine Mörderin und ich soll mich beruhigen? Halt an, sage ich.« Ich greife ins Lenkrad. Das Auto fährt Schlangenlinien und das entgegenkommende Fahrzeug blinkt mit der Lichthupe.

»Bist du verrückt? Willst du uns auch umbringen?«

»Auch?« Ich schlage auf seine Arme ein und er versucht, mich mit seiner rechten Hand zurückzuhalten. Wir fahren auf die Kreuzung in Mülhausen zu und er muss den Wagen abbremsen. Als er fast zum Stehen kommt, reiße ich mich von seiner Hand los, öffne die Beifahrertür und springe aus dem Auto. In Filmen sieht das immer so leicht aus. Ich stolpere und falle in das Gras, während die Autos hinter uns quietschend bremsen und hupen. Mühsam rappele ich mich auf. Jochen hat den Wagen ein paar Meter weiter an den Rand manövriert und steigt gerade aus. Da er noch seine Uniform trägt, gehorchen die nachfolgenden Autofahrer, als er ihnen zu verstehen gibt, dass sie weiterfahren sollen.

»Da siehst du, was ich meine. Nun steig wieder ein.«

Ich zeige ihm wortlos meinen Mittelfinger und stapfe an ihm vorbei Richtung Mülhausen. Ich höre noch, wie er »Nun werde doch vernünftig« hinter mir herruft, dann gibt er auf, steigt in sein Auto und fährt weiter.

Das Klacken meiner Absätze hallt von den rot geklinkerten Hauswänden zurück. Eine Frau, die auf dem Parkplatz des Discounters gerade ihren vollgepackten Einkaufswagen zu ihrem Auto schiebt, sieht mich erschrocken an. Ich widerstehe dem Reflex, ihr den Mittelfinger zu zeigen. Sie kann ja nichts dafür, dass mir sogar Freunde einen Mord zutrauen. Ich stapfe weiter. Am ehemaligen Bahnhof vorbei und dann links herum in Richtung Grefrath. Es sieht so weit aus. Hatte ich so gar nicht in Erinnerung. Ich sollte wirklich etwas gegen meine unkontrollierten Aktionen tun. Autos fahren an mir vorbei und aus meinem Stapfen ist ein Trotten geworden. Ich fühle mich unendlich einsam. Um mich herum nur Wiesen und in meinem Kopf ist verwirrende Leere. Ich habe mich da wohl in eine richtig beschissene Situation manövriert.

»Wo warst du?« Mein Chef empfängt mich mit diesen freundlichen Worten, als ich die Kanzleitür öffne und mich erschöpft in den Sessel im Eingangsbereich fallen lasse. So weit bin ich schon lange nicht mehr gelaufen. Keine Ahnung, warum ich zur Kanzlei gegangen bin. Vielleicht ein unbekannter Rest von Pflichtgefühl?

»Was geht’s dich an?«

»Was es mich angeht? Ich bin dein Chef, verdammt nochmal. Das scheinst du ja vollkommen vergessen zu haben.«

»Woran soll ich das auch merken? Du bist ja nie da. Wieso bist du eigentlich jetzt hier?«

»Die Mandanten haben mich angerufen, weil sie niemanden in der Kanzlei erreichen konnten. Da musste ich meine Golfpartie unterbrechen und hier nach dem Rechten sehen.« Jetzt erst bemerke ich seine karierte Hose, die ihn wie einen Clown für einen Kindergeburtstag wirken lässt.

»Ich musste dringend weg.«

»Das geht so nicht. Du kannst nicht während der Arbeitszeit einfach weggehen und hier alles stehen und liegen lassen.«

»Es war ein Notfall. Hast du nicht gehört? Judith ist tot.«

»Welche Judith?«

»Na, Judith Schöller, Grefraths Starmodel. Sag bloß, du kennst sie nicht?«

»Ach die. Von der habe ich gehört. Und die ist tot? Was hast du damit zu tun? Hast du sie etwa umgebracht?« Er grinst.

»Nein, das habe ich nicht! Und wenn du nicht willst, dass ich dich hier mit deinen Mandanten alleine lasse, dann verschwindest du lieber und lässt mich meine Arbeit tun.«

Mir ist bewusst, dass ihm der Gedanke, er müsse plötzlich arbeiten, große Angst bereitet.

»Dann mach das auch. Ich hasse es, meine Golfpartie unterbrechen zu müssen.«

»Ja, ja.«

Er packt seine Sachen und geht. Ich setze mich an meinen Schreibtisch und versuche, mich mit den Akten abzulenken.

Das Klingeln an der Eingangstür lässt mich von den Belegen, die in Häufchen vor mir liegen, aufschrecken. Ich schaue auf die Tür. Wer will denn jetzt noch etwas von mir. Das wird doch nicht schon wieder mein Chef sein? Aber der würde ja nicht klingeln. Etwa irgendein ungeduldiger Mandant? Das hat mir noch gefehlt. Ich erhebe mich lustlos aus meinen Bürostuhl und schlurfe zum Eingang. Durch die Glastür kann ich schon erkennen, wer davor steht und sichtlich wütend aussieht. Es ist Judiths Spanier. Was will der denn hier? Er haut gegen die Tür, als er mich erblickt. Irgendwas sagt er, aber ich kann es durch die geschlossene Tür nicht verstehen. Ist ja womöglich sowieso spanisch. Soll ich wirklich die Tür öffnen? Was ist, wenn er mich auch für die Mörderin hält und sich an mir rächen will? Dem Gesichtsausdruck nach ist dies durchaus im Bereich des Denkbaren. Er schreit wieder irgendetwas. Leute, die hinter ihm vorbeigehen, drehen sich erschrocken um. Ich kann ihn aber auch nicht da stehen und schreien lassen. Normalerweise würde ich in einer solchen Situation Jochen anrufen. Aber nach unserem mittäglichen Intermezzo erscheint mir das gerade nicht angebracht. Er bummert gegen die Tür und ich befürchte, dass die Glasscheibe dem nicht lange standhalten wird. Es bleibt mir keine andere Wahl. Ich muss ihn hereinlassen. Durch Handzeichen versuche ich ihm zu signalisieren, dass er sich beruhigen möge und ich nun die Tür öffnen würde. Er hört auf, gegen die Tür zu schlagen, aber seine Augen fixieren mich durchdringend. Langsam betätige ich die Klinke und öffne die Tür einen Spalt.

»Was kann ich für Sie tun?«, flöte ich konzentriert höflich. Schließlich möchte ich ihn nicht weiter aufregen.

»Lass mich rein«, zischt er mit seinem spanischen Akzent und sein Blick zeigt deutlich, dass er nicht gewillt ist, Widerspruch zu akzeptieren.

»Aber bitte beruhigen Sie sich. Gewalt hilft niemandem.«

Das mit der Gewalt hat er wohl nicht so richtig verstanden. Er schmeißt sich nämlich mit seinem ganzen Körper gegen die Tür. Die Wucht lässt mich einen Schritt nach hinten machen und beinahe fallen. Er gerät ebenfalls ins Stolpern, fängt sich dann aber wieder. Dann steht er direkt vor mir. Uns trennen gerade mal dreißig Zentimeter. Niemand sagt ein Wort.

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