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Kapitel 4

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Ihre Türglocke schellte. Maria hörte die von knisternden Geräuschen untermalte Stimme von Desmond Petermann in der Gegensprechanlage und betätigte den Türsummer. Dann öffnete sie die Tür einen Spaltbreit und eilte ins Badezimmer zurück, um noch ein paar Spritzer Parfum auf Hals und Haar zu verteilen und ihrem Spiegelbild einen allerletzten prüfenden Blick zuzuwerfen. Gut, nickte sie sich zu, passte alles. Dann hörte sie auch schon seine Schritte im Flur. Mit seiner eindrucksvollen körperlichen Präsenz – hochgewachsen, weit über einen Meter neunzig groß, mit einem Gesicht wie aus Granit gemeißelt – schien er den lächerlich kleinen Raum zu sprengen. Er beugte sich zu ihr hinab und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange.

»Hm, du duftest gut«, sagte er lächelnd und hielt sie ein Stück von sich weg. »Neu?«

Sie nickte. »Nimmst du mich so mit?«, fragte Maria, machte sich sachte los und drehte sich einmal um die eigene Achse.

»Solange du nicht wieder eine Sondervorstellung im Canadian gibst, ist das so in Ordnung«, erwiderte er und seine stahlblauen Augen blitzten amüsiert auf.

»Dann schmierst du den Kellner wieder mit einem Mordstrinkgeld«, konterte sie schlagfertig und spielte damit auf einen gemeinsamen Restaurantbesuch an, bei dem sie zu viel getrunken und deshalb bald die Beherrschung verloren hatte. Doch gleichzeitig spürte sie den leichten Stich der Enttäuschung wegen des ausgebliebenen Kompliments. Sie war am späten Freitagnachmittag doch noch in die Stadt gefahren, hatte sich in einer italienischen Restaurantkette mit einer gigantischen Pizza und einem Glas Rotwein gestärkt und sich dann in das übliche Gewühl der Kaufwütigen gestürzt. Trotz ihrer Befürchtungen, lange suchen zu müssen, war sie relativ schnell fündig geworden. Das graue, eng geschnittene Kleid hatte ihr bereits auf dem Bügel außerordentlich gut gefallen. Dazu passend hatte sie sündhaft teure, schwarze Pumps mit hohen Absätzen erstanden, denen sie nicht hatte widerstehen können.

»Du siehst toll aus«, sagte Dess anerkennend.

Doch so richtig konnte Maria sich nicht mehr freuen. Sie nahm an, dass er ihr die Enttäuschung am Gesicht abgelesen und das Kompliment schnell nachgeschoben hatte, um sie bei Laune zu halten.

»Ich habe einen Tisch um halb acht reserviert. Bist du so weit?«

Sie nickte, griff nach ihrer Handtasche, stopfte das Handy und das kleine Schminktäschchen hinein und zog sich einen kurzen Sommermantel über.

Das Edelrestaurant lag auf der anderen Elbseite, im Stadtteil Weißer Hirsch. Sie kamen gut durch, denn der Verkehr war am Samstagabend deutlich schwächer als in der Woche. Fünf Minuten vor der Zeit waren sie da.

Das Canadian war trotz der relativ frühen Stunde voll besetzt. Sie waren offenbar nicht die Einzigen, die die neue Speisekarte gereizt hatte und die ihren Gaumen mit kulinarischen Köstlichkeiten verwöhnen lassen wollten.

Während sie an ihren Tisch gebracht wurden, ließ Maria ihre Blicke schweifen. Das gleiche Publikum wie üblich, gut angezogen, die Damen zurechtgemacht und die Herren frisch rasiert, saß an weiß gedeckten Tischen und unterhielt sich in gedämpfter Lautstärke. Innerlich schmunzelnd dachte sie an ihren ersten gemeinsamen Besuch des Restaurants. Alkoholisiert und unpassend gekleidet hatte sie vor Vergnügen die Hände krachend auf den Tisch geschlagen, als Dess ihr die kuriosen Vornamen seiner Geschwister offenbart hatte. Das auf Hochglanz polierte Besteck war klirrend über den Tisch gehüpft und die langstieligen Gläser hatten bedrohlich geschwankt. An diesem legendären Abend war ihr Lachen wie eine Bombe in diese distinguierte Atmosphäre eingeschlagen. Empört hatte man sie angesehen und unmissverständlich die Köpfe geschüttelt. Doch das wahrscheinlich Allerschlimmste war gewesen, dass sie sich die Missbilligung des Oberkellners zugezogen und es sich vermutlich bis in alle Ewigkeit mit ihm verdorben hatte. Nur dem Umstand, die Begleiterin von Dr. Desmond Petermann zu sein, hatte sie es zu verdanken gehabt, nicht umgehend hinauskomplimentiert worden zu sein. Im Nachhinein schämte Maria sich für ihr Auftreten, aber mein Gott, sie war eben auch nur ein Mensch. Sie hatte sich nicht unter Kontrolle gehabt, der angestaute berufliche und private Druck hatte sich mit einem Mal entladen.

Als sie sich an ihren Tisch gesetzt hatten, nahm Dess ihre Hände und lächelte sie an.

»Ich freue mich auf diesen Abend, Maria. Und ich bin sehr gespannt auf das Essen.«

Bevor Maria etwas erwidern konnte, erschien die Bedienung mit einem kleinen Tablett, auf dem sie zwei Champagnergläser balancierte.

»Guten Abend, Herr Dr. Petermann«, flötete sie und stellte die Gläser auf den Tisch, »schön, Sie wieder hier begrüßen zu dürfen.« Und mit einem kühleren Blick auf Maria: »Guten Abend.«

Sie setzte die Gläser ab. »Ich bringe Ihnen sofort die Speisekarte. Herr Wiegand wird Sie dann beraten«, zwitscherte sie und verschwand wieder.

»Mein spezieller Freund kommt gleich«, grinste Maria, rollte mit den Augen und erhob ihr Glas. »Zum Wohl, Dess, und danke für die Einladung.« Sie tranken jeder einen Schluck. »Mhm, herrlich.« Sie stellte das Glas auf den Tisch zurück. »Mach dir keine Sorgen, ich werde ganz brav sein.«

»Ich mache mir keine Sorgen, Maria. Schöne Frauen dürfen sich fast alles erlauben. Außerdem«, er klopfte auf die Brusttasche seines Jacketts und beugte sich verschwörerisch zu ihr, »habe ich genug Geld dabei, um ihnen das Maul zu stopfen.«

»Droh ihnen doch einfach mit einer Vivisektion, ist bestimmt auch sehr wirkungsvoll.«

Desmond Petermann warf den Kopf in den Nacken und lachte wiehernd wie ein Pferd. Wie immer betrachtete Maria verwundert dieses Schauspiel.

Die Speisekarten wurden gereicht. Sogleich vertiefte sich Dess darin, machte »Ah«, »Oh« und »Mhm«. Maria hatte keine Lust, sich etwas auszusuchen. Sie überließ ihm gern die Entscheidung. Bei ihren bisher zwei gemeinsamen Besuchen im Canadian hatte er mit seiner Auswahl stets richtig gelegen. Stattdessen sah sie sich ein wenig um und beobachtete die Gäste. Am Nebentisch saß ein älterer Herr mit Halbglatze und Vollbart. Unter dem dunkelblauen, geöffneten Jackett wölbte sich der Bauch, der ihm schlaff über die Hose hing. Er hatte seine Bestellung offenbar schon aufgegeben, denn auch er ließ seinen Blick durch den Raum wandern. Für einen kurzen Augenblick schauten sie sich an, dann hob er sein Glas und leerte es in einem Zug. Maria sah, dass er eine Flasche Weißwein geordert hatte, die in einem Kühler neben seinem Tisch stand. Entweder erwarte er noch eine weitere Person oder er war ein solider Trinker, mutmaßte sie. Schräg gegenüber saß ein Pärchen, er dunkelhaarig und im Anzug, sie blond und stark geschminkt. Unablässig klapperte sie mit den viel zu blauen Lidern und lauschte scheinbar aufmerksam seinen Ausführungen. Auch das Rouge auf ihren Wangen leuchtete unnatürlich rot.

Herr Wiegand, der Oberkellner, kam angerauscht und servierte dem einsamen Gast direkt neben ihnen die Vorspeise. Er war also tatsächlich alleine hier, folgerte Maria, als der Mann nach seinem Besteck griff.

Desmond legte die Speisekarte zur Seite, was den Oberkellner dazu veranlasste, an ihren Tisch zu treten, um ihre Bestellung entgegenzunehmen. Würdevoll hob er an, als sein Gesicht zu einer Maske gefror. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er in den über Maria und Desmond hängenden Spiegel. Maria wollte gerade seinem Blick folgen, um zu sehen, was ihn so aus der Fassung gebracht hatte, als nacheinander mehrere Schüsse gellten. Sie riss den Kopf herum. Ein maskierter, komplett schwarz gekleideter Mann stand mit erhobener Waffe vor dem Tisch des einzelnen Gastes. Den Bruchteil einer Sekunde später brach ein Tumult los. Einige der Gäste schrien durcheinander oder sprangen von ihren Stühlen auf, sodass diese laut zu Boden polterten, manche versteckten sich schutzsuchend unter ihrem Tisch, andere rannten in Panik dem Ausgang entgegen. Der Maskierte hob die Waffe hoch in die Luft und feuerte einen Warnschuss ab. Erneute Schreie, Deckenputz rieselte von oben herab und die Flüchtenden erstarrten in ihrer Bewegung. Dann drehte sich der Schütze auf dem Absatz um und rannte davon. Maria sprang auf, stieß den Oberkellner zur Seite und folgte dem Mann, der mittlerweile das Lokal verlassen hatte. Sie riss die Eingangstür auf, sah erst nach rechts, dann nach links. Nichts, der Täter war wie vom Erdboden verschluckt. Sie ging ins Restaurant zurück.

»Polizei!«, rief sie laut. »Begeben Sie sich bitte wieder auf Ihre Plätze! Niemand verlässt das Restaurant.« Der völlig verschreckten und hemmungslos weinenden Angestellten hinter der Bar gab sie die Anweisung, die Eingangstür zu verschließen.

Danach eilte sie zurück. Dess hatte sich über den Angeschossenen gebeugt und fühlte den Puls, während Herr Wiegand sich auf ihren Stuhl gesetzt hatte und fassungslos die Szene beobachtete.

Als Maria näher herantrat, bemerkte sie, dass der Gast mit dem Gesicht auf seinem Vorspeisenteller lag. Eine Hummerschere lugte unter seiner Wange hervor. Das Blut des Hingerichteten tropfte langsam auf die weiße Tischdecke. Sie trat neben ihn und hob vorsichtig seinen Kopf ein Stück nach oben. Auf seiner Stirn prangte ein Einschussloch. Ihr Blick glitt tiefer. Weitere Kugeln hatten sein weißes Hemd zerfetzt und blutige Krater hinterlassen. Dess sah auf und schüttelte den Kopf. Dieser Mann war mausetot, genauso wie der Hummer auf seinem Teller. Sie griff in die Innentasche seines Jacketts, in der sie eine Brieftasche vermutete, und wurde tatsächlich fündig.

Maria rief ihre Kollegen, die kurze Zeit später anrückten. Der Polizeifotograf schoss Fotos vom Tatort, der mit einem Band abgesperrt worden war. Alle Gäste wurden in einen kleinen Raum nebenan gescheucht. Dort wurden zwei Tische freigeräumt, an denen Beamte die Personalien der Gäste aufnahmen und sie zum Tathergang befragten. Fast alle Augenzeugen standen noch unter Schock, gaben aber bereitwillig Auskunft. Nur der dunkelhaarige Mann, der in Begleitung der überschminkten Blondine gekommen war, weigerte sich mit Verweis auf seine Privatsphäre lautstark und vehement, Angaben zu seiner Person zu machen. Maria, die den Vorfall mitbekommen hatte, vermutete eine Ehefrau im Hintergrund. Sie versicherte ihm, dass niemand, bei diesem Wort zog sie bedeutungsvoll die Augenbrauen hoch, über seinen Restaurantbesuch informiert werden würde. Sollte er sich nicht kooperativ verhalten, würde sie ihn allerdings bei sich zu Hause vernehmen. Der Mann lief puterrot an, als er den Wink verstand, und gab schließlich Name und Adresse zu Protokoll.

Zwischenzeitlich wurde der Tote abtransportiert und in die Rechtsmedizin gebracht. Die Männer von der Spurensicherung markierten kleine und größere Gegenstände, verteilten Nummernaufsteller und fotografierten alles.

Der kreidebleiche Restaurantchef, der mittlerweile aufgetaucht war, rang sichtlich um Fassung und rieb sich unablässig das Kinn. Zusammen mit Dess und ihm hatte Maria sich ein wenig abseits vom Tatort an einen kleinen Tisch gesetzt.

»Kannten Sie das Opfer, Herr Stegmann?«, fragte sie und sah Oberkellner Wiegand an ihnen vorbeischleichen, der ihr einen undefinierbaren Blick zuwarf. Wahrscheinlich war ihm gerade klar geworden, dass nun sie, die Polizistin, ihm die Autorität streitig gemacht und das Kommando über sein Reich übernommen hatte.

Der Befragte schüttelte den Kopf, was Maria aber nicht weiter erstaunte, denn der Ermordete, er hieß Guido Brunner, war Schweizer, wie sie in seinen Papieren festgestellt hatte.

»Könnten Sie bitte anhand der Kreditkartenzahlungen abklären, ob Herr Brunner schon einmal Gast in Ihrem Haus war?«

»Selbstverständlich, das ist kein Problem. Von welchem Zeitraum sprechen Sie?«

»Ich würde sagen, die letzten drei Jahre.«

»Das wird natürlich ein bisschen dauern. Aber ich gebe Ihnen so schnell wie möglich Bescheid, sollte die Buchhaltung einen entsprechenden Hinweis finden.«

»Vielen Dank, Herr Stegmann, Das wäre es fürs Erste.« Maria erhob sich.

»Ich …, was soll ich denn jetzt mit den Gästen machen? Ich meine, wie lange sind Ihre Leute denn noch da?«

»Das Ganze wird noch ein bisschen dauern. Für heute müssen Sie Ihren Betrieb wohl schließen.«

Zweifelnd sah der Restaurantbesitzer Maria an.

»Ich glaube, das Beste wird sein, wenn ich alle Gäste für später zu einem kostenlosen Essen einlade«, sagte er mehr zu sich selbst als zu ihnen und ging in den Raum nebenan, um diese Botschaft zu verkünden. Wenige Minuten später hörten sie zustimmendes Gemurmel.

Maria und Dess verließen das Canadian.

»Und nun?«, fragte er, als sie wieder in seinem BMW saßen. »Musst du ins Präsidium?«

»Tja, das muss ich wohl. Ich kann mir ein Taxi nehmen.«

»Rede keinen Unsinn. Ich bringe dich selbstverständlich hin. Wie lange wird es dauern?«

»Mindestens zwei Stunden, schätze ich. Wenn die Maschinerie sich erst mal in Gang setzt, kann es sich hinziehen.«

»Ruf mich an, wenn ich dich abholen soll. In der Zwischenzeit bereite ich bei mir was zu essen vor.«

»Ich weiß nicht, ob das wirklich eine so gute Idee ist, Dess. Ich muss doch morgen wieder früh raus. Das Wochenende ist gestrichen.«

»Wir essen zusammen und dann legst du dich gleich ins Bett. Und morgen früh kriegst du ein erstklassiges Frühstück von mir serviert. Na, was sagst du?«

Sie seufzte. »Also gut, einverstanden. Ich bin käuflich, wie du weißt. Für ein gutes Essen tue ich fast alles. Halte aber bitte vorher noch am Albertplatz, ich brauche jetzt auch schon einen Snack. Wer weiß, wie lange es dauert.«

Und tatsächlich vergingen drei Stunden, bis Desmond Petermann Maria abholen konnte. Erschöpft warf sie sich auf den Beifahrersitz und schlief schon während der Fahrt ein. Zwanzig Minuten später erreichten sie in Radebeul die würfelförmige Villa im Bauhausstil, die sich deutlich von der überwiegend historischen Architektur des Viertels abhob. Sie fuhren in die Tiefgarage und betraten über eine Treppe die große, helle Diele, die direkt in ein riesiges Wohnzimmer mit bodentiefen Fenstern führte. Desmond schaltete die Außenbeleuchtung ein. Zu dieser Jahreszeit war der Blick auf den Garten noch nicht ganz so spektakulär wie im Sommer, wenn alle Rosensorten in verschwenderischer Pracht und Farbvielfalt blühten. Maria erinnerte sich noch sehr genau an den Spätsommerabend, an dem sie auf der Terrasse gesessen und mit ihrem ekelhaften Zigarettenqualm die süße, von Rosenduft geschwängerte Luft verpestet hatte. Aber auch dieses Laster gehörte zu ihrem alten Leben, das sie mit so viel Mühe und Not hinter sich zu lassen versuchte. Schnell wischte sie die Gedanken daran beiseite, zog sich die neuen Schuhe aus, die noch ziemlich drückten, und ließ sich aufs Sofa plumpsen. Gerne hätte sie die Beine unter sich hochgezogen, aber das ging wegen des engen Kleides nicht.

»Sag mal, hast du was Bequemes zum Anziehen für mich?«

»Moment, ich mache gerade den Cremant auf«, rief er aus der Küche. Maria hörte das Ploppen des Korkens. Dann kam er aus der Küche und drückte ihr ein Glas in die Hand.

»Ich habe einen Jogginganzug, der wird aber viel zu groß für dich sein. Komm mit, du kannst dich gleich im Bad oben umziehen.«

Sie folgte ihm in sein Schlafzimmer, wo er fluchend auf dem Boden des Kleiderschranks herumzuwühlen begann.

»Ha, wer sagt’s denn«, rief er triumphierend, stand auf und hielt ihr ein dunkelblaues Stoffpaket entgegen. Mit einem misstrauischen Blick griff sie danach und ging ins Bad. »Passt er?«, rief Dess kurz darauf von draußen.

»Perfekt«, gab sie zur Antwort und öffnete die Tür. »Voilà, die neueste Création aus dem Hause Chanel«, sprach Maria mit affektiertem französischen Akzent. »Besticht durch ihre ungewöhnliche Farbe und den großzügigen Schnitt, welcher der Trägerin viel Bewegungsfreiheit lässt.«

Sie lachten beide laut auf.

»Eigentlich müsste ich ein Foto machen«, überlegte Dess, als sie wieder im Wohnzimmer waren und streckte die Hand nach seinem Handy aus, das er auf den Tisch gelegt hatte.

»Versuch es und du bist tot!«, drohte Maria.

»Was ist denn nun mit dem Essen? Ich habe Hunger.«

Schmunzelnd verschwand er wieder in der Küche und endlich konnte sie die Füße hochlegen und sich auf dem Sofa ausstrecken. Träge griff sie nach einem wissenschaftlichen Magazin, das auf dem Glastisch lag und blätterte lustlos darin herum, bis sie an einem interessanten Artikel hängenblieb. Sie war so in ihre Lektüre vertieft, dass sie hochschreckte, als Dess mit einer großen Salatschüssel in der Hand plötzlich neben ihr stand.

»Wir können anfangen.«

Maria rappelte sich hoch und folgte ihm zu dem langen Esstisch im hinteren Teil des Wohnzimmers. Jetzt erst roch sie den verführerischen Duft von gebratenem Fleisch.

»Riecht gut, was gibt es denn Schönes?«, wollte sie wissen.

»Nichts Besonderes. Ich hatte noch Filetsteak da und habe Salat dazu geschnippelt, ein bisschen Brot und Knoblauchbutter, das ist alles.«

Das Fleisch war medium rare gebraten, genau so, wie Maria es mochte. Begeistert schnitt sie ein Stück nach dem anderen ab, spießte zwischendurch die Gabel in den knackigen Salat, riss Brot in kleine Stücke und verteilte die Knoblauchbutter darauf.

»Es ist ausgezeichnet, Dess«, nuschelte sie kauend, »auch der Wein, große Klasse.«

»Freut mich, dass es dir schmeckt«, antwortete er. Nach einer kurzen Pause sagte er: »Ich habe eine Bitte, Maria.«

Ach du Schande, was kommt jetzt?

»Ich würde gerne mit dir über den Fall reden, natürlich nur, wenn du Lust hast.«

Sie hatte ihm, nachdem sie Gerd Wechter erschossen hatte, in einem langen Gespräch von ihrer gemeinsamen Methode erzählt, sich an einen Fall heranzutasten. Wie hilfreich das gewesen war, weil sich sehr oft herausgestellt hatte, dass die ersten Eindrücke die wichtigsten waren, und weil sich frühe Vermutungen oder Theorien nicht selten später als wahr herausgestellt hatten.

Aber würde das mit Desmond genauso gut gelingen? Mit jemandem, der sich zwar mit Mord und Totschlag auskannte, der aber kein Ermittler war?

Unbestritten war Desmond Petermann ein Experte darin, durch systematische Analysen und gründliche Autopsien die wahrscheinliche Todesursache zu bestimmen. Aber hatte er auch das nötige kriminalistische Gespür? Konnte er verstehen, dass nicht nur der Tatort, sondern auch das Opfer mit leiser, raunender Stimme zu ihr sprach und manchmal eine ganz andere Geschichte erzählte, als es die offenkundige Beweislage tat?

Aber ein Versuch schadet nicht.

»Von welchem Fall sprichst du denn?«, fragte sie zurückhaltend. »Wir haben zwei Mordfälle. Und die innerhalb kürzester Zeit.«

»Glaubst du, dass sie zusammenhängen?«

Maria stieß die Luft aus und ließ sich zurück gegen die Lehne fallen.

»Ein Antiquitätenhändler, den man erst gequält, dann mit einer Garotte umgebracht und dem man anschließend ein Stück Haut am Nacken herausgeschnitten hat. Und ein Schweizer, von dem wir überhaupt noch nichts wissen, außer, dass er nach Dresden gereist ist und gestern im Taschenbergpalais eingecheckt hat, wo er ein Zimmer für eine Woche gebucht hatte. Das Hotelzimmer wurde bereits von der Spusi untersucht, die Ergebnisse werde ich erst kommende Woche, hoffentlich schon am Montag, bekommen. Aber die Kollegen haben auf den ersten Blick nichts Ungewöhnliches gefunden, nur ein paar Kleidungsstücke im Schrank und die üblichen Hygieneartikel im Bad.«

»Was war das heutige Opfer denn von Beruf?«, unterbrach Dess ihre Ausführungen.

»Sein Name war Guido Brunner und er war Syndikus bei einer Stiftung«, antwortete sie. »Die Kollegen werden in Zürich noch recherchieren, ob er beruflich oder als Tourist in Dresden war. Aber am Wochenende… du weißt ja.«

»Ich kenne zwar den Begriff Syndikus und weiß, dass er eine juristische Bedeutung hat. Aber was genau ein Syndikus macht, ist mir nicht klar.«

»Ich musste mich auch erst belesen«, entgegnete Maria. »Im Prinzip ist er ein Rechtsanwalt, der bei einem Unternehmen, einem Verband oder eben auch bei einer Stiftung angestellt ist. Wenn ich es richtig verstanden habe, ist er ein Berater für arbeitsrechtliche und vertragliche Angelegenheiten.«

»Verstehe. Siehst du einen Zusammenhang? Ich meine, zwischen dem Antiquitätenhändler und dem Juristen?«

»Der einzige Zusammenhang, den ich momentan erkennen kann, ist der, dass jeweils ein Haufen Arbeit auf uns zukommt. Im Mordfall Bernhard Molberg müssen wir seinen Sohn Alexander genauer unter die Lupe nehmen und als Erstes mit dem Notar sprechen, ob ein Testament hinterlegt wurde und, falls dem so ist, ob es kürzlich Änderungen gab. Mir gefällt dieses Bürschchen nicht, ich kann aber nicht genau sagen, warum. Nur so ein Gefühl.« Maria trank das Glas mit dem Rotwein leer. »Gibst du mir noch einen Schluck, Dess?«

»Natürlich, wir sind ja nicht im Canadian und Oberkellner Wiegand kommt heute auch nicht mehr an unseren Tisch. Seine Miene, als du mit dem Restaurantchef gesprochen hast, war nicht mit Gold aufzuwiegen.«

Beide lachten, hoben ihre Gläser und prosteten sich zu.

»Konntest du den Schützen eigentlich genauer sehen?«, fragte Maria. »Von deinem Platz aus hattest du ja einen besseren Blick auf ihn. Ich meine, das ungefähre Alter und die Größe, dünn, dick, sportlich?«

Jetzt war es an dem Mediziner, sich zurückzulehnen und die Stirn in Falten zu legen.

»Es ging alles so rasend schnell. Aber im Nachhinein würde ich sagen, dass er zwischen Ende zwanzig und Anfang, Mitte dreißig gewesen sein muss. Eher klein, um die eins siebzig, schlank. Vom Gesicht hat man ja wegen der Maske nichts erkennen können.«

»Das ist doch schon mal was. Ist dir sonst noch etwas aufgefallen?«

Dess überlegte und schüttelte nach einer Weile unmerklich den Kopf.

»Doch«, rief er plötzlich und beugte sich wieder vor. »Er hat irgendwas gerufen, bevor er geschossen hat!«

»Was genau hat er gerufen? Kannst du dich erinnern?«, hakte sie nach. Auch sie konnte sich dunkel an Wortfetzen erinnern.

»Ich habe es nicht genau verstanden, weil er die Maske vor dem Mund hatte. Aber ich glaube, es waren zwei oder drei Worte.«

»Und die waren?«, fragte sie ungeduldig. »Lass dir doch nicht jedes Wort aus der Nase ziehen.«

»Theos Schuld.«

»Wie bitte?«

»Ich habe so etwas wie ›Theos Schuld‹ verstanden. Aber, wie gesagt, die Maske hat alles gedämmt. Ich kann noch nicht einmal sagen, ob die Stimme hoch oder tief war, aber sie klang irgendwie schrill.«

»Theos Schuld«, murmelte sie nachdenklich. »Hattest du den Eindruck, dass er Guido Brunner persönlich damit angesprochen hat oder dass er es eher allgemein in den Raum hineingerufen hat?«

Dess legte die Stirn wieder in Falten und seufzte.

»Das kann ich beim besten Willen nicht mehr sagen. Wenn du nicht gerade eben noch mal nachgefragt hättest, ob mir was Besonderes aufgefallen ist, hätte ich es glatt vergessen.«

»Ist nicht schlimm. Deshalb hab ich dich ja gefragt.« Sie überlegte. »›Theos Schuld‹ … Nehmen wir an, dass du dich nicht verhört hast. Dann klingt es irgendwie nach einem Racheakt. Ein gewisser Theo hat sich etwas zu Schulden kommen lassen und Guido Brunner musste dafür mit dem Leben bezahlen.«

»Es kann aber auch ›Leo‹ gewesen sein. Ich will mich da nicht festlegen.«

»Aber das ist zumindest ein Anhaltspunkt. Wir werden im Umkreis von Brunner nach einem Leo oder Theo suchen. Außerdem werde ich mir die Vernehmungsprotokolle vornehmen. Vielleicht hat noch einer der anderen Gäste gehört, was der Mörder gerufen hat.«

»Kann doch auch eine Art Kampfruf gewesen sein. So etwas wie ›Allahu akbar‹. Das rufen doch islamistische Terroristen, bevor sie einen Anschlag verüben.«

»Der Syndikus wurde regelrecht hingerichtet«, bestätigte Maria nachdenklich. »Zusammen mit dem Ausruf ›Theos Schuld‹ oder ›Leos Schuld‹ oder was auch immer es genau war, erinnert mich das an die Vorgehensweise der Mafia.«

»Stimmt«, nickte Dess, »könnte sein. Die Mafia wäre nicht gut, nicht wahr?«

»Nein, überhaupt nicht«, bestätigte Maria. Sie wusste, dass sich die russische Mafia zwar zu einem zunehmenden Problem entwickelte, dieses aber längst noch nicht die Ausmaße wie mit der italienischen Mafia in anderen Bundesländern erreicht hatte.

Für einen Moment schwiegen sie, jeder hing seinen Gedanken nach, bis Dess die Stille unterbrach.

»Espresso und Eis?«

»Welche Sorte?«

»Schokolade und Walnuss.«

»Dann Schokolade, bitte.«

»Mit Baileys und Sahne?«

Maria schwieg, klapperte stattdessen demonstrativ mit den Lidern und spitzte die Lippen zu einem Kussmund.

»Alles klar«, meinte Dess grinsend, griff nach den Tellern und verschwand in der Küche. Kurz darauf hörte sie klappernde Geräusche, als er das schmutzige Geschirr in die Spülmaschine räumte und das Dessert zubereitete. Mit einem Mal spürte sie ein starkes Verlangen nach einer Zigarette. Dess rauchte auch hin und wieder eine von diesen affigen Pyramids of Egypt, die aus einem unerfindlichen Grund nicht rund, sondern platt wie Flundern waren, sodass man sie überhaupt nicht richtig zwischen die Finger klemmen konnte.

Zum Teufel, du hast gerade erst erfolgreich mit dem Rauchen aufgehört! Wenn sie sich jetzt auch nur eine einzige dieser verfluchten Dinger zwischen die Lippen steckte, würde sie wieder anfangen, das wusste sie sehr wohl. Vehement stand sie auf, ging zum Sofa und griff erneut nach dem Magazin, um den Artikel weiterzulesen und sich abzulenken.

»Maria? Kommst du?«

Als sie das Dessert auf dem Tisch sah, rief sie freudig: »Oh, lecker, das sieht einfach köstlich aus.«

Genüsslich löffelte sie ihr Eis und schlürfte den Espresso.

»Gar nicht so schlimm, dass wir nicht im Canadian essen konnten«, meinte sie, »und auch erheblich bequemer.« Grinsend tippte sie auf den Jogginganzug. »Natürlich kein exquisites Drei-Gänge-Menü, aber es lässt sich aushalten.«

»Da bin ich froh«, meinte Dess lächelnd, stand auf und ging in Richtung Terrassentür. »Ich gehe eine rauchen. Du kommst sicherlich nicht mit, nehme ich an.«

»Nein, lieber nicht. Habe eben schon innere Kämpfe ausgetragen.«

Dess verschwand auf der Terrasse.

Als er von draußen wieder reinkam, setzten sie sich auf die Couch und tranken ein weiteres Glas Rotwein, während sie sich unterhielten. Doch das Gespräch wurde immer schleppender, weil sie beide müde wurden. Maria legte die Beine hoch und Dess hing mehr in dem Zweisitzer gegenüber, als dass er saß. Mit einem Mal fielen Maria die Augen zu und sie schlief ein.

Ein schrilles Läuten weckte sie. Im ersten Moment fiel es ihr schwer, sich zu orientieren. Doch dann erkannte sie im dämmrigen Morgenlicht Dess’ Wohnzimmer. Er selbst war auf die Seite gesackt und schnarchte wie ein Bär.

Wer, in drei Teufels Namen, ruft an einem Sonntag zu solch einer unchristlichen Zeit an? Das konnte eigentlich nichts Gutes bedeuten. Vielleicht war jemandem aus seiner Familie etwas zugestoßen? Womöglich seiner betagten Mutter, die, wie Maria wusste, schon über neunzig war.

Mühsam rappelte sie sich hoch, stolperte zu Dess und rüttelte ihn unsanft an der Schulter. Schlaftrunken sah er sie an.

»Wach auf, Dess! Das Telefon. Es klingelt schon die ganze Zeit!«

»Was?«, murmelte er und schloss die Augen wieder.

»DAS TELEFON!!! Vielleicht gehst du besser ran. Ist bestimmt wichtig.«

»Herrgott noch mal! Wehe, das ist es nicht, ansonsten bringe ich denjenigen eigenhändig um. Satansbrut!«

Schwankend ging er zur Anrichte neben dem Esstisch und nahm den Hörer von der Basisstation.

»Ja?«, grunzte er mit belegter Stimme. »WAS? Das ist ja wohl ein schlechter Scherz! Ja, okay, aber fassen Sie um Gottes Willen nichts an!« Er sah rüber zu Maria, die sich bei seinen alarmierten Worten aufrecht hingesetzt hatte. »Haben Sie schon die Polizei verständigt? Gut. Ich bin in einer Dreiviertelstunde da.«

Langsam legte er den Hörer auf und sah Maria mit großen Augen an.

»Im Institut wurde eingebrochen. Jemand hat sich an einer Leiche zu schaffen gemacht.«

»Das ist nicht dein Ernst!«

»Ich befürchte, doch.«

»Ich komme mit!«, entgegnete Maria bestimmt. Sie war neugierig, was im Institut vorgefallen war. Außerdem wollte sie nach Hause, ihre Wohnung lag nicht weit entfernt, um sich umzuziehen und ihr Auto zu holen. Sie musste anschließend ins Präsidium fahren, obwohl Sonntag war. Mordermittlungen waren an den Wochenenden nun mal nicht auf Eis gelegt.

Als sie sich nach dem Duschen wieder in der Küche trafen, beobachtete Maria ihn aus den Augenwinkeln. Sehr gesprächig schien er heute Morgen nicht zu sein. Nur zu gerne hätte sie mehr über die Ereignisse im Rechtsmedizinischen Institut erfahren, sie lechzte geradezu nach weiteren Einzelheiten. Aber Dess hatte eine verschlossene Miene aufgesetzt. Wenn er nicht darüber sprechen wollte, würde er es auch nicht tun, selbst wenn sie ihn danach fragte. So gut kannte sie ihn. Doch in wenigen Minuten würde sie mit eigenen Augen sehen, was genau passiert war. Schweigend frühstückten sie. Bevor sie aufbrachen, schluckten beide noch eine Aspirin.

Das Institut für Rechtsmedizin war in einem Gebäude auf dem weitläufigen Areal der Universitätsklinik untergebracht. Zwei Polizeiwagen standen im absoluten Halteverbot auf der Zickzacklinie direkt vor dem Haupteingang.

Dess stieg schnell aus, öffnete die Tür und stürmte mit weit ausholenden Schritten zu den Kellerräumen, in denen die Toten aufbewahrt und obduziert wurden. Maria hatte Mühe, ihm zu folgen und wäre beinahe in ihn hineingerannt, als er abrupt stehen blieb. In einer Ecke standen zwei Polizisten und ein Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes. Das kalte Neonlicht betonte hart und unbarmherzig die Müdigkeit auf ihren Gesichtern.

»Petermann«, stellte Dess sich vor. »Ich bin der leitende Rechtsmediziner und das ist Frau Hauptkommissarin Wagenried.«

Die Uniformierten sahen auf, der Jüngere von beiden wollte zu ihm gehen, aber Petermann hob abwehrend die Hand.

»Ich bin gleich bei Ihnen, ich möchte mir nur vorher selbst ein Bild machen.«

Es war kalt hier unten. Im Kühlraum stand ein Hubwagen vor dem offenen Lagerungssystem aus drei Etagen, auf ihm lag ein geöffneter Leichenplastikbehälter. Erst Sekunden später erfassten Marias Augen den nackten Mann, der bäuchlings dahinter auf dem Boden lag. Sie schlängelte sich an Dess vorbei und ging um den Toten herum, um ihn besser inspizieren zu können. In seinem Nacken leuchtete eine frische, rote Wunde. Sie hockte sich neben die Leiche, um die Verletzung zu inspizieren.

»An der gleichen Stelle herausgeschnitten wie bei Bernhard Molberg«, hörte sie Dess sagen. Verblüfft sah sie hoch zu ihm und dann wieder zum Toten, der mit seltsam abgewinkelten Armen und Beinen vor ihr lag. Der Rechtsmediziner bückte sich runter zu den Füßen und drehte das Etikett am großen Zeh des Mannes um. Anschließend wälzte er ihn auf die Seite und blickte ihm prüfend in das wächserne Gesicht. Er stutzte.

»Das ist Guido Brunner«, sagte er zu Maria und sah sie alarmiert an. »Der Mann, der gestern Abend im Canadian erschossen wurde.«

Blutiges Erbe in Dresden

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