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Kapitel 5

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Jerusalem, 1985

Das Taxi hielt direkt vor dem Hotel Gloria am Jaffator, dessen Name von der Straße herrührte, die zur gleichnamigen Stadt führte, und das zu Zeiten der Kreuzritter den Namen Davidstor getragen hatte.

Drei Männer zwischen dreißig und fünfunddreißig Jahren stiegen aus. Unterschiedlicher konnten sie nicht aussehen. Andreas, der Größte unter ihnen, war die auffälligste Erscheinung. Hochgewachsen und schlank, mit schwarzem, welligem Haar, überragte er seine Begleiter fast um eine ganze Kopflänge. Der Kleinste und Kräftigste, Friedrich, hatte weiche, fast weibliche Gesichtszüge, war blond und trug ein Oberlippenbärtchen. Benedikt, der dritte Mann, hatte militärisch knapp gestutztes Haar und wirkte sportlich und durchtrainiert. Sie betraten die angenehm temperierte Hotellobby, die in einem Gewölbe untergebracht war.

Hier, in dieser geschichtsträchtigen Stadt, in der sich die Kulturen der Antike und der Moderne treffen, sollte ihre dreitägige Pilgerreise beginnen, die sie lange geplant und nun endlich in Angriff genommen hatten. Den Tag ihrer Ankunft wollten sie für einen Bummel durch das christliche und das muslimische Viertel der historischen Altstadt nutzen.

Nachdem sie sich frischgemacht, bequemes Schuhwerk und leichte Sachen angezogen hatten, machten sie sich auf den Weg. Ihr Ziel war der Tempelberg, der nicht mehr als zwanzig Minuten Gehzeit entfernt lag. Andreas schob sich eine Sonnenbrille in seine Haare und hängte sich eine Schultertasche um, in der er drei kleine Flaschen Mineralwasser und eine Kamera verstaut hatte.

Sie bogen in die Omar-Ben-el-Hatab-Straße ein, die, wie üblich um diese Uhrzeit, von Hunderten Touristen bevölkert wurde. Das hellgraue Pflaster und die fast weißen Fassaden der Häuser, aus dem Jerusalemer Kalkstein Meleke errichtet, reflektierten das Licht, sodass Andreas und seine Begleiter gezwungen waren, ihre Sonnenbrillen aufzusetzen. Die Straße mündete in die berühmte Davidstraße, eine schmale Gasse, in der sich Massen von Menschen aneinander vorbeischoben. Hier begann der arabische Basar, der Suq, ein Labyrinth aus verzweigten Gassen, Stiegen und Passagen, von denen viele mit Steingewölben überdacht waren. Von Zeit zu Zeit wurde der Strom der Touristen unterbrochen, sobald eine Gruppe vor einem der unzähligen Geschäfte stehenblieb, mit ausgestreckten Fingern auf die bunten Auslagen wies und sofort von einem geschäftstüchtigen Ladenbesitzer mit einem Schwall der Überredungskunst zum Kauf angehalten wurde. Auch die drei Männer ließen ihre Blicke neugierig umherschweifen und lugten durch die geöffneten Türen der vielen Läden, Kaffeebars und Restaurants.

Mittlerweile hatte Andreas seine Kamera aus der Tasche genommen, um die vielfältigen Eindrücke auf Polaroid zu bannen. Gemächlich schlenderten sie im Pulk der Massen weiter, bis die ebene Gasse in Stufen überging, deren rechteckige Steine im Laufe der Jahrhunderte durch Millionen Füße blank gescheuert worden waren. Eine faszinierende Mischung aus Gerüchen, Geräuschen und bunten Eindrücken überwältigte Andreas und seine beiden Begleiter. Sie bogen links in die Muristan-Straße ein und befanden sich wenige Schritte weiter in dem von Kreuzfahrern angelegten ältesten Teil des historischen Zentrums, im Suq el Lahhamin, der »Straße der Metzger«. Die mittelalterlichen Stände und winzig kleinen Restaurants übten eine Faszination aus, der sich die drei Männer nur schwer entziehen konnten.

Doch Andreas, der wie selbstverständlich die Führung übernommen hatte, lotste sie mit einer Karte in der Hand auf die Davidstraße zurück. Auch hier zwängten sich die Läden und Gewölbe oftmals nur in Nischen oder schmale Alkoven in den Mauern der eng zusammengedrängten Häuser. Neben Lebensmitteln, vor allem das Obst wurde in verschwenderischer Pracht und beeindruckenden Aufbauten zur Schau gestellt, wurden vor allem Lederwaren, Kleidung, Teppiche und Keramik angeboten.

Sie hätten noch Stunden hier verbringen können, aber sie hatten ein klares Ziel vor Augen. Am Ende der schmalen Gasse stiegen sie eine Eisenleiter hinauf, die auf eine Plattform über den Dächern führte. Sobald sie oben angelangt waren, bot sich ihnen ein überwältigender Anblick. Vor ihnen erstreckte sich der Tempelberg, ein künstlich angelegtes Plateau, in dessen Mitte sich die riesige, goldene Kuppel des Felsendoms erhob. Daneben lag die al-Aqsa-Moschee.

Für einen Moment schwiegen sie andächtig, dann holte Andreas einen kleinen Reiseführer aus seiner Tasche und verteilte die Flaschen mit dem Mineralwasser an seine Freunde.

»Ich habe das Wichtigste markiert, keine Sorge, es wird keine Vorlesung«, meinte er lächelnd und trank einen Schluck. »Ich werde mich auf das Wesentliche beschränken«, versprach er und begann laut vorzulesen.

»Vom ursprünglichen Tempel ist heute nur noch die westliche Stützmauer, die sogenannte Klagemauer, erhalten. Nach der Eroberung Jerusalems wurde am Ort der heutigen al-Aqsa-Moschee das erste Moscheegebäude aus Holz errichtet. Von der christlichen Belagerung Jerusalems im Jahr 1099 bis zu ihrer Niederlage 1187 war der Tempelberg im Besitz der Kreuzfahrer, die den Felsendom ›Templum Domini‹ nannten und in ihm eine Kapelle einrichteten. In der al-Aqsa-Moschee befand sich der Hauptsitz des Templerordens. Der König von Jerusalem, Balduin II., überließ den Templern im Jahre 1119 die Gebäude seines ehemaligen Palastes auf dem Tempelberg. Der Orden nannte sich daraufhin ›Pauperes commilitones Christi templique Salomonici Hierosalemitanis‹, was, wie ihr wisst, nichts anderes als ›Arme Ritter Christi und des Tempels von Salomon zu Jerusalem‹ bedeutet, woraus sich dann die heute üblichen Bezeichnungen Tempelritter, Templer und Templerorden ableiten.«

Zufrieden klappte Andreas das schmale Büchlein wieder zu. »Obwohl ich euch nichts Neues vorgelesen habe, fand ich es jetzt gerade passend. Erhebend, oder nicht?« Bestätigend nickten Friedrich und Benedikt. »So, liebe Freunde. Auf geht’s!« Er wies mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf den Tempelberg. »Da liegt unser Ziel.«

Keiner der drei bemerkte die Gestalt, die ihnen unauffällig folgte.

Auch viel später, als sich die Männer bereits auf dem Rückweg befanden, folgte ihnen der Schatten. Geschickt hielt er sich im Verborgenen und nutzte die vielen Nischen und Winkel, um ihnen unerkannt zu folgen. Er behielt sie im Auge und wartete geduldig, bis sie nach einer Stunde aus dem dunklen Innern der Grabeskirche erschöpft wieder ins gleißend helle Sonnenlicht traten. Sie beschlossen, in einem Restaurant, das man ihnen empfohlen hatte, eine Kleinigkeit zu essen. Nicht mehr als eine leichte Mahlzeit, denn es war trotz der späten Nachmittagsstunde noch immer drückend heiß. Das Lokal lag in einer schmalen Seitengasse unmittelbar neben der Davidstraße und empfing sie mit einem köstlichen Duft von Gebratenem, Knoblauch und Gewürzen. Hungrig und voller Vorfreude betraten sie den kleinen Raum, nahmen an einem der wenigen Tische Platz und vertieften sich in die Speisekarte. Noch immer hatten sie keine Ahnung von dem huschenden Schatten, der gerade in einem gegenüberliegenden Café verschwunden war und von dort aus den Eingang des Restaurants mit Argusaugen überwachte.

Während Andreas und seine beiden Begleiter aßen, sprachen sie über die schier überwältigenden Sinneseindrücke. Sie waren sich darüber einig, dass sie sich als unauslöschliche Erinnerung in ihr Gedächtnis prägen würden und eine wertvolle Bereicherung für ihr Leben darstellten, obwohl sie den eigentlichen Zweck ihrer Reise, das Pilgern, noch gar nicht erfüllt hatten. Eine Wallfahrt nach Jerusalem bedeutete für Christen eine Reise zum Ursprung des Christentums. Die Stätten, an denen Jesus gepredigt, gewirkt und das Abendmahl gefeiert hatte und wo er gestorben war, waren das Ziel jeden Pilgers. Auch der Kreuzweg Jesu, die Via Dolorosa, wurde bis zu der Kreuzigungsstätte auf dem Felsen Golgatha abgeschritten.

Doch mit einem Mal wurde die Miene von Andreas ernst. Er legte das Besteck auf den Teller und sah seine Freunde eindringlich an: »Ich werde mich noch heute Nacht mit dem Mittelsmann treffen, um ihm die Dokumente zu übergeben.« Seine Stimme klang fest und entschlossen.

Die beiden anderen sahen sich schweigend an.

»Willst du es dir nicht doch noch überlegen, Andreas?«, warf schließlich Friedrich, der älteste der drei Männer, ein. »Die Sache kann gefährlich werden.«

»Dessen bin ich mir absolut bewusst. Aus diesem Grund nehme ich das Risiko auch allein auf mich. Aber die Papiere zu übergeben, ist zwingend notwendig. Ihr seid doch derselben Meinung?!«

Zögernd nickte der kleine, kräftige Mann mit dem blonden Oberlippenbärtchen. Benedikt hingegen kniff die Lippen zusammen und zog zweifelnd die Stirn in Falten.

»Es wird nicht lange dauern, höchstens eine Stunde, dann bin ich wieder da. Ihr braucht euch keine Sorgen zu machen«, beendete Andreas das Gespräch. Sein Entschluss stand fest.

Es war bereits nach Mitternacht, als er das Hotel verließ. Er rief ein Taxi herbei und nannte dem Fahrer die Adresse. Die Fahrt dauerte länger, als er angenommen hatte.

»Ist es noch sehr weit?«, fragte er den Fahrer auf Englisch. »Ich habe in fünf Minuten eine Verabredung. Ich hätte nicht gedacht, dass es so lange dauert. Es sind doch nur zwölf Kilometer.«

»Nein, wir sind gleich da«, antwortete der Mann und lenkte den Wagen um eine Ecke. Ein wenig wunderte sich Andreas schon, dass die Gegend, durch die sie gerade fuhren, noch immer vom Sechs-Tage-Krieg gezeichnet war, obwohl der schon fast zwanzig Jahre zurücklag. Sie fuhren an Ruinen vorbei, deren Umrisse bizarr in den Nachthimmel ragten. Dazwischen standen verlassene Häuser ohne Scheiben, deren Fenster wie schwarze, leblose Augen die Fassaden durchbrachen. Nur eine einzige Laterne beleuchtete die trostlose Straße, in die sie gerade einbogen. Beklommen sah Andreas sich um. Hier stimmte etwas nicht! Doch bevor er den Mund aufmachen konnte, um den Fahrer erneut zu fragen, hielt der Wagen mit einem Ruck an. Blitzschnell drehte der Chauffeur sich um und richtete eine Pistole auf ihn. Verblüfft starrte Andreas in den offenen Lauf der Schusswaffe. Noch bevor er einen klaren Gedanken fassen konnte, traf ihn der tödliche Schuss mitten in die Stirn.

Der Taxifahrer stieg aus und öffnete die Tür zum Fond. Er riss die Tasche an sich, die neben seinem Fahrgast auf dem Rücksitz lag, zog die Papiere heraus und blätterte sie durch. Er hatte, was er wollte. Nein, noch nicht ganz, noch fehlte etwas!

Er zerrte den Toten aus dem Auto und schleppte ihn zu einer verlassenen Ruine. Dann machte er sich an sein blutiges Werk. Mit einem langen Messer öffnete er den Brustkorb, bis das Herz dunkelrot und glänzend vor ihm lag. Sorgfältig schnitt er es heraus, trug es zum Taxi und legte es in eine Schachtel im Kofferraum. Anschließend reinigte er sich die Hände mit einem in Essig getränkten Lappen, setzte sich in sein Auto und fuhr davon. Ein zufriedenes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, als er daran dachte, dass ihm der anerkennende Dank der Assoziierten gewiss war, sobald er die für sie überaus wichtigen Dokumente und das Herz eines Feindes übergeben hatte.

Blutiges Erbe in Dresden

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