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DER STAMMHEIMER «LINGG HAUPTMÄ»
ОглавлениеDem Dorf seiner Kindheit – Stammheim im Zürcher Weinland – bewahrte Eugen Huber Zeit seines Lebens eine treue Anhänglichkeit. Immer wieder reiste er in die alte Heimat zurück, etwa bevor er 1869 zum Studium nach Berlin fuhr. «Das war zu schön, die ganze Macht aller Empfindungen, die mir das Heimathland ja erregt, sind stürmisch neu erwacht.»58 Bis zum Tod soll eine Zeichnung der St.-Gallus-Kapelle in Oberstammheim über seinem Bett gehangen haben, die er einst in der Sekundarschule gemacht hatte.59 Am Doktorhaus, in dem Eugen Huber am 13. Juli 1849 zu Welt kam, erinnert eine Inschrift an den berühmten Bewohner. Heute ist die stattliche Liegenschaft an der Hauptstrasse durch Anbauten erweitert und dient als Altersheim für das Stammertal.
Auch im 21. Jahrhundert bezaubert der Dorfkern mit seinen Fachwerkhäusern den Besucher. Landwirtschaft und Rebbau prägen das Bild. Der Charme könnte eine heile Welt vortäuschen, doch blieb dieser malerische Flecken von historischen Umwälzungen nicht verschont.60 Politisch teilte Stammheim das Schicksal der Zürcher Landschaft; Jahrhunderte lang führten die «Gnädigen Herren» aus der Stadt ein mehr oder weniger strenges Regime. Die französische Revolution schien den grossen Um- und Aufbruch zu bringen. 1798 feierten die Stammheimer den Untergang der alten Staatsordnung mit einem Freiheitsbaum. Die Freude währte nur kurz, in den folgenden Jahren plünderten französische, österreichische und russische Armeen das Weinland. In guten wie in schlechten Zeiten drückten die Steuern. 1808 löste der Kanton Zürich die über 1000 Jahre alte Zehntenverpflichtung an das – inzwischen aufgehobene – Kloster St. Gallen für 200 000 Gulden ab. Die Gemeinde musste den Betrag bei der Zürcher Staatskasse in Raten abstottern, eine schwere Last für die lokalen Steuerzahler.
Was hatte Hubers Vater bewogen, im Alter von 25 Jahren Altstetten den Rücken zu kehren? Es gibt nur Vermutungen. An der Universität war einer seiner Kommilitonen der Theologiestudent Hirzel aus Stammheim, zudem soll Hans Conrad Huber das Dorf vom Militärdienst her gekannt haben. Als er 1838 seine Praxis ins Weinland verlegte, zählte Oberstammheim rund 800 Einwohner.61 Es waren unruhige Zeiten. In Erinnerung an den Ustertag vom 22. November 1830 organisierten die Stammheimer jeweils eine Gedenkfeier.62 Ein Jahr nach Hans Conrad Hubers Niederlassung in Stammheim erfolgte in der Hauptstadt der konservative Züriputsch, doch bald mussten auch diese Herren ihre Macht abgeben. Eugen Huber verarbeitete die Ereignisse später in einer unveröffentlichten Novelle.63
Auch wenn dank dem Aufstand eines Teils der Landbevölkerung die Konservativen in Zürich kurzfristig Oberwasser hatten, blieben die neuen Ideen in Stammheim gegenwärtig. Ende 1842 gründeten neun Männer aus Oberstammheim eine Gesellschaft zur Pflege der Geselligkeit. In einem Lokal, das den Mitgliedern täglich zur Benutzung offen stand, lagen unter anderem die «Neue Zürcher Zeitung», der «Landbote» aus Winterthur oder «Der Deutsche Bote».64 1843 wurde eine Volksbibliothek gegründet. Aberglaube, die Furcht vor Hexen, bösen Geistern und Gespenstern, die Anwendung von Beschwörungsformeln zur Heilung von Krankheiten bei Menschen und Tieren hätten zusehends an Bedeutung verloren, weiss Chronist Farner zu berichten65 – eine erfreuliche Folge der Bibliothek? Völlig gefeit vor Aberglauben war jedoch selbst der Doktorsohn nicht; bei Gelegenheit liess er sich die Zukunft voraussagen. 1875 hoffte Lina, Hubers Dorf sowie das Häuschen der alten Wahrsagerin einmal zu sehen und kommentierte deren etwas gewagte Prognose: «Ein ‹Vaterlandsverteidiger› bist du gewiss im schönsten Sinne des Wortes, wenn auch nicht mit Schwert und Degen.»66
1841 kaufte Hans Conrad Huber von seinem Vorgänger Dr. Hirzel ein Fachwerkhaus im Dorfzentrum. Freiwillig oder unfreiwillig investierte er in die Liegenschaft, sodass sie bereits wenige Jahre später um einiges wertvoller war als die umliegenden Gebäude: Chirurg Huber traute sich wirtschaftlich einiges zu.
Der Doktorsohn gehörte zur Dorfelite, eine Stellung, die Huber offensichtlich genoss und manchmal ausnützte. Hubers Spitzname – der «lingg Hauptmä», der linke Hauptmann der Oberstammheimer Buben – rührte von seinem gelähmten rechten Arm her.67 Trotz seiner Behinderung aus frühen Kindertagen war er der Anführer der Bubenspiele; bei Kämpfen bediente er sich jeweils geschickt des gesunden linken Arms. Huber berichtete Lina von einer Geschichte, wie er als «lingge Hauptmä» zusammen mit Besuchern aus Zürich die Unterstammheimer Buben besiegte. Mit seinem Schulfreund Schaggi zog er als Ritter aus und spielte Tournier. Eine junge Zürcherin setzt ihm den Siegeskranz auf, stolz und ein bisschen verliebt spazierte Huber am folgenden Tag mit ihr durchs Dorf.68
Im Alter fiel es Huber auf, wie unbestritten für ihn die besondere Stellung gewesen war. «Ich war ein ‹Doktors› Sohn auf dem Land, ich war mir in den jüngsten Jahren bewusst, eine hervorragende Stelle zu haben und zwar ungesucht, von selbst. Was ich als ‹linker Hauptmann› leistete, das war nur die Folge dieser Prärogative. Und an dieser Idee hielt ich nach dem Tode des lieben Vaters fest. Ich lebte in ihr am Gymnasium, ich empfand den Schulerfolg als etwas Selbstverständliches.»69
Hubers Freund Jakob Schnurrenberger, genannt Schaggi, war ein uneheliches Kind, das bei der Landschreiberfamilie im Nachbarhaus lebte. «Schaggi war gewissermassen mein Diener; er trug die Kleidlein, die mir Mutter nicht mehr flickte, und dieser Umstand, den ich gar wohl erfasste, reichte hin, in meinen Augen den Schaggi zum Vasallen herabzudrücken. … In der Schule war Schaggi geschickt, aber natürlich nach meinen Begriffen, unter mir, wenngleich viel fleissiger als ich.»70 Als Sekundarschüler rückte Schaggi zum Klassenbesten auf und überholte mit seinen guten Noten den Freund. Nun strengte sich Huber an. Der Tod seines Vaters und Hubers Umzug nach Zürich beendeten vorzeitig den Wettbewerb. Doch selbst von Zürich aus fühlte sich Huber befugt, Schaggi Vorschriften zu machen. Als ihm dieser in einem Brief erzählte, er habe mit dem jungen Orelli, dem Sohn des neuen Dorfdoktors gesprochen, wies ihn Huber zurecht. Schaggis Antwort war vorsichtig-kleinlaut, er pflege weder Freundschaft noch Feindschaft. «Nun wäre es mir sehr leid, wenn du glauben würdest, dass ich ein Freund Orellis sei. Das bleibe fern von mir, denn ich weiss wohl, dass ich euch dadurch beleidigen würde.»71
Allein oder mit der Familie ging Huber gelegentlich auf kleine Reisen. Seit der Lehre wohnte Bruder August in Zürich, im August 1861 durfte ihn Eugen besuchen. In einem Brief an August beschrieb Huber den Familienausflug nach Ermatingen und Konstanz, wo die Familie das Münster und den Schiffplatz besichtigte. Morgens um vier Uhr dreissig fuhren sie los, abends um acht Uhr waren sie in Stammheim zurück.72
In der Korrespondenz mit dem grossen Bruder fällt der etwas altkluge Ton auf. Als Bezirksrichter Schuler starb, wurden «durch dessen Tod 18 Aemter unbesetzt».73 Hinter Hubers Zeilen hört man die Gespräche der Erwachsenen, wie auch bei Hubers Kommentar zur Gründung einer Bank, der Leihkasse: «In Stammheim ist man im Begriff eine Leihkasse zu entrichten, was sicher, besonders für die Ärmere Klasse eine wahre Wohlthat wäre.»74
Huber liebte Brombeeren und diese erinnerten ihn stets an Stammheim. «Ich weiss noch, wie ich zu den ersten mit besondrem Bewusstsein gekommen. Ich kletterte an einem Sommermorgen als etwa siebenjährig im Dutteltal an einem hohen steilen Waldbord hinauf und gab nicht nach bis ich oben war. Da aber gelangte ich zufällig an einen Platz voll der köstlichen Beeren und ass nach Herzenslust, indem ich mir sagte, das sei die Belohnung für meine Ausdauer. Von wem Belohnung? Vom lieben Gott, der mich zu den Beeren geführt.»75 Noch folgte der Knabe Huber offensichtlich der väterlichen Weltanschauung.
Vater Hans Conrad Huber war nicht nur in Stammheim tätig. 1845 übernahm er die Stelle eines Adjunkten des Bezirksarztes im benachbarten Andelfingen. Nach einigem Zögern verzichtete er 1861 auf dessen Nachfolge, zu ungewiss schienen ihm seine Aussichten. In Andelfingen besuchte er auch einen medizinischen Lesezirkel. Dagegen kandidierte er nie für ein politisches Amt. «Er mochte sich keine Verbindlichkeiten auflegen, welche ihm die Zeit, welche vor allem seinen Kranken gewidmet und geheiligt war, durch anderweitige Verpflichtungen schmälern konnten.»76