Читать книгу Liebe und Vernunft - Verena E. Müller - Страница 12
HANS CONRAD HUBER UND ANNA WIDMER – EINE TUMULTUÖSE BEZIEHUNG
ОглавлениеHubers Elternhaus in Stammheim war alles andere als eine Biedermeieridylle. In einer Landpraxis des 19. Jahrhunderts bestimmte der anspruchsvolle, anstrengende Beruf des Vaters den Alltag der Familie. Tag und Nacht war der Dorfmediziner für seine Patienten da. Im Doktorhaus herrschte ständiger Trubel, es war ein Kommen und Gehen, die Leute erschienen unangemeldet, Krankenbesuche auf fernen Höfen waren die Regel, alle Angehörigen halfen mit.
Auch in Hubers Elternhaus war Kindersterblichkeit eine traurige Wirklichkeit, allerdings nicht ganz so dramatisch wie in Linas Familie. Die älteste Tochter Anna kam 1837 noch in Altstetten zur Welt. Das nächste Kind, Sohn Carl, starb im Jahr seiner Geburt 1838. Dann kamen Schlag auf Schlag Hubers drei Geschwister, Pauline (1840), August (1841) und Emma (1843), zur Welt. Ein ungetauftes Söhnchen lebte von 1846 bis 1847. Weshalb er nie getauft wurde und namenlos blieb, ist unklar. Den Schluss machte 1849 der kleine Eugen. Mutter Anna Huber war bei seiner Geburt knapp 31 Jahre alt.77 Die älteren Geschwister sollen über die Ankunft des Jüngsten wenig begeistert gewesen sein, die Mutter musste den Kleinen oft in Schutz nehmen.78
Johannes Wyss’ Nachruf zeichnet Vater Hans Conrads Porträt: «Seiner äussern Erscheinung nach war Huber eine jener sofort Herz gewinnenden Naturen, welche wir schon ihrer Seltenheit wegen beglückwünschen. Von mittlerer Grösse, hager und schmal gebaut, mit scharfem Profile (erst in den letzten Jahren wurden seine Gesichtszüge markig fest79) und lebhaftem Blick, etwas vorüber gebogen, sanguinischen Temperaments, mit leichtem aufbrechendem Benehmen begabt, war er ganz dazu angethan, rasch zu gehen, schnell zu prüfen, entschlossen zu handeln.»80 Ist unter «leichtem aufbrechendem Benehmen» jener Jähzorn zu verstehen, für den sein Jüngster bekannt war? Zwischen den Zeilen deutet Wyss auch autoritäre Charakterzüge des Verstorbenen an, während Hubers Mutter ihrerseits eine starke, streitbare Persönlichkeit war; die Folge waren lange Jahre häuslichen Streits.
«Seine liebste Erholung fand er überdies im Kreise seiner Familie, wo er, den ganzen Geschäftskreis der innern Angelegenheiten seiner trefflichen Gattin unbedingt überlassend, hinsichtlich … der Erziehung und Ausbildung seiner Kinder eine durchaus active Stellung einnahm.»81 Übersetzt bedeutet dies wohl, dass die ganze Mühe der Haushaltung an der Ehefrau hing, während wichtige Entscheidungen dem Mann vorbehalten waren. Zu Lebzeiten des Vaters erhielt tatsächlich nur Sohn August eine Ausbildung, Tochter Pauline durfte vielleicht einen Welschlandaufenthalt absolvieren. Jahre später beklagte Huber diesen Mangel gegenüber Lina. «Sie ist entschieden das talentvollste, in gewisser Beziehung, von uns allen fünfen. Aber eine Erziehung hat sie nie genossen.»82
Sogar bei der Weltanschauung gingen die Überzeugungen der Eltern auseinander. Anna Huber-Widmer war ein Freigeist. Bei ihrem Lehrmeister hatte sie nicht nur das Schneiderinnenhandwerk gelernt, sondern auch ihre religionskritischen Ansichten entwickelt. Eine mit ihr befreundete Familie Meier sei «ganz in diesem Fahrwasser gesegelt», schrieb der Sohn. Umsonst versuchte Vater Hans Conrad einmal wochenlang, bei den Kindern ein Tischgebet einzuführen, Mutter Anna wehrte sich erfolgreich dagegen, es blieb alles beim Alten.83
Zu seiner Mutter hatte Huber ein zwiespältiges Verhältnis. Er liebte und bewunderte sie, doch hätte er sich zwischen den Eltern mehr Harmonie gewünscht. War Anna Huber-Widmer zu eigenständig? Während seiner Verlobungszeit fürchtete Huber, Lina sei gar selbstständig, die Ehe seiner Eltern stand lebhaft vor seinen Augen. Warum «ich diesen Gedanken besonders rege in mir fühle, es ist weil ich aus eigener Anschauung erfahren, wie unglücklich dies eine Familie machen kann. Meine liebe Mutter war eine gescheite Frau und ein Herz voll Liebe und Poesie, aber dem Vater stand sie unnahbar gegenüber. Brachte er ihr ein Geschenk, so war’s nie recht, und so kam es, dass er ihr schiesslich allemal auf Neujahr nur das Geld gab, damit sie sich selber etwas kaufe.»84 Immerhin organisierte die Mutter für den Konradstag, den 26. November, ein Festessen, an dem auch die Kinder teilhatten. Es gab Hasenpfeffer oder eine gebratene Gans, «häufig auch ein Hühnchen, das die Mutter selbst mästete». Wochenlang lebte der Vogel im Waschhaus, der Vater sollte nichts davon merken. Der hölzerne Käfig wurde mit einem Tuch bedeckt, damit der Hahn nicht krähte. Vergass man das Tuch, krähte der Hahn schon um 7 Uhr, bevor der Vater in der Praxis war «und das Geheimnis war zur Belustigung aller, mit Ausnahme der Mutter, verraten».85
Anna Hubers Charakter passte schlecht ins damalige Bild der hingebungsvollen Ehefrau und aufopfernden Mutter. «Eigene Kinder sind nach den Worten der Mutter oft ein Unglück, ein Fluch»,86 notierte Huber im Alter von 63 Jahren. Anlässlich der Hochzeit seines Bruders August im Jahr 1874, fünf Jahre nach Mutters Tod, gingen Huber düstere Gedanken durch den Kopf. «Ich dachte daran, wie Mutter oft in ihrem Unglück gewünscht, wenn nur keines von uns je heiraten möchte; ich dachte daran, wie ich oft diesen Wunsch einer verzweifelten Mutter für einen Fluch unserer Familie gehalten und daran gezweifelt, ob je einem von uns je das Glück eines eigenen Herdes werde zutheil werden könne.»87 In der Rückschau entwickelte zumindest August ein gewisses Verständnis für die mütterlichen Klagen. Nachdem er selbst Vater geworden war, berichtete er Eugen von schlaflosen Nächten und wunderte sich. «Wenn ich mir vorstelle, wie unsere Mutter mit uns geplagt war, so muss ich sagen, dass sie eine recht zähe Natur war.»88
Offensichtlich war Anna Huber von ihrem Hausfrauendasein nicht erfüllt. Sie verfolgte literarische Träume. Im Alter erinnerte sich ihr Sohn, wie «die gute Mutter so eifrig und unverdrossen an ihren literarischen Versuchen arbeitete, in der Morgenfrühe sich aufmachte, um neben dem Haushalt ihren Plänen nachgehen zu können, von denen sie auch eine Besserung der ökonomischen Verhältnisse erhoffte! Das alles scheiterte, wann und wie und in welchem Umfang weiss ich nicht.»89 In einem wohlhabenden Bauernhaushalt aufgewachsen musste sie, neben allem anderen, sogar einen gewissen Wohlstand vermisst haben. Zudem fühlte sie sich nicht als Teil des Dorfes. «Warum bin ich so einsam?», fragte sich der 61-jährige Huber. «Das reicht in meine Jugendjahre zurück. Es rührt vielleicht von der Stellung her, in der sich meine Mutter den Stammheimer Leuten gegenüber fühlte.»90
Während Hubers Kindheit hatten sich die Eltern entweder gefunden oder hatten resigniert, er erlebte die schlimmsten Konflikte nicht mehr persönlich mit. «Ein unglückliches Familienleben wirkt auf empfindliche Gemüther unglaublich zerrüttend,» kommentierte er entschuldigend die späteren Probleme seiner Schwester Pauline. «Ihre Jugend fiel in die Zeit, da Vater und Mutter am ärgsten mit einander in Unfrieden lebten.»91 Mit 14 Jahren verliess Pauline Stammheim und die Familie für immer, das Nesthäkchen Eugen war zu dem Zeitpunkt 5 Jahre alt.
Vater Hans Conrad Hubers gesellige Art fiel bereits während seiner Studienzeit auf: «Sein jovialer Umgang machte jeden zu seinem Freunde, mit welchem er in gesellige Berührung kam … Niedrigkeit in der Gesinnung und Gemeinheit in den Handlungen waren ihm unausstehlich und er zog sich tief verletzt zurück, wo im Leben ihm solche als Antwort auf sein offenes Entgegenkommen begegneten.»92 Auch mit diesen Eigenschaften scheint Huber dem Vater ähnlich gewesen zu sein. Seine ausgeprägte Verletzlichkeit machte ihm den Umgang nicht nur mit Gegnern, sondern auch mit Freunden unendlich schwierig.
Hubers Vater war ein typischer Praktiker «und benutzte besonders und mit Vorliebe die Ergebnisse seiner französischen Lectüren. Weniger verwendete er seine Zeit auf rein wissenschaftliche Forschungen.»93 Seine Französischkenntnisse reichten demnach aus, um Fachliteratur in dieser Fremdsprache zu verstehen. Auf seine Art muss er ein gebildeter, interessierter Mann gewesen sein. Im Alter träumte Sohn Huber eines Nachts, man verkaufe seine [Hubers] Bibliothek, «und dabei plagte mich vor allem, dass die kleinen Büchelchen aus der Bibliothek meines Vaters, die deutschen Klassiker, verkauft worden waren, und ich dachte nach, wie ich sie zurückkaufen könnte».94 In jener Epoche war es keineswegs selbstverständlich, dass ein Kind in einer Familie aufwuchs, in der es Bücher gab, der Doktorbub war trotz allem privilegiert.
«Eine regelmässige, aber nicht ängstliche Lebensweise beobachtend, genoss er eine dauerhafte Gesundheit und ertrug alle Strapazen des landärztlichen Berufes.»95 Verbarg sich hinter der diplomatischen Formulierung einer «nicht ängstlichen Lebensweise» ein Hinweis auf Hans Conrad Hubers Trunksucht? Als Eugen Hubers älteste Schwester Anna später an einer Arbeitsstelle heimlich zur Flasche griff, klagte Bruder August «Es ist natürlich ein Erbstück. Allein man sollte eben gegen so was kämpfen.»96 Anna selbst hätte damals im Rausch zu andern gesagt, «sie mache es ihrem Vater nach».97