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DIE BOLLEREI: LINAS LEBENSSCHULE UND ZWEITE HEIMAT
ОглавлениеAm 14. März 1866 kam Lina zu Familie Vontobel in der Bollerei,62 ein «sehr besuchtes» Lokal, dessen «guter Mittagstisch und Bier» der Reiseführer anpries.63 Inzwischen war Lina etwas mehr als 14 Jahre alt und seit acht Monaten Vollwaise. Lina hatte genug vom täglichen Streit zwischen Schwester und Schwager, die sich «sogar einigemal schlugen. Du kannst dir kaum vorstellen», schrieb sie an Huber zurückblickend, «was ich damals gelitten, als Kind von 14 Jahren, ich zog daher vor, lieber zu ganz fremden Leuten zu gehen und kam so vom Regen in die Dachtraufe, zu H[errn] Vontobel».64
Der Einstieg in die Berufstätigkeit war schwer, das junge Mädchen erledigte die Arbeit einer Erwachsenen. Ihre ersten Erfahrungen geben einen traurigen Eindruck von der damals üblichen Kinderarbeit. Umsonst hatte sich Lina häuslichen Frieden erhofft. «Schon am ersten Samstag, den ich in der Bollerei verlebte, sollte ich ein Bild dieser Ehegatten mir entwerfen. Nach Feierabend etwa um ½ 12 Uhr fieng ich an, die Treppe nebst Hausgang zu fegen und putzen. Ich hielt während der Arbeit einigemal inne, denn ich hörte laut sprechen, machte aber wieder fort und kam so herab bis zur Stubenthüre; ich öffnete um fertig zu machen und hörte die rohesten Worte, die nur ein Fuhrmann sonst gewöhnlich gebraucht und die arme Frau V[ontobel] unter Thränen antworten: ‹Es ist ja schön, dass das junge Kind noch so spät arbeitet.› Nun wusste ich, um was es sich handelte. Dies war die erste Scene, die ich im Vontobelschen Haus erlebt, und nun nahm ich mir fest vor, die nächsten 8 Tage nimmer dort zu sein. Und doch wurden 8 Jahre daraus.»65
Schwester und Schwager wollten sie zurückholen, doch «so sagte ich mir, nein, lieber bei dieser Arbeit fast zu Grunde gehen, als in eurem Streit leben».66 Zu Beginn war Herr Vontobel unerbittlich. Schaute Lina zum Fenster hinaus, um zu sehen, wie Schwager Blatter als Kondukteur mit dem Omnibus der Linie Central-Tiefenbrunnen vorbeifuhr, rief sie der Wirt barsch zurück. «Ich begreife täglich weniger, wie ich in diesem Sklavendienst so lange ausgehalten. Wenn auch die letzten paar Jahre nimmer waren, was die früheren, so war doch Vieles zu wünschen»,67 kommentierte sie in der Rückschau. Als sich die Verhältnisse allmählich besserten, schuftete sie zwar weiterhin bis zur Erschöpfung und war oft kränklich, inzwischen jedoch anerkannten und schätzten Vontobels ihre Tüchtigkeit. «In den Räumen wirkte eine liebliche Erscheinung besonderer Art. Eine arme Waisentochter war von den Wirtsleuten sozusagen an Kindesstatt angenommen worden und wurde von ihnen gepflegt und besorgt»,68 berichtete Hubers Juristenfreund Emil Zürcher in einem Brief an seine Verlobte.
Ansehen genoss eine Kellnerin in der bürgerlichen Gesellschaft kaum, dieser Beruf lag nahe bei der Prostitution. Allein die Tatsache, dass eine Frau ausser Haus arbeitete, war für sie schlimm genug. Lina kannte die Vorurteile und achtete konsequent auf ihren guten Ruf. Das Schicksal ihrer Schwester Emma hatte ihr drastisch vor Augen geführt, in welch wirtschaftliche und soziale Bedrängnis eine junge Frau geriet, die vom Pfad der Tugend abkam. «In dieser … gewiss nicht immer angenehmen Stellung wusste sie sich mit einer solchen Würde zu bewegen, dass sie allen imponierte und … dass Niemand es gewagt hätte, in ihrer Nähe nur unziemlich zu denken, geschweige denn zu reden.»69 Als Fabrikarbeiterin hätte sie sich zwar nicht in gleichem Mass auf moralischem Glatteis bewegt, wäre jedoch ausschliesslich mit Frauen oder Personen aus ihrer eigenen sozialen Schicht in Kontakt gekommen. Selbst finanziell hätte sie sich um einiges schlechter gestellt.
Im Wirtshaus dagegen verkehrte Lina unter Männern und traf regelmässig auf interessante Persönlichkeiten in verantwortungsvoller Stellung. Die Bollerei wurde, wie Emil Zürcher schrieb, «von den geachtetsten Einwohnern Zürichs» besucht, etwa von Staatsschreiber Gottfried Keller, dem Präsidenten des Obergerichts Honegger, es kamen «Majoren und anderes Militär, Professoren», wie Stararchitekt Gottfried Semper vom Polytechnikum. Unternehmer vom linken Zürichseeufer, Politiker und Studenten tranken regelmässig ihr Bier an der Schifflände. Nach Linas Tod erinnerte sich Professor Escher an seine Jugendjahre und an «das Bild des feinen, schlanken Mädchens … das seinem zierlichen, freundlichen und doch so sicheren Wesens halber aller Liebling war».70 Oder nochmals Zürcher: «Sie war eine tüchtige Arbeiterin und ihre anmuthige Erscheinung hatte so manchen jungen und alten Mann an den Ort gefesselt und die Stube mit Stammgästen gefüllt.»
Nie hätte sich eine behütete höhere Tochter in einer solch vielfältigen, illustren Gesellschaft bewegen können. Bei Privateinladungen verabschiedeten sich die Herren nach dem Essen ins Raucherzimmer und führten dort ihre ernsthaften Gespräche, die Damen überliessen sie dem Kaffeeklatsch. Anders lag der Fall bei Lina. Während sie die Herrschaften bediente, hörte sie deren Diskussionen, Neckereien, Meinungsverschiedenheiten und oftmals auch mehr oder weniger alkoholbedingte Streitereien. Ihr wacher Geist erhielt unzählige Anregungen und entwickelte dabei Verständnis für politische Zusammenhänge. Der kritische Huber anerkannte rückblickend: «Du hast, meine Lina, den Menschenschlag der Politik in deiner früheren Stellung von einem eigenen Standpunkt aus zu beobachten Gelegenheit gehabt.»71
Vielen Gästen in der Bollerei war Lina mehr als eine Kellnerin; bei den einen erkundigte sie sich, wann ihr Schiff fahre, andere fragte sie, wann sie ins Theater oder ins Konzert wollten, um ihnen dann ihr Essen rechtzeitig zu bringen. Lina war sich ihres Ansehens bewusst: «Schon viele, viele Anträge sind mir gemacht worden in Hotels, Gasthöfen, Cafés, doch mein Plan, das Wirtschaftsleben aufzugeben, wird dadurch nicht geändert.»72 Sie träumte von einer leichteren Verkaufsstelle in einem Geschäft, wo sie auch das Handarbeiten erlernen könnte. Ihre Freude an solchen Arbeiten war auch den Gästen in der Bollerei bekannt. Der Mitarbeiter eines Seidengeschäfts brachte ihr jeweils kleine Restchen mit, die sie dann zum Beispiel in ein Fensterrouleau verarbeitete.73
Lina hatte einen lebensfrohen Charakter, wie ihre Schilderung der Silvesternacht 1873/74 belegt: «Und wage es auszusprechen, dass durch mich auch die allgemeine Fröhlichkeit bei den Gästen wachgerufen wurde.»74 Um halb sechs Uhr morgens kam sie endlich ins Bett, zweieinhalb Stunden später war sie wieder an der Arbeit.
Manchmal jedoch trauerte Lina ihrer verpassten Jugend nach: «Ich gelangte namentlich in jener Zeit zu der Einsicht, wie hart das Schicksal doch mit mir verfahren, wenn ich sah, wie viele junge Mädchen meines Alters in Zerstreuungen und Vergnügen ihre schönen Jahre verbrachten, während ich eigentlich so viel wie nichts vom Leben genossen.»75 In anderem Zusammenhang klagte sie: «Ich, die ich beinahe meine Gesundheit, meine schönen jungen Jahre dem Geschäft geopfert.»76
Lina beobachtete ihre Kunden scharf, und es ist zu vermuten, dass ihre verblüffende Menschenkenntnis auf die Erfahrungen im Wirtshaus zurückgeht. Typisch ist ihr Urteil über einen Herrn Zundel von der Bahnhofstrasse, mit dem Linas künftige Schwägerin Anna 1875 Probleme bekam. Während Familie Huber den Fehler bei Anna suchte, äusserte sich Lina skeptisch. Sie glaubte, «dass dieser Herr sicherlich nicht das Solideste sei in moralischer Beziehung». Zwar benahm er sich im Restaurant korrekt, «allein sein Blick, sein ganzer Körper, seine Sprache machten mich manchmal stutzen, weil ich es nicht im Zusammenhang mit seinen Reden fand; er wollte immer Moral predigen und das langweilte mich oft an ihm».77
In der Bollerei hatte Lina stille und weniger stille Verehrer. «Ich bewegte mich in einem Kreis, der wenngleich keineswegs beneidenswerth, doch derart war, mich meine verfehlte Erziehung nicht so fühlen zu lassen, wie ich erst später eingesehen. Ich hatte eine kleine Welt um mich gesammelt, die tagtäglich um mich war und sich bemühte, durch freundliche Worte, durch aufmerksame Bewunderung meines andauernden Fleisses und meines wenigstens äusserlich immer guten Humors, mich zu achten und zu bewundern. Das fühlte ich wohl, dass in dieser Art von Bewunderung immer ein klein wenig von Liebe vorhanden war, ist ganz klar, und in diesem Bewusstsein, geliebt und geachtet zu werden, trotz des schwierigen Berufes, vergingen die Tage.»78 Von ihrer Liebe zum Medizinstudenten Otto Stoll und von Gottfried Keller wird noch die Rede sein.79
Als Huber im November 1871 einen ersten schriftlichen Annäherungsversuch wagte, wimmelte ihn Lina energisch ab, seinen Schutz brauchte sie nicht. Ausführlich verwies sie auf das gute Verhältnis zur Familie Vontobel und insbesondere auf die enge Beziehung zur Wirtin. «Ich bin schon zu lange bei Herrn Vontobels, als dass ich denken müsste, wenns mit meiner Gesundheit schlimmer gienge, dass mich namentlich Frau Vontobel so gut als Ihr [sic] nur möglich, mich verpflegen würde …»80 Lina hatte nicht übertrieben. Im Juni 1872 schickten Vontobels sie zur Erholung ins sogenannte Nidelbad oberhalb von Rüschlikon. Die Wirtsleute kannten auch Linas kulinarische Vorlieben. «Wenn man mir in der Bollerei ein Fest machen wollte, so liess man mir nur eine grosse, mit viel Zwiebeln gebratene Bratwurst mit Blumenkohl oder Kartoffeln machen. Sowohl Herr als auch Frau V[ontobel] wussten das; und währenddem Fr. V. einmal eine Woche lang im Bett war, bestellte mir H[err] V[ontobel] jeden Abend das gleiche, so dass ich zuletzt so satt von Bratwurst war, dass ich lange keine mehr Essen [sic] mochte.»81
Nach der Vorladung Hubers ins Obmannamt war Lina zutiefst besorgt: «Seit Sonntag Nachmittag muss auch Fr[au] Vontobel ernstlich das Bett hüten. Es macht mich sehr bange um sie, denn sie liegt beständig in Fiebern, so dass der Arzt 2 bis dreimal täglich kommen muss.»82 Und am folgenden Tag: «Mit meiner armen Frau Vontobel stehts sehr schlecht, denn kaum noch glaubten wir gestern Abend, dass sie die Nacht noch verlebe. Heute früh ist sie sehr schwach, liegt in beständigem Fieberzustand von 39 bis 40 Grad. Die Arme, könnte ich ihr helfen. Herr V. geht’s auch sehr schlimm.»83 Während Huber in Bern auf Liebesbriefe hoffte, betreute Lina eine Sterbende. «Dieser Tag wird mir zeitlebens im Gedächtnis sein, denn jeder Augenblick drohte ihrem armen Leben ein Ende zu machen. … Um mich darfst Du Dir nicht bange sein, solange ich meine gehörige Nachtruhe habe so geht’s noch immer an. Es ist mir nicht möglich, länger zu schreiben, ich werde an die Arbeit gerufen.»84 Erst ein Jahr später fand sie in Genf die Kraft, Huber die schmerzlichen Stunden zu schildern: «Gegen 9 Uhr lag sie todt in meinen Armen, ich küsste ihre Leiche und war so betrübt, dass ich lebhaft wünschte mit ihr folgen zu können. Die vorhergehende Nacht wachte ich bis Morgens um 5 Uhr, nachdem den ganzen Tag in Angst und Kummer verbracht; die Diakonisse war so abgespannt, dass sie unmöglich eine 3te Nacht durchwachen konnte und so war ich gerne bereit sie abzulösen.»85 Friederike Vontobel-Boller starb im Alter von 50 Jahren.86 Lina hatte ihre mütterliche Freundin verloren. In ihrer literarischen Bildung und ihrem Umgang mit den Gästen war sie ein Vorbild für Lina. Lina kam nicht mehr dazu, mit ihr über ihre Beziehung zu Huber zu sprechen. Was hätte ihr wohl Frau Vontobel geraten?
Dank Gottfried Keller sind Einzelheiten aus dem Leben von Friederike Vontobel überliefert: Im Rahmen einer Publikation von Kellerbriefen veröffentlichte die Zeitschrift «Deutsche Dichtung» im Oktober 1890 eine Ode an Frau Vontobel. Am 26. Dezember 1873 hatte Keller diese Dichtung seinem Freund Friedrich Theodor Vischer87 zugeschickt, «ein wirkliches Biedermeierprodukt … vom rüden und borstigen Dr. Meyer genannt Schneckenmeyer»,88 kommentierte Keller boshaft. Arnold Meyer, Privatdozent am Polytechnikum, war Frau Vontobels Bewunderer.
«Nachruf an Frau Vontobel89
O Schicksal, an dem Menschenwille So schnell und unerwartet bricht!
Nun steht dies Herz für immer stille,
Das nur geschlagen für die Pflicht!
Du gehst dahin zum ew’gen Frieden
Als du ganz nahe sahest schon
Des Abends würdge Ruh hinieden
Als langen treuen Wirkens Lohn!
Geboren in des Wohlstands Schoosse,
Geadelt durch des Geistes Weh’n
Hast du, verfolgt von schlimmem Loose,
Das Glück stets nur von fern geseh’n.
Als Mädchen schon sahst du sie sterben
Die Rosen, die der Lenz uns bringt:
Kaum will dein Liebster um die werben,
Als seine Todtengloc’ erklingt.
Den Zweiten kannt’ ich: Freund der Wahrheit,
Als Mann noch voll von Ideal
War er erwacht zur Lebensklarheit
Als er erlag der Herzensqual.
Da weintest du; die letzte Flamme
Erlosch in dir mit seinem Tod;
Doch geistesstark wardst du zur Amme
Der Deinen nun, im Kampf ums Brod.
Und als sie beide leise wallten
Vom Lebe hin zur Ewigkeit
Sah man dich ruhlos um sie schalten,
Als Schwester der Barmherzigkeit.
Zum Abend wurde so dein Morgen,
Doch als du lebtest neuer Pflicht,
Beladen nun mit neuen Sorgen,
Ward deiner Gäste Kreis dein Licht.
Da kommen sie von allen Enden,
des Mittags und des Abends früh
Zum trauten Port der ‹…-Länden›
Zum Ausruhn von des Tages Müh.
Der Fabrikant, des Staates Leiter,
Der Studio voll der Illusion.
Der Philosoph, der Handarbeiter
Und auch der Schiffahrt derber Sohn.
Und soviel Freunde als der Gäste
Gewannst du dir, so schlicht und recht,
Denn jeden grüsstest du auf’s Beste,
Ob reich, ob arm, ob Herr, ob Knecht.
Gern nahmst du, wenn’s die Zeit erlaubte,
Theil an Gesprächen ernster Art;
Es sagte jeder, was er glaubte,
und widersprachst du, war es zart.
Und weisst du noch, vor vielen Jahren,
Als Vischer unsern Kreis beehrt,
Wie freudig überrascht wir waren,
Als du aus Klopstock ihn belehrt?
So warst du stets ein Bild der Milde,
Gekrönt durch edle Festigkeit.
Drum lieben wir dich noch im Bilde,
Fort, lange über deine Zeit.
So ruh denn sonst im Schooss der Erde,
Du wackre Wirthschaftsführerin;
So lange ich noch leben werde
Kommt ‹Rikli› mir nicht aus dem Sinn.»
Auf den 1. Januar 1874 übernahm eine neue Gerantin, Frau Weiss, das Lokal. Noch stand Lina der Abschied von Herrn Vontobel bevor. Dieser litt an einer schlimmen Erkrankung der Blase.90 Wiederum erlebte Lina Dramatisches: «Die Augen sind schon ganz trübe, die Kräfte nehmen von Stunde zu Stunde ab … Etwa um 1 Uhr in der Nacht ging ich noch zu ihm um zu sehen, wie es gehe und erhielt zur Antwort: Lina, ich muss bald sterben, es währt immer lang.»91 Der qualvolle Todeskampf zog sich über zwölf Stunden hin. David Vontobel war bereits bewusstlos, als sein Bruder auftauchte. Kaum hatte der Wirt den letzten Atemzug getan, nahm der ungebetene Besucher die Schlüssel ab, packte allerhand ein, selbst den Ehering der verstorbenen Frau Votobel liess er mitlaufen und wollte sich eben davon machen. Inzwischen war Lina aufs Waisenamt geeilt und kam mit dessen Direktor zurück. «O! es war grässlich solch ein Aufzug neben einer Leiche!»92 Der «schöne Bruder» musste seine Taschen leeren.
Ihre Wertpapiere hatte Lina bei Herrn Vontobel hinterlegt. Wenige Tage vor seinem Tod übergab er ihr die Unterlagen, ihren ausstehenden Lohn und ein Neujahrsgeschenk. Gross war Linas Überraschung, als sie einige Wochen später erfuhr, dass David Vontobel ihr testamentarisch tausend Franken vermacht hatte. Das war ein Drittel ihres Vermögens, das sie später in die Ehe einbrachte.