Читать книгу Lebendige Seelsorge 3/2021 - Verlag Echter - Страница 7
MYTHOS 2: OHNE KIRCHENSTEUER IST KEIN STAAT ZU MACHEN
ОглавлениеZu einer sachlichen Debatte gehört an dieser Stelle auch die Frage, welche finanziellen Auswirkungen für das Gemeinwesen eine Abschaffung der Kirchensteuer hätte. Regelmäßig wird von kirchlichen Verantwortungsträgern auf die vielen mit Kirchensteuern finanzierten Handlungsfelder hingewiesen, von denen auch die Gesamtgesellschaft erheblich profitiere. Und auch wenn manche Einrichtungen, wie zum Beispiel Kindergärten nur zu Teilen durch kirchliche Mittel und Eigenarbeit finanziert werden, so sei dies ohne Kirchensteuer nicht möglich. Der Staat selbst müsste in diesem Fall die Finanzierungslücke schließen und erhebliche zusätzliche Mittel einsetzen, so die Argumentation.
Bei einem Wegfall der Kirchensteuer würden die evangelische und katholische Kirche in Deutschland auf rund zwölf Milliarden Euro verzichten müssen: Einnahmen, die auch zur Förderung des Gemeinwesens eingesetzt werden. Hier ist insbesondere die diakonische bzw. caritative Arbeit der Kirchen als Träger von Kindertagesstätten, Sozialstationen, Seniorenheimen, Krankenhäusern und ähnlichen Einrichtungen zu nennen. Gemäß des im Grundgesetz verankerten Subsidiaritätsprinzips sollen soziale Aufgaben wenn möglich nicht durch den Staat selbst organisiert, sondern an freie Träger delegiert werden. Die Refinanzierung erfolgt dann durch staatliche Mittel. Die Kirchen – wie auch manche andere freie Träger – leisten aber zusätzlich eigene Finanzierungsanteile, die neben Zuschüssen aus Kirchensteuermitteln auch die kostenfreie Überlassung von Grundstücken und Gebäuden beinhalten kann. Dies wäre ohne Kirchensteuer in dieser Form nicht mehr leistbar.
Zur Wahrheit gehört allerdings ebenfalls, dass der Staat durch den Wegfall der Kirchensteuer mehr Einkommensteuern vereinnahmen würde: Die Kirchensteuer ist als Sonderausgabe bei der Einkommensteuerveranlagung abziehbar. Würde die Kirchensteuer wegfallen, müssten die bisher steuerzahlenden Kirchenmitglieder höhere Einkommensteuern abführen. Ausgehend von einer durchschnittlichen Kirchensteuerzahlung je kirchensteuerzahlendem Mitglied – das sind nur etwa die Hälfte aller Kirchenmitglieder – in Höhe von 500 Euro pro Jahr ergibt sich eine Einkommensteuerschuld von etwa 6.250 Euro. Damit wäre der weiteren Berechnung ein Grenzsteuersatz – also der Steuersatz mit dem die jeweils nächste Einheit der Steuerbemessungsgrundlage belastet wird – von etwa 32 Prozent zugrunde zu legen. Bei einem Wegfall der Kirchensteuer würde die Bemessungsgrundlage zur Berechnung der Einkommensteuer der steuerzahlenden Kirchenmitglieder um aktuell 12 Milliarden Euro höher ausfallen. Bei einem Grenzsteuersatz von 30 bis 35 Prozent entstünden nach dieser überschlägigen Berechnung für den Staat Mehreinnahmen aus der Einkommensteuer in Höhe von rund 4 Milliarden Euro.
Aber reichen diese 4 Milliarden Euro aus, um das Engagement der Kirchen zur Förderung des Gemeinwesens auszugleichen? Offensichtlich würde der Staat im Gegenzug die Gebühreneinnahmen aus der Kirchensteuererhebung verlieren, das sind je nach Bundesland zwischen 2 und 4 Prozent des Kirchensteueraufkommens. Aber wie hoch wären die staatlichen Mehrausgaben für bisherige subsidiäre Leistungen an die Kirchen? Welche kirchlichen Aktivitäten würden dem Gemeinwesen fehlen? Zur Beantwortung dieser Fragen müsste eine umfassende Analyse sämtlicher kirchlicher Haushalte mit ihren individuellen Schwerpunktsetzungen erfolgen. Dabei dürfen nicht lediglich die subsidiär mitfinanzierten Bereiche wie Diakonie und Caritas, Kindertagesstätten, Angebote für Kinder, (staatliche) Bildung und Religionsunterricht betrachtet werden. Mit den Kirchensteuereinnahmen werden beispielsweise auch das kulturelle Engagement der Kirchen, die Unterhaltung denkmalgeschützter und ortsbildprägender Gebäude sowie die Lebensbegleitung durch Seelsorgende in besonderen Situationen und vor Ort finanziert. Bei letzterer ist nicht nur an die institutionalisierten Einrichtungen der Telefon- und Notfallseelsorge, der Ehe-, Familien- und Lebensberatung oder an die individuelle Begleitung in Krisen oder bei Trauerfällen zu denken, sondern insbesondere auch an den durch Glauben und Kirche generierten ehrenamtlichen ‚Dienst am Nächsten‘ von vielen Gläubigen.
Kann dieses Engagement der Kirchen für Staat und Gesellschaft in Geld bemessen werden? Und wenn ja, wie hoch ist der Nutzen? Was, wenn dieses Engagement wegfiele? Die Kirchen müssen sich fragen, ob das nicht immer auf den ersten Blick sichtbare kirchliche Engagement von der Gesellschaft umfassend wahrgenommen wird und wie es gelingen kann, dieses Wahrnehmungsdefizit zu verringern.