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«IHR WILLE ALLEIN FEHLT NOCH ZUR AUSFÜHRUNG»115

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Blenden wir ein wenig zurück, ins Jahr 1871, ein Schicksalsjahr in Hubers Leben. Am Neujahrstag stellte er das kommende Jahr unter das optimistische Motto «Es wächst der Mensch mit seinen grösseren Zielen». In den folgenden Monaten waren es allerdings nicht Ziele, sondern Schwierigkeiten, die ihn wachsen liessen: der Beginn seiner langjährigen, schmerzhaften Fussprobleme und die – vorläufig – unglückliche Beziehung zu Lina. Zudem brachte die europäische Geschichte seinen Alltag eine Zeit lang durcheinander.

«Der Nachtwächter singt und bläst sein Horn, die Glocken läuten – das neue Jahr beginnt und mein Streben frischer damit»,116 freute er sich im Tagebuch. Spaziergänge, Eislaufen, das Buchprojekt mit Schulkollege Stoll, diverse Briefe seiner Freunde in der Ferne, die Aufzeichnungen des Monats Januar widerspiegeln ein typisches Studentenleben. Dann beschäftigte ihn plötzlich die grosse Geschichte. Am 1. Februar notierte er: «Übertritt der Franzosen», zwei Tage später: «Mit Wittelsbach am Bahnhof. Kriegselend vor Augen.» In den folgenden Wochen verdrängten Zürcher Ereignisse alles Private aus Hubers Tagebuch.

Gegen Ende des Deutsch-Französischen Kriegs 1870/71 stellte Frankreich die sogenannte Bourbakiarmee auf, um Belfort von den Deutschen zurückzuerobern, was misslang. In der Folge kamen vom 1. bis zum 3. Februar 87 000 französische Soldaten und 12 000 Pferde im Vallée de Joux über die Schweizer Grenze; die Zahl der Flüchtlinge entsprach drei Prozent der damaligen Schweizer Bevölkerung. Der junge Schweizer Staat stand vor einer gewaltigen humanitären Aufgabe; die zu betreuenden Soldaten waren schlecht ausgerüstet, unterernährt, viele waren krank. Möglichst rasch verteilte man die Internierten auf 190 Ortschaften in der Schweiz, der Kanton Zürich allein sollte über 12 000 Personen beherbergen bei einer Einwohnerzahl der Stadt von gerade mal gerade mal 20 760.117

Prominente Vertreter der deutschen Kolonie, unter anderem Linas Bewunderer Gottfried Semper sowie der Wagner-Mäzen Otto Wesendonck luden auf den 9. März zu einer Feier des deutschen Sieges in den alten Tonhallesaal118 ein. Während den begeisterten Siegesreden drangen französische Internierte in die Versammlung ein und zettelten eine Schlägerei an, draussen warfen Demonstranten Steine. Die anwesenden Deutschen und ihre Schweizer Freunde mussten diskret fliehen. Die Polizei brauchte Stunden, um Ruhe und Ordnung wieder herzustellen, der Zwischenfall hatte die Behörden völlig überrumpelt. In den folgenden Tagen bot Zürich Truppen auf, um jene in Schach zu halten, die die Verhafteten befreien wollten. Am 11. März starben vier teilweise unbeteiligte Personen, als das Militär gegen die Anführer der Krawallanten das Feuer eröffnete. Der Regierungsrat forderte Bundeshilfe an, am 12. März trafen vier Bataillone ein, worauf sich die Proteste legten, und am 19. März die letzten Truppen Zürich verliessen.119 Schon am 9. März hatte sich Huber einen Revolver gekauft und patroullierte an jenem Abend mit seinen Kollegen Stoll und Ziegler durch die Strassen.120 Tags darauf hielten Hubers Schulkollege Wilhelm Oechsli sowie ein Deutscher auf dem Lindenhof – erfolglos – eine beruhigende Rede.121 Am 11. März beschloss die Studentenversammlung eine Adresse an den Senat und beantragte «beim Polizeipräsidenten Mithelfen zu wollen gegen die Unruhestifter»,122 was der Stadtrat dankend zurückwies. Die Studenten verurteilten den Angriff auf das freie Versammlungs- und Vereinsrecht und drückten ihr Bedauern aus, dass ein Grossteil ihrer Lehrer «nicht von diesen rohen Angriffen verschont blieben».123 Auch unter Hubers Dozenten befanden sich deutsche Professoren. Am folgenden Tag notierte er: «Bummel in der Stadt. Keine Unruhen.» Der Spuk war vorüber, Huber wandte sich erneut seinen persönlichen Sorgen zu. Seinem Freund Kleiner, damals Student in Berlin, beschrieb er «die grosse Gefahr, das grosse Unglück», das Zürich getroffen hatte, und bedauerte die «Verletzung der schweizerischen Politik gegen aussen. Die Schweiz, eine internationale Republic im Kleinen, soll Völkersitte, Völkerrecht bilden und hat dies in Zürich verletzt und damit die Axt an ihre eigene Wurzel gelegt.»124

Kaum war in der Stadt die Normalität zurückgekehrt, verschlechterte sich Hubers Gesundheit rapide. «Im Bett. Gelenkentzündung.»125 Im zitierten Brief an Kleiner beschrieb er sein Elend, unfreiwillig habe er Zeit zum Nachdenken «wegen einer Entzündung am rechten Fuss, an der ich schon bald drei Wochen laboriere und nun bald acht Tage im Bett bleiben muss». Tag und Nacht sollte er ruhig bleiben «indem ich oft die Nächte vor Schmerz … am Fuss nicht schlafen konnte!» Im Tagebuch fehlte zunächst der Verlauf der Krankheit, Huber las «Die letzten Tage von Pompeji», dann am 18. April heisst es «immer im Bett», schliesslich «schlimmer». Ende Monat wurde er philosophisch. «Eine lange Krankenzeit wegen eines blossen Gelenkleins. Wäre nicht mein immer unerschöpfbarer Humor, ich vermöchte die Geduld nicht zu bewahren … Freilich in mir wächst manches während dieser stillen Zeit heran. Vielleicht noch lange schlimm, um nachher besser zu kommen.»126 Nicht einmal an der Verlobungsfeier Augusts nahm er teil.

Im Mai reiste Huber auf Empfehlung seines Hausarztes zu einer Kur nach Bex. «Allein, allein! Und so soll ich genesen?»127 Doch schon am folgenden Tag tönte es erfreulich anders. «Ich rede zum ersten [sic] mit ihr.» Und kurz darauf «Sie, nur Sie!». Huber hatte sich in eine Pariserin verliebt. Plötzlich war im Tagebuch das Elend seiner Füsse kein Thema mehr, über die Therapien schwieg er sich aus. Huber brachte «Camille» Blumen, ihrer kleinen Schwester «Louison» Schmetterlinge, sein Bruder schickte ihm ein Wörterbuch. Die Gruppe machte gemeinsame Ausflüge, Madame gab Huber Lesetipps. In Zürich wurde August misstrauisch. Mit einem undatierten Brief ermahnte er den Patienten, nur seiner Gesundheit zu leben, bald zurückzukommen und die Arbeit wieder aufzunehmen. «Du bist ja noch dorten gegangen, um gesund zu werden und diesem Zwecke muss natürlich manch Angenehmes geopfert werden.» Huber war so weit genesen, dass er auf der Heimreise vom 13. bis zum 15. Juni Genf besichtigen konnte. Kaum zu Hause beklagte er einen Rückfall. «In Kater zu Haus, kalt, wieder schlimmer.»128

Im Juli konsultierte Huber den Chirurgen Professor Edmund Rose, der ihm keine Hoffnung machte. «Mein Leiden sei quasi unheilbar. Also alles zerstört – Plan und Hoffnung? … Concert der Stuttgarter Virtuosen. Prachtvoll – aber Schmerz während. Was fang ich nun an?»129 Rose fand eine Operation zu gewagt, die Sache sei «nicht bedrückend» und vielleicht würden die Schmerzen mit der Zeit abklingen. Freund Kleiner klagte er sein Elend. «Ich muss meine ganze Lebensweise, vielleicht gar meinen Beruf ändern, vielleicht ja auch meiner gehofften öffentlichen carrriere entsagen», war sein Schicksal «eine stubenluftdurchwürzte ‹Gelehrten›laufbahn»? Freunde kamen selten zu Besuch, immerhin hatte er in Zürcher einen «fidelen Tröster».130 Der Patient erhielt Massschuhe, doch verfolgten und zermürbten ihn Schmerzen. Bei der Schmerzbekämpfung war die damalige Medizin beinahe hilflos. Selbst ein heute so alltägliches Medikament wie Aspirin kam erst 1897 auf den Markt. Im Alter erinnerte sich Huber, wie er sich durch die Krankheit veränderte und sein Studium ernster nahm. «Erst mit dem Sommer 1871 wurde es besser, als ich meine Fusskrankheit herumschleppte und anfing zu lesen und zu zweifeln, oft auch zu verzweifeln.»131

Ab Hochsommer 1871 verkehrte Huber häufiger in der Bollerei, im Tagebuch sind für den Monat August sechs und für September neun Besuche vermerkt. Es ist möglich, dass er im Jahr zuvor erstmals mit seinem Bruder in das Lokal kam,132 anschliessend verbrachte er mehrere Sonntagabende in Gesellschaft von Freunden in der Wirtschaft, einmal notierte er «viel Schach».133

1871 ging es nicht mehr ums Spiel, sondern um Lina. Er beobachtete sie und versuchte, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Zu ihrem Namenstag am 20. September schenkte ihr Huber ein goldenes Uhrenschlüsselchen. Merkte Lina nicht, worum es ging oder übersah sie diskret seine Avancen? Huber war zutiefst verliebt, «Bei Lina und Andeutungen an sie. Pläne!», dann war er niedergeschlagen, wohl weil er in einem andern Gast einen Rivalen vermutete. «Nach Concert Kneiperei in der Bollerei mit den dreien und Dr. Meier. Moralischen.» Die Dinge verliefen nicht nach seinem Wunsch. «Billet an Lina offeriert. Abschlag! Aufrechnung! Abends mit Schaer bei ihr. Beobachten – gegenseitig.» Im Anschluss an ein Konzert war er schon am folgenden Abend wieder im Wirtshaus. «Nachher mit Esslinger in der Bollerei. Tragisch!» Mit einem Freund unternahm Huber einen Ausflug nach Bern. «Geschenk an sie gekauft. Gedankenvolle Rückfahrt.» Mit seiner Gabe hatte er kein Glück. «Missglücken des Geschenkleins an sie. In der Bollerei. Unglückliches Zusammentreffen mit Körner.» Am nächsten Tag verpasste er Lina. Schliesslich: «Bei ihr. Mit Zürcher. Alles vergebens!!! Im Traum bei ihr.»

Huber gab sich nicht geschlagen. Im November schrieb er Lina einen ausführlichen Brief. In seiner gründlichen, umständlichen Art verfasste er keinen glühenden Liebesbrief, sondern ein keineswegs beschönigendes Lebensprogramm, selbst die Zukunft malte er nicht in rosigen Farben.

«Hottingen, den 10. Nov. 71 Abends

Hochzuverehrende Lina!

Nur nach langer tiefer Ueberlegung wage ich es, mit einer Angelegenheit an Sie zu treten, die in Ihre fröhliche sichere Herzensruhe vielleicht unruhige Stunden werfen mag. Ich thue es in der Ueberzeugung, dass in allen Dingen eine offene entschiedene Sprache zum besten Verständnis führt, und in der Ueberzeugung, dass Sie einer solchen Sprache niemals zürnen können. Wenn hinter dem Worte ein fester unerschütterlicher Entschluss begründet liegt, darf man wohl die Verantwortlichkeit auf sich laden, mit der Sprache herausgerückt zu sein. – Dass ich gerade heute vor Sie trete, ist doppelt begründet, einmal darin, dass Ihre Gesundheit ein rascheres Vorgehen energisch gebietet, und dann, weil ja auch später voraussichtlich mir nie ein anderes Mittel, mich Ihnen zu nähern, geboten würde, als das, das ich eben heute ergreife. Ich habe es versucht, Ihnen noch und noch näher zu kommen, und gewiss wäre es wünschenswerth gewesen, dass Sie mich, bevor ich Ihnen meine Gedanken eröffnete, genauer kennen gelernt hätten, aber Ihre aussergewöhnlichen Verhältnisse verlangen aussergewöhnliche Schritte und ich lebe der Hoffnung, dass es doch auch auf diesem Wege möglich gemacht werden kann, dass Sie mich begreifen und voll verstehen.

Hochverehrte Lina, es ist nun bald ein Jahr, seit ich Sie zum ersten Mal gesehen – und bald ein Jahr, dass eine Ahnung mein Herz befiel, hier was ich suche gefunden zu haben. Während dieses Jahres haben die Zeit, da ich abgeschlossen für mich die bange Sorge meine gesunden Glieder zu verlieren durchkämpfen musste, haben Beobachten und Nachdenken diese Ahnung in mir zur Gewissheit heranreifen lassen, den Plan, Ihr Schicksal mit dem meinen zu verbinden, war mit dieser Gewissheit in mir beschlossene Sache. Ihr Wille allein fehlt noch zur Ausführung, und diesen Willen zu erlangen, zu erlangen ehe es zu spät ist, ehe Ihre jetzige Lage auf Ihre Gesundheit unverbesserlich einwirkt, das, liebe Lina, nehmen Sie voraus an als die Seele dieses Briefes.

Auch ich bin ein Waise. Doch kannte ich wenigstens meine Mutter noch und lebte mit ihr bis vor wenigen Jahren und lebte mit ihr in innigem vertrauensvollen Zusammensein. Sie starb – mit ihr das einzige Wesen, an dessen Liebe ich mit ganzer Herzensmacht gehangen. Ich verliess wie ein Heimathloser, die Schweiz, soweit meine Mittel reichten, durchreiste ich fremde Länder, und unter Enttäuschungen und Erfahrungen aller Art bildete ich mir einen Lebensgrundsatz, den die Mutter mir schon ins Herz gepflanzt, im Wirken und Leben für die Mitwelt meine einzige Befriedigung zu suchen. Im Ringen, diesen Gedanken in mir zu läutern, in mir die Ausbildung zu erlangen, die uns erst volle Kraft gibt, auf unsre Umgebung einzuwirken, mitten in diesem Ringen traten Sie vor meine Augen. – Anstaunend sah ich hier eine selbstlose Pflichttreue, eine sich selber unbewusste Geistes- und Gemüthstiefe, die mich unwiderstehlich an verflossene Tage erinnern musste, in unzähligen Zügen Ihres Wesens weckten Sie in mir das Andenken an das theure Bild der Verstorbenen, fehlten auch Gelegenheit und gegenseitige Kentniss, um zu reden, zu fühlen, wie ich mit ihr es konnte, – diese kleinen und grossen Züge überzeugten mich doch, dass ich nicht irre, u. dass nur die Entwicklungsrichtung verschieden, der innerste Grund unserer Herzen aber verwandt sein müsse. Ich baute mir in Plänen das Glück aus, dass wir in gegenseitiger Liebe uns vereinen werden und dass wir in dieser Vereinigung uns helfend und unterstützend trotz aller Winkelzüge widrigen Geschickes, die ja nie zu fehlen pflegen, ein schönes Leben glücklich theilen und geniessen werden. Ich kann diese Liebe von Ihnen jetzt nicht verlangen: Sie kennen mich nicht. Aber das darf ich hoffen, dass Sie meiner Liebe vertrauen, dass Sie auf den Plan eingehen, wenn ich es möglich machen will, dass Sie an Ihrer Ausbildung denken und arbeiten können, um dann, wenn ich mir eine Existenz gegründet, und wenn Sie sich ein Urtheil über mich gebildet, von Ihnen frei die Antwort zu vernehmen, ob wir dannzumal nur Freunde bleiben wollen, oder ob Sie sich dann entschliessen können, mein liebes, treues Weib zu werden. –

Ich verhehle mir keinen Augenblick, welch eine schwere Aufgabe Sie auf sich laden würden. Sie hätten sich in neue Verhältnisse einzuleben, Sie hätten das Belächeln und Bespötteln einer herzlosen Welt zu ertragen, Sie hätten eine geistige Arbeit auf sich zu nehmen, die Ihnen nicht schwer, aber vielleicht doch oft unbequem sein möchte – und als mein Weib endlich stünde Ihnen ein Mann zur Seite, der wohl recht vom rauhen Treiben der Praxis erfasst werden wird, der kein sorgloses Leben bieten, vielmehr Sorgen aller Art wohl oft mit sich auch in den Familienkreis hinein bringen würde – ‹dem Weib die redliche Hälfte des Grames›134 – und für alles dies könnte ich Ihnen nur meine Treue, meine unerschöpfliche Liebe geben. Sie werden überlegen, Sie werden entscheiden, und Ihr Entschluss wird mir heilig sein, ich weiss ja, dass Sie ihn berathen dass Sie ihn getroffen haben.

Ich bin Ihnen noch schuldig, einiges Nähere über meinen Plan mitzutheilen, wie ich ihn mit meiner älteren Schwester berathen habe. Ihre jetzige Stellung entspricht in keiner Weise Ihrer Gesundheit, und ich darf hinzufügen in keiner Weise Ihren Gemüths- und Geistesanlagen. Wir kennen nun eine uns von den Eltern her befreundete Familie auf dem Lande, wo Sie in einem hübschen Hause, wie Tochter aufgenommen würden, und zwar nicht in meinem Namen, sondern als Freundin unserer Familie. Dort fänden Sie Zeit, endlich einmal sich zu erholen, Ihrer eigenen Entwicklung zu leben und sich in dem neuen Elemente sich zurecht zu finden. Unterdessen vollendete ich mein Studium, führte meine projektierten Reisen aus, gründete nach meiner Rückkehr in Zürich oder in Bern ein Advocaturbureau, und da ich Hoffnung haben kann, bald zu Praxis zu kommen, möchte in kurzem, drei oder vier Jahren das Ziel erreicht und die Zeit gekommen sein, wo dann endlich das gehoffte Glück sich verwirklicht und Lina mein Weib wird. Zwar möchten die Launen des Schicksals ja wohl dies oder jenes anders wenden – uns wenn das Wort gegeben ist, vermag nichts mehr zu trennen. Am Ende der mühsamen Anfangsbahn ein Herz, von mir geliebt, wie es kein Mann je tiefer lieben wird, mir treu ergeben, ganz mein zu wissen, spornte mich zur Spornung aller Kräfte an, und liebe Lina, wär des für Sie zu viel gewagt, diesem meinem Muthe Ihr Glück zu vertrauen?

Sie werden begreifen, dass ich Ihnen mit diesen Zeilen nur eine kurze offene Erklärung geben konnte. Sie wird, wenn Sie darauf nur ein ‹Nein› haben, genügen. Im anderen Falle aber – werden Sie Gelegenheit finden, dass wir uns einmal allein sprechen können, da wird es dann erst möglich sein, alles klar zu beurtheilen, und gemeinsam über die wichtigsten Wege zu entscheiden. Ich wiederhole, dass Sie sich damit nicht binden. In jedem Falle, glauben Sie mir, Lina, wird meine Verehrung für Sie in mir bleiben, sie ist zu tief gewurzelt um nicht dauernd sein zu müssen.

Um die Existenz dieses Briefes weiss ausser meiner Schwester und meinem Freund, der zu schweigen versteht, niemand etwas, es mag gut sein, wenn auch Sie ihn keinem Dritten zeigen. Dagegen kenne ich Ihre verschiedenen Beziehungen zu wenig, um Ihnen sonst vom Rathsholen abrathen zu dürfen. Ich weiss aber ja, dass Sie selbständig zu sein früh lernen und üben mussten.

Mit Ihrer Antwort eilen Sie nicht, ich werde, bringe sie mir Glück oder nicht, ruhig zu erwarten suchen.

In tiefster Verehrung Ihr ergebener Eugen Huber»

Linas Antwort dagegen war kurz und klar:

«Zürich d. Nov. 1871

Sehr werther Herr Huber!

Nach reiflicher Überlegung fühle ich mich veranlasst, Ihnen meine Ansicht kund zu geben. Ihre Meinung werther Herr Huber ist jedenfalls zu achten und zu anerkennen, jedoch werden Sie mir nicht zürnen, wenn ich gleich frei heraus die offene Wahrheit schreibe.

Mit meiner Gesundheit geht es, Gott sei Dank, wieder bedeutend besser, so dass ich mich nicht mehr so gezwungen fühle, wie noch vor kurzer Zeit, das Rauchzimmer zu verlassen, sondern werde suchen, so lange es mir möglich, in meiner jetzigen Lage zu verharren. Ich ersehe aus Ihrem werthen Schreiben, dass Sie sich sehr um mein Befinden interessieren und bin Ihnen deshalb zu vielem Dank verpflichtet; aber so sehr wohlmeinend Ihr Vorschlag ist, werde ich mich doch nicht dazu entschliessen können. Ich bin schon zu lange bei Herrn Vontobels, als dass ich denken müsste, wenns mit meiner Gesundheit schlimmer gienge, dass mich namentlich Frau Vontobel so gut als Ihr [sic] nur möglich, mich verpflegen würde. Glauben Sie mir zwar werther Herr Huber, dass ich seit dem Todte meiner lieben unvergesslichen Eltern schon manche schwere, bittere Stunden durchzukämpfen hatte, dass ich mich oft ganz verlassen ohne irgend einen Mütterlichen Rath befand; aber das muss ich gestehen, dass mir meine liebe Frau Vontobel treu zur Seite stand, und mich ganz als eigene Tochter unterstützte.

Ich bitte Sie deshalb herzlich dringend werther Herr Huber, zürnen Sie mir nicht, wenn ich Ihren gehegten Hoffnungen und Wünschen nicht entgegnen kann.

Suchen Sie diese Gedanken so leicht als möglich zu vertreiben und zu vergessen und seien Sie überzeugt, dass ich Sie aus Achtung und Dankbarkeit fortwährend in hohen Ehren halten werden. [sic]

Genehmigen Sie desshalb nochmals die Versicherung meiner Achtung und Freundschaft ganz ergebenst

Lina Weissert»

Lina täuschte sich nicht, Familie Vontobel sorgte für ihre Gesundheit. Im folgenden Jahr ging sie bekanntlich zur Erholung ins Niedelbad ob Rüschlikon.

«Antwort von Lina. Mein Glück ist zu Ende.» Nun machte Huber einen grossen Bogen um die Bollerei, schickte aber regelmässig Zürcher vorbei, auf dass er das Neueste von Lina berichte. Hubers Füsse wurden schlimmer, er musste gar das Bett hüten. Dann besuchte er andere Wirtshäuser: «Mit Z. im Grünen Glas. Gegensatz!» Ganz ohne war das «Grüne Glas» indessen nicht, hier hatte sich drei Jahre zuvor Wilhelm Conrad Röntgen mit Bertha Ludwig, der Tochter des Wirts verlobt.

Um endlich seine berufliche Zukunft zu sichern, stürzte sich Huber intensiv in die Arbeit, oder wie er es Kleiner gegenüber beschrieb: «Aber der Schmerz ist nicht ein wehmütiger Liebesschmerz gewesen, die Nacht über wurde ausgeweint, und den folgenden Tag ging ich an die Arbeit, das einzige zu thun, was mir blieb, mir nun möglichst schnell eine rechte Stellung zu verschaffen.»135 Innert weniger Wochen verfasste er seine juristische Doktorarbeit. Anschliessend plante er mit dem Rest seines Erbes einen längeren Auslandaufenthalt. Nicht nur im Fall von Lina, auch beruflich dachte Huber in grossen Dimensionen: «Wahrscheinlich besuche ich Wien, Berlin, Paris, London um mir Material zu einer Arbeit über die neueren Codificationen zu sammeln. Das würde dann nämlich eine Vorarbeit für’s künftige schweizerische Gesetzbuch.»

Am 23. Dezember hielt Huber fest: «An Kleiner Lina anvertraut.» Kleiner hielt nichts davon, unrealistischen Liebesträumen nachzutrauern. Wohl als Trost für Huber schrieb er ihm von «Blödigkeit und Spröde». Damit kam er schlecht an. «Spröde, blöd ist sie gar nicht, man darf sie recht lieb haben und mit ihr scherzen.» Linas Antwort begründete er mit ihrem «Gefühl der Dankbarkeit gegen ihre Pflegeeltern». Huber glaubte, Lina liebe ihn. «Sie weiss nicht, dass ein Mann, der sie liebt, und den sie liebt, die grössten Ansprüche auf sie hat, und drängt alles zurück, was ihre Pietät gegen besagte Leute verletzen könnte … Für mich ist die Situation drum nur um so schlimmer. Da hilft kein Mephistoteles, weil keine Grete zu gewinnen ist, sondern eine Frau, die sehr viel, sehr viel erlebt hat.» «Was ich zu thun gedenke, habe ich dir bereits gesagt – wenn sie so lange lebt, bis ich ihr klar zeigen kann, dass meine Liebe mehr ist als Schwärmerei, wenn sie unterdessen vielleicht doch zur Einsicht kommt, dass sie nirgendwo so gut aufgehoben ist als bei einem Mann, da mag mir der grosse Wurf am Ende doch noch gelingen.»

Linas Gefühle schätzte Huber völlig falsch ein. Dagegen verblüfft seine prophetische Schlussfolgerung. «Lina ist mir nicht nur die erste Liebe, sie ist mir mehr, ich weiss, dass sie mir geben könnte, was mir fehlt: praktischen Idealismus, der Thun und Denken durchdringt. Mit ihr möchte ich wohl mehr leisten, als ohne sie mir je möglich ist, sie liesse mich nie mehr rückwärts gleiten. Nun, komm’s heraus, wie’s will, jedenfalls will ich mein Möglichstes thun, sie doch zu erlangen.»136 Er hielt Wort. Das Tagebuch 1871 hatte er – trotz Linas eindeutiger Absage – mit dem Versprechen geschlossen «Lina ich bleib dir treu.»

Liebe und Vernunft

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