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FRAU KELLER ODER FRAU HUBER? WERBEN UM LINA
ОглавлениеErst seit wenigen Jahrzehnten ist bekannt, dass Zürichs Staatsschreiber und bedeutendster Schriftsteller Gottfried Keller ebenfalls um Lina warb. Nach Kellers Tod gab sich Huber alle Mühe, diese Episode vergessen zu lassen. Deshalb lässt sich heute nicht mehr feststellen, wann genau Kellers Interesse an Lina erwachte.93
Während längerer Zeit muss Lina mit gesundheitlichen Problemen gekämpft haben. Auch Gottfried Keller war überzeugt, dass Linas Gesundheit ernsthaft bedroht war. Sie hustete und ihre Gäste fürchteten wohl, Lina sei an Tuberkulose erkrankt. In seinem ersten Brief an Lina vom Spätherbst 1871 nannte Huber für sein überstürztes Handeln unter anderem als Grund, «dass Ihre Gesundheit ein rascheres Vorgehen energisch gebietet … Ihre jetzige Stellung entspricht in keiner Weise Ihrer Gesundheit, und ich darf hinzufügen in keiner Weise Ihren Gemüths- und Geistesanlagen.»94 Er hatte sich mit seiner Schwester Emma beraten und schlug vor, Lina zur Erholung bei einer befreundeten Familie auf dem Land unterzubringen. Postwendend schrieb ihm Lina eine Absage.
Vontobels liessen die kranke Lina nicht fallen, wie sie zu Recht angenommen hatte, jedoch verzögerte sich ihre Genesung. Im Juni 1872 verbrachte sie einen Erholungsurlaub in der Umgebung der Stadt in einer bekannten Heilquelle, dem Nidelbad ob Rüschlikon. Schon 1553 listete der damalige Zürcher Stadtarzt und Naturforscher Conrad Gessner auf, für welche Krankheiten das Bad Heilung versprach.95 Zürcher rapportierte Linas Kuraufenthalt an Huber in Wien.96 Dies löste gleich eine eifersüchtige Reaktion aus: «Ich möchte wissen, in welcher Eigenschaft sie dort weilt, ob die Sache als ein Schritt zur Selbständigkeit aufzufassen ist, oder als ein ihrer Passivität von aussen aufgelegtes Palliativmittel, das sie schliesslich nur noch mehr an Vontobels bindet.»97
Linas Gesundheit blieb auch nach dem Kuraufenthalt angeschlagen, wie Keller Ende Jahr der befreundeten Marie Exner nach Wien berichtete. «Das gute arme Mädchen Lina in der ‹Bollerei› … sei immer noch ein braves, liebenswürdiges Kind, das des Nachts wegen des wiedergekehrten Hustens nicht mehr schlafen könne und sich doch den ganzen Tag durch plage und dabei blass und mager geworden sei.» Im selben Brief erwähnt Keller den Architekten Gottfried Semper. Lina «schreibe ihm eine Schachtel mit Handschuhen zu, die sie anonym durch die Post erhalten habe, und möchte ihm gerne dafür danken. Neulich kaufte ich ihr ein Ringlein, das sie mit einem von Semper geschenkten am kleinen Finger trägt, so dass sie beide Narren schön vereinigt mit sich führt. Sagen sie das aber Semper nur, wenn er guter Laune ist, sonst wird er wütend.»98
Der schüchterne Keller nützte Linas Abwesenheit von Zürich, um ihr anonym das Gedicht «Regenliedchen für Lina» «mit einem Korallenhalsband»99 zu schicken. Korallen waren damals sehr in Mode, Keller hatte Linas Sinn für Eleganz erkannt. Ob er sich tiefere Gedanken zu seinem Geschenk machte? Walter Morgenthaler, der Herausgeber der kritischen Gottfried-Keller-Ausgabe zitiert das Lexikon des deutschen Aberglaubens: «Korallenschnüre aber werden von der Braut getragen, der sie unheilabwehrende Schutzkraft verleihen.»100 Dass sich Keller vom Regen inspirieren liess, hatte handfeste Gründe. Im Brief, in dem Zürcher seinem Freund Huber von Linas Abwesenheit berichtete, klagte er: «Regenwetter haben wir auch, und zwar seit Wochen konstant», und einige Zeilen später sprach er gar von «apokalyptischem Wetter».101
«Regenliedchen für Lina
Für manchen Becher, den Du ihm
Mit Freundlichkeit gebracht,
hat jetzt ein guter alter Freund
still sinnend Dein gedacht.
Jetzt sitzt sie in dem Regengrau,
Das fern den Berg verhüllt;
Es bleibt ihr Wunsch nach Sonnenschein
Und Lenzluft ungestillt.
Doch bleib’ nur ruhig, gold’nes Kind,
Und lach’ den Regen an
Mit deinem Aug’ voll Sonnenschein
Den bösen Wassermann!
Und dankbar aus den Wolken bringt
Er dir Genesung her;
Dann rauscht er fort - und diese Schnur
Holt er Dir aus dem Meer!
Ein Zeichen, wie er sehr sich schämt,
Sei dir das tiefe Roth! Ach Gott!
wie rauscht und plätschert er,
Bald weint er sich zu todt!
Blick ihn nur an, so muss entsteh’n
Des Regenbogens Pracht,
dann hat dein sonnig’ Auge
den Regen weggelacht.»
Nach einem missglückten mündlichen Versuch machte Keller am Donnerstag vor Ostern, am 10. April 1873,102 Lina schriftlich einen offiziellen Heiratsantrag. Das – verschollene – Original schickte sie ihm wie gewünscht zurück, doch erstellte sie vorher eine Abschrift. Während der jugendliche Huber 1871 vor allem von seiner eigenen Zukunft gesprochen hatte, äusserte sich der 54-jährige Keller liebevoll väterlich-besorgt, über seine Stellung brauchte er nichts anzufügen:
«L. L.
Sie haben Gestern Abend wahrscheinlich gemerkt, wo ich hinaus wollte mit meiner ungeschickten Ankündigung. Ohne viele Worte zu machen, will ich Sie daher jetzt fragen, ob Sie nicht zu viel Widerwillen haben, meine Frau zu werden? Wenn Sie mich nicht mögen, so wissen Sie es jetzt schon u. ich bitte Sie in diesem Falle mir dieses Briefchen mit einem darüber od. darunter geschrieben Nein heute Abend noch zurückzustellen, damit wir dann über die Sachen lachen können wenn ich zurückkomme. Glauben Sie aber mit mir leben zu können u. wollen sie sich die Sache überlegen so können sie mir das an diesem Abende so zu verstehen geben, wie es Ihnen gefällt u. gut scheint. Vielleicht könnten Sie mir über die Ostertage Gelegenheit geben mich näher auszusprechen u. vielleicht würde J. V. Ihnen hiebei mit Ihrem Rath zu Seite sein da Sie sonst Niemand haben. Alle weitern bei solchen Anlässe übliche Redens Arten, will ich jetzt unterlassen einzig will ich Ihnen sagen, dass es mich sehr glücklich machen würde für Sie sorgen u. leben zu dürfen. Ihr Erg G K»
Linas Briefentwurf auf der Rückseite einer Menükarte ist in sehr viel herzlicherem Ton gehalten als ihre Antwort vom November 1871 an Huber.
«G. H. S. [vermutlich: Geehrter Herr Staatsschreiber] Ich kann nicht umhin Ihrem geschätzten Schreiben Einige Worte beizufügen. Genehmigen Sie vor allem meinen besten herzlichsten Dank, für Ihre überaus liebevolle Ansicht, die ebenso unerwartet, als unverhofft an mich gelangte. Der gestrige Abend war wohl derart mich verstehen zu lassen, was Sie mir hier mittheilen u. ich verhehle Ihnen keinen Augenblick, dass mich diese Nachricht (dennoch) ungemein überraschen musste. Allein Sie wissen ja wohl, dass in solchen Angelegenheiten nicht allein der Verstand sondern hauptsächlich das Herz reden soll u. daher zögre nicht länger mit der Antwort wenn Ihnen sage, dass ich auf Ihren wenn auch noch so edeldenckenden Antrag nicht eingehen kann. Genehmigen Sie die Versicherung
Meines herzlichsten Dankes
von Ihrer ergebenen
L. W.»103
Linas Absage, selbst wenn er sie erwartet hatte, ging Keller nahe. Voll Ironie beschrieb er einige Monate später der Sängerin Emilie Heim seine Verfassung: «Mir selber hat Gott Amohr [sic] wegen eines kleinen Schwabenmädgens noch einen späten Pfeil nachsenden wollen, so dass ich höchlich erschrocken mit dem Bein denselben hab’ abwehren müssen, wobei aber, da ich indessen auf dem andern Bein allein dastund, beinahe die Balance verloren hätte.»104 Da die Episode Keller-Lina in Vergessenheit geraten war, deutete Hans Wysling in seiner Biografie Kellers zu dessen 100. Todestag die Passage literarisch: «Warum aber ‹Schwabenmädgen›? Keller spielt damit auf Gottfried August Bürgers ‹Schwabenmädchen› an.»105 Mit wissenschaftlicher Gründlichkeit führt der Autor die Quellen dieses Gedichts auf, die zu jenem Zeitpunkt Keller zu Bürger bekannt sein konnten. Dass sich hinter der Briefstelle tatsächlich ein Schwabenmädchen verbarg, ahnte er nicht.
Lina bewunderte den Literaten Keller. Als sie 1875 in Genf die eben erschienene zweite Folge der «Leute von Seldwyla» las, war sie gefesselt von der Persönlichkeit der Regel Amrein und von deren «schützendem Engel» Fritzli: «Man sieht, dass Keller ein Mann ist, der das Leben versteht, und kennen gelernt hat, als das, was es ist; denn diese Scene ist keine blosse Einbildung, sondern tiefe Wahrheit, die sich oft genug darbietet.» Die Geschichte des einen Gesellen der «Drei gerechten Kammmacher», der in Seldwyla zurück bleibt, erinnerte sie an ihre Zeit in der Bollerei. «Ich finde in diesem Punkt eine ziemliche Ähnlichkeit mit meinem früheren Leben; ich blieb in der Bollerei sitzen im Gefühl, als wäre ich nun halt einfach dafür bestimmt, meine Jugend, meinen Fleiss, meine Kräfte, ja selbst meine Gesundheit zu opfern … Jetzt finde ich, dass in solch unbewusster Pflichttreue eine gewisse Beschränktheit liege.» In Kellers Erzählungen entdeckte sie Ähnlichkeit «mit unserm, namentlich aber mit meinem Leben».106 Gerne würde sie zusammen mit Huber «Romeo und Julia auf dem Dorfe» wieder lesen.
Während Lina die «Leute von Seldwyla» studierte, hatte Huber als Redaktor der «NZZ» endlich direkten Kontakt zum Schriftsteller. «Später kam ich selber einige Male mit Keller in nähere Berührung, meine Frau aber gar nicht mehr.»107 Sein Mentor Hans Weber, ein guter Freund Kellers, nahm ihn mit zu einem Umtrunk im – inzwischen nicht mehr existierenden – Restaurant zur Meise. Es war ein typischer Männerabend im kellerschen Stil, denn Huber berichtete Lina, «bei nur allzu reichlichem Trinkgelage»108 sei er erst um 1 Uhr morgens ins Bett gekommen.
Huber muss dem Schriftsteller gegenüber Andeutungen von seinen eigenen literarischen Hoffnungen und Versuchen gemacht haben. «Als ich in jungen Jahren einmal Gottfried Keller von dieser Tätigkeit sprach und beifügte, dass es wohl nicht das richtige [sic] sei, nur so nebenbei der Muse dienen zu wollen, unter Hinweis auf das, was er in seinem Störteler darüber gesagt habe, entgegnete er, so sei das nicht gemeint, es sei doch immer besser als jassen.»109 Mit dem Hinweis auf den Möchtegern-Schriftsteller-Dichter aus den «Missbrauchten Liebesbriefen» gab sich Huber betont bescheiden, während Keller mit seinem trockenen Humor Huber zumindest nicht entmutigte.
Jahrzehnte später lebte die Familie Huber in Halle. Durch die «NZZ» erfuhren Lina und Huber von Kellers Tod am 15. Juli 1890. Ebenfalls der Presse entnahm Huber, dass sein ehemaliger Professor Albert Schneider zum Testamentsvollstrecker bestimmt war. Nun ging es darum, alle Spuren von Gottfried Kellers Werben um Lina im Nachlass zu tilgen. Angeblich in Linas Namen schrieb Huber an Schneider: «In einer ganz vertraulichen Sache möchte ich dich hiemit um deinen gütigen Dienst ersuchen.» Zunächst schilderte er die Beziehung Kellers zu Lina: «Gottfried Keller war seinerzeit ein regelmässiger Gast des Caffe Boller an der Schifflände und war gegen meine 1. Frau während jenen langen Jahren stets besonders theilnehmend u. respektvoll. Dennoch war meine Frau weit entfernt das Verhältnis zu G. K. anders denn von irgend welchen Gedanken dass es sich um eine intime Beziehung handeln könnte, u. als zu einem … Freund aufzufassen u. dies auch dann noch nicht, als ihr Gottfried Keller ein hübsches Geschenk mit einem sehr schönen sinnigen Gedicht widmete.»110 Dann ging es um Kellers Vermächtnis. «Nun ist es ja leicht möglich, dass Keller hierüber Aufzeichnungen, vielleicht die zwei betr. Schriftstücke selbst hinterlassen hat, und so möchte ich dich im Namen meiner Frau angelegentlichst darum bitten, deren Interessen, soweit dies mit deiner Stellung als Kellers Vertrauensmann möglich ist, wahrzunehmen. Am liebsten wäre es ihr, das Schriftstück diese Briefe, wenn sie noch vorhanden sein sollten, zurückzuerhalten. Wir würden sie natürlich alles als pietätvoll aufbewahren. Vielleicht geben auch allfällige Aufzeichnungen Kellers Veranlassung, dafür Sorge zu treffen, dass nicht diese Beziehung, die bis jetzt von beiden Seiten glücklich geheim gehalten worden ist, durch vorzeitiges Bekanntwerden profaniert werde. Vielleicht auch hat Keller umgekehrt selber alles in dieser Hinsicht ausgelöscht und beseitigt, und dann betrachte dies als die Mittheilung eines Freundes, die ausser dir bis jetzt Niemand erhalten hat, und wir wollen dieses Schweigen gemeinsam fortsetzen.» Linas Meinung zu Hubers Vorgehen ist nicht überliefert. Am Ende des Schreibens fügte er bei: «Meine l. Frau hat unabhängig von mir heute morgen selber ein Brieflein an dich aufgesetzt, das ich beilege, um unser Gesuch zu verstärken.»111
Hubers Verschleierungspolitik hatte Erfolg. Kellers Beziehung zu Lina kam erst Ende des 20. Jahrhunderts im Rahmen der kritischen Kellerausgabe ans Licht. Die Dokumente in der Zentralbibliothek Zürich blieben offiziell bis 30 Jahre nach Hubers Tod gesperrt. Selbst Jonas Fränkel, Hubers Kollege an der Universität Bern, der in den 1920er-Jahren die erste Gesamtausgabe Kellers betreute, hatte ausdrücklich keinen Zugang zu diesen Akten.112
Warum liess es Huber nicht bei Linas persönlichem Brief an Schneider bewenden? Meldete sich der alte, eifersüchtige Verehrer zurück? Schneiders Reaktion lässt solches vermuten. Mit klaren Worten wies er seinen ehemaligen, nun arrivierten Schüler zurecht. «Freilich möchte ich dir doch sagen, dass die Werbung eines Mannes wie Gottfried Keller gewiss zu allen Zeiten nur als eine hohe Ehre erscheinen würde, so vernünftig es auch war, sie auszuschlagen, und so sehr auch diese Ablehnung nun wieder zu Gunsten derjenigen spricht, die sie ausgesprochen hat.»113
Wenige Tage vor ihrem Tod im April 1910 übergab Lina ihrer Adoptivtochter Marieli den Rubinring, den sie von Gottfried Keller geschenkt bekommen hatte. Den Opalring, ebenfalls ein Geschenk Kellers, sandte Huber an Linas Patenkind Mariechen Rümelin in Tübingen. Im Brief an seine verstorbene Frau deutete er jene ambivalenten Gefühle an, die er stets mit der Erinnerung an die Bollerei verband: «Den Ring trug ich noch ein paar Stunden an meinem kleinen Finger und betrachtete ihn nach allen Seiten, um ihn mir einzuprägen, bevor ich ihn weggebe. Ich hatte ihn nie so gründlich betrachtet, als du ihn noch etwa trugst. Und ich vergegenwärtigte mir, wie er dir seiner Zeit in deinem damaligen Kreis eine naive Freude bereitet hatte, wie du dafür dem grossen Dichter dankbar gewesen, wie das dich alles Öde der Umgebung überwinden und vergessen liess! Ach, es hat ja auch seine Kehrseite. Ich dachte daher an diesen Ring und anderes immer nur mit einem bangen Gefühl. Bei Mariechen besteht von alledem nichts, auch wenn ich es ihr später sage, dass Gottfried Keller den Ring für dich ausgewählt, wie du kaum neunzehn Jahre zähltest. Es wird Mariechen ein liebes Andenken sein an seine Pathin, und so erfüllt der Ring ein zweites Mal seine Bestimmung, edle Freude zu bereiten!»114