Читать книгу Lebendige Seelsorge 3/2021 - Verlag Echter - Страница 6
MYTHOS 1: EINE ABSCHAFFUNG DER KIRCHENSTEUER VERHINDERT KIRCHENAUSTRITTE
ОглавлениеDie finanziellen Anreize für einen Kirchenaustritt sind während der Erwerbsphase am höchsten: Mehr als neun von zehn Kirchenaustritten werden in dieser Lebensphase erklärt. Besonders deutlich wird die Bedeutung der Kirchensteuer für das Austrittsverhalten am Anfang des Berufslebens. Mit der ersten Kirchensteuerzahlung schnellt die Austrittswahrscheinlichkeit nach oben. Angesichts dieser Erkenntnis überrascht es nicht, dass viele Verantwortliche beider Kirchen Ansatzpunkte bei jungen Menschen zu Beginn des Erwerbslebens sehen. Vor allem in der evangelischen Kirche wurde die Möglichkeit eines Kirchensteuerrabatts für junge Erwachsene breit und kontrovers diskutiert, letztlich aber verworfen.
Hintergrund dieser Überlegungen ist, dass dem Kirchenaustritt in der Regel eine kontaktlose Zeit zwischen Kirchenmitglied und Kirche vorausgeht. In einem längeren Entfremdungsprozess sind die meisten der positiven Beziehungen zur Kirche – wenn es sie denn im Leben überhaupt gab – verloren gegangen. Nun bedarf es für den Austritt nur noch eines bestimmten Anlasses, und dieser ist häufig die (erstmalige) Zahlung der Kirchensteuer. Die ‚ruhende‘ oder ‚passive‘ – den Autoren ist bewusst, dass diese Begriffe nur bedingt geeignet sind – Mitgliedschaft führt dann nämlich zu einem aktiv zu zahlenden Beitrag und damit zu Kosten, die in einer Abwägung für viele junge Menschen den Nutzen übersteigen. Da jedem Kirchenaustritt ein in höchstem Maße individualisierter Entscheidungsprozess vorausgeht, kann an dieser Stelle nur spekuliert werden, wie sich eine Abschaffung oder Reduzierung der Kirchensteuer auswirken würde.
Möglicherweise könnte ein Wegfall der Kirchensteuer einige Kirchenaustritte verhindern oder den Entschluss dazu verzögern. Schließlich würde es ohne Kirchensteuer für viele Menschen schlicht keinen Unterschied machen, ob die formale Kirchenmitgliedschaft fortgeführt wird oder nicht. Gleichzeitig ist es offensichtlich, dass gerade eine derartige ‚passive‘ Mitgliedschaft nicht zwingend mit religiöser Praxis einhergeht. Ob durch eine Abschaffung der Kirchensteuer auch der beobachtbare Rückgang an institutionalisierter Religiosität aufgehalten werden könnte, kann zumindest in Frage gestellt werden. Und: Falls die Kirchensteuer abgeschafft wäre, müsste sich die Kirche anders finanzieren. Vermutlich würde sie aktiv auf ihre Mitglieder zugehen und anderweitig um einen wie auch immer gearteten alternativen Beitrag bitten – was wiederum zu einer Beendigung der ‚passiven‘ Mitgliedschaft führen könnte.
Dies zeigt der Blick auf andere Länder und deren Finanzierung der Kirchen. Zwar nahm die christliche Bevölkerung in Europa zwischen 1910 und 2010 zu, der Anteil an der Gesamtbevölkerung ging jedoch von 95 auf 76 Prozent zurück, wie eine Studie des PEW Research Center ergab. Detlef Pollack und Gergely Rosta untersuchten anhand der European Values Study die Entwicklung der Religionszugehörigkeit in verschiedenen westeuropäischen Ländern und konnten zeigen, dass diese zwischen 1981 und 2008 rückläufig war. Bemerkenswerterweise lassen ihre länderspezifischen Ergebnisse keinen Zusammenhang zwischen Kirchenmitgliederentwicklung und Finanzierungsform erkennen. Nicht nur in Deutschland ist der Rückgang des Christentums festzustellen. Auch in Ländern ohne Kirchensteuersystem wie Belgien, wo sich die Religionsgemeinschaften vorwiegend aus staatlichen Leistungen und Spenden finanzieren, oder in Großbritannien bei der Church of England, die von Vermögenserträgen und Spenden lebt, ist die Zahl derer, die angegeben haben einer christlichen Kirche anzugehören, stark gesunken.
Bleibt festzuhalten: Ein Wegfall der Kirchensteuer würde vermutlich den Kirchenaustritt einiger, sich ihrer Mitgliedschaft nicht wirklich bewussten Kirchenmitglieder verhindern, die dann allerdings auch keinen Solidarbeitrag mehr leisten würden. Den Rückgang an institutionalisierter Religiosität, also die bewusste Kirchenmitgliedschaft, würde ein Wegfall vermutlich nicht aufhalten.