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Kapitel 1

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Prasselnd schlug der Regen gegen die Windschutzscheibe ihres Autos. Die hektisch hin und her tanzenden Scheibenwischer kamen nur schwer gegen die Wassermassen an. Wie kleine Bomben zerplatzten die dicken Tropfen auf der Scheibe und nahmen Maria die Sicht.

Grauenvolles Wetter, dachte sie. Sie blickte mit zusammengekniffenen Augen und leicht nach vorn gebeugtem Oberkörper auf die Königstraße, in die sie gerade eingebogen war. Schon von Weitem sah sie die Einsatzwagen mit ihren blau flackernden Lichtern in der ansonsten grau in grau vor ihr liegenden Straße. Die Konturen der Häuser und Bäume zu beiden Seiten waren verschwommen wie auf einem Aquarellgemälde. Alles, die Gebäude, die vorbeieilenden Passanten, die Blumenkübel vor den Restaurants und Geschäften, schien in den Fluten zu versinken.

In Schrittgeschwindigkeit näherte sie sich den Polizeifahrzeugen. Schon jetzt schauderte ihr bei dem Gedanken daran, das warme, trockene Auto zu verlassen. Wie immer hatte sie ihren Schirm im Präsidium vergessen. Der Wolkenbruch würde sie innerhalb weniger Sekunden bis auf die Haut durchnässen. Fluchend hielt sie direkt neben einem Polizisten und ließ die Scheibe herunter.

»Sie haben nicht zufällig einen Schirm für mich?«, fragte sie und setzte das liebenswürdigste Lächeln auf, zu dem sie an diesem ungemütlichen Maimorgen in der Lage war.

»Einen Schirm?«, fragte der Mann begriffsstutzig.

»Sie könnten natürlich auch einfach den Regen abstellen. Ich wäre aber auch mit einem stinknormalen Schirm zufrieden.«

Der Beamte lächelte, als er begriff, dass Maria einen Scherz gemacht hatte.

»Moment, Frau Wagenried, ich schaue mal nach.«

Sie hatte nicht damit gerechnet, aber er kam wenige Augenblicke zurück, öffnete galant die Fahrertür und hielt beflissen den schützenden Regenschirm über sie.

»Danke sehr. Ich werde Sie befördern. Wie heißen Sie?«

»Wachtmeister Rohrig«, antwortete er mit einem breiten Lächeln und begleitete sie bis zur Eingangstür. Diesmal hatte er den Witz sofort begriffen.

Maria öffnete die Tür neben dem großen Schaufenster und betrat einen mit Antiquitäten, Silber und Ölgemälden vollgestopften Raum. Sie bahnte sich einen Weg durch mehrere Uniformierte, die grüßend Platz machten, als sie die Kommissarin erblickten.

»Wo?«, fragte sie einen Kollegen. Der wies auf eine offen stehende Tür im hinteren Bereich des Geschäfts.

Der Tote saß an einem großen, massiven Schreibtisch. Unzählige Verletzungen entstellten sein Gesicht. Die Augen weit aufgerissen, schien er Maria direkt anzustarren. Ein blutiger Einschnitt klaffte unterhalb des Kehlkopfes, die Vorderseite seines hellblauen Hemdes war blutdurchtränkt. Marias Blick glitt weiter nach unten. Etwas stimmte mit seinen Händen nicht. Sie lagen in einer unnatürlichen Position ausgestreckt nebeneinander, die Innenflächen nach oben gerichtet, so als wolle er einen Segen empfangen. Als sie näher herantrat, sah Maria, dass beide Hände auf der polierten Oberfläche des Schreibtisches festgenagelt waren.

»Bernhard Molberg«, hörte sie eine Stimme sagen. Es war die ihres Assistenten Hellwig Dreiblum, der plötzlich neben ihr stand. »Antiquitätenhändler und Ladeninhaber. Sein Sohn, Alexander Molberg, hat ihn hier vor circa einer halben Stunde gefunden.«

»Todesursache?«, fragte Maria weiter.

»Erdrosselung mit einer Garotte«, ertönte eine Stimme wie aus dem Nichts. Dr. Stein tauchte hinter dem Toten auf. »Ich grüße Sie, Frau Wagenried«, schnaufte er. »Das Tatwerkzeug passt irgendwie zu diesem Ambiente, finden Sie nicht?« Demonstrativ hielt er ein Plastiktütchen hoch.

»Eine Garotte?«, fragte sie ungläubig. »Hatte ich während meiner gesamten Dienstzeit noch nie.« Sie inspizierte den blutigen, an beiden Enden mit kleinen Holzgriffen versehenen Draht. Das dünne und harte Metall war so fest um den Hals des Opfers zusammengezogen worden, dass es die Haut unterhalb des Kehlkopfes und beide Aorten durchtrennt hatte. Maria hoffte für den Mann, dass er bereits vorher erstickt war.

»Kann man schon sagen, ob es ein Raubmord war?«

»Laut seinem Sohn scheint auf den ersten Blick nichts zu fehlen«, sagte Hellwig Dreiblum. »Genaueres kann er aber erst sagen, sobald er die Inventarliste mit dem aktuellen Bestand verglichen hat.«

»Wo ist der Sohn?«

»Auf der Toilette.« Dreiblum zupfte verlegen an seiner Wollmütze. »Musste sich übergeben. Ist allerdings schon fünfzehn Minuten da drinnen. Vielleicht sollte ich mal …«

»Gute Idee, Hellwig. Holen Sie ihn da raus!«

Er setzte sich in Bewegung.

»Beeilen Sie sich!«, rief Maria scharf. Und an die Umstehenden: »Wieso lassen Sie den Mann so lange allein? In einem Mordfall ist jeder verdächtig. Schlamperei!« Verlegenes Füßescharren und Räuspern waren die Reaktionen.

»Können Sie schon etwas zum möglichen Todeszeitpunkt sagen, Dr. Stein?«, wandte sie sich wieder an den Rechtsmediziner.

»Schätze, gestern Abend zwischen zehn und zwölf, aber …«

»Jaja, ich weiß, Genaueres erst nach der Obduktion.«

Dr. Stein zuckte lapidar mit den Schultern. Dann hockte er sich ächzend wieder hin und Maria hörte, wie er seine Instrumente klirrend zurück in den Koffer warf.

»Immer noch Probleme mit dem Rücken, trotz der neuen, ›schweineteuren‹ Matratze?« Das hatte sich Maria nicht verkneifen können. Das letzte Mal hatte sie Dr. Stein getroffen, als er im vergangenen Jahr zu den enthaupteten Frauenleichen gerufen worden war. Schon da hatte er über Rückenprobleme geklagt und den Kauf einer neuen Matratze erwähnt, die ihm allerdings nicht helfe. Unbelehrbar, wie er nun mal war, hatte er bisher alle Ratschläge, sich von einem Orthopäden untersuchen zu lassen, in den Wind geschlagen.

»Ich befürchte, es ist noch schlimmer geworden«, stöhnte er, als er wieder hinter dem Schreibtisch auftauchte.

»Nur so fürs Protokoll: Warum gehen Sie nicht endlich mal zum Arzt?«

»Der Einzige, zu dem ich gehen würde, ist Dr. Rothemund. Mit dem habe ich zusammen studiert, aber diesen Triumph gönne ich ihm nicht auch noch«, schnaubte er verächtlich. »Ich verliere schon regelmäßig beim Schach gegen ihn.«

Hellwig Dreiblum kam mit dem Sohn des Ermordeten zurück, ein blasser, dunkelhaariger Mann, der sich immer wieder nervös durch die Haare fuhr. Beim erneuten Anblick seines ermordeten Vaters schlug er die Hände vor den Mund, so als wolle er einen Schrei unterdrücken. Maria stellte sich ihm vor.

»Schildern Sie doch bitte, wann und wie Sie ihren Vater gefunden haben.« Auffordernd nickte sie ihm zu.

»Kann … kann ich mich setzen?«

»Natürlich«, erwiderte Maria und bemerkte den Schweißfilm auf seiner Oberlippe. Augenscheinlich hatte er auch geweint, denn Augen und Nase waren verquollen und gerötet.

Er wollte sich gerade den Besucherstuhl vor dem Schreibtisch heranziehen, als zwei Männer mit einem Sarg hereinkamen, um den Toten abzutransportieren.

»Muss das jetzt sein?« Verärgert runzelte Maria die Brauen. Sie wandte sich an den Sohn des Opfers: »Warten Sie doch bitte so lange im vorderen Raum, Herr Molberg.«

»Wir brauchen eine Zange«, forderte Maria, als Alexander Molberg das Zimmer verlassen hatte, und wies mit dem Zeigefinger auf die festgenagelten Hände des Opfers. Ein Kollege von der Spurensicherung holte das Werkzeug aus seinem Metallkoffer und versuchte den Nagel aus der rechten Hand herauszuziehen, was ihm aber nicht gelang, weil er die Zange nicht richtig ansetzen konnte. Ein Polizeibeamter kam schließlich auf die Idee, unter dem Schreibtisch nachzuschauen, ob die Nagelspitze das Holz durchstoßen hatte: »Ich brauche einen Hammer, mit dem ich gegen die Spitze schlagen kann. Der Kollege von der Spusi zieht von oben mit der Zange.«

Schließlich gelang es den Männern, die langen Nägel Stück für Stück herauszubefördern. Sie verwahrten sie, wie die Garotte, in einem Beweismittelsicherungstütchen.

Ein unterdrücktes Schluchzen entwich Alexander Molbergs Kehle, als sein Vater im Sarg zu dem vor dem Geschäft wartenden Leichenwagen getragen wurde.

»Wo bringen Sie ihn hin?«, fragte er leise und sah Maria voller Verzweiflung an.

»Es ist üblich, dass eine Leiche nach einem Mord in die Rechtsmedizin gebracht wird«, sagte Maria so ruhig und sachlich wie möglich. »Dort wird eine Obduktion durchgeführt.«

Molberg sackte sichtlich in sich zusammen. »Dann wird er von oben bis unten aufgeschnitten. Alle Organe werden herausgenommen, wie bei einem Tier, das ausgeweidet wird«, flüsterte er tonlos.

»Herr Molberg, die Organe müssen untersucht werden, das ist Vorschrift. Aber natürlich werden sie wieder zurückgelegt.«

Er schluckte krampfhaft.

»Sie wollen doch, so wie wir auch, dass der Mörder Ihres Vaters gefunden wird. Eine Obduktion ist unerlässlich, weil eventuell Spuren des Täters am Körper des Toten nachgewiesen werden können oder sonstige Beweismittel, die vielleicht Rückschlüsse auf den Tathergang zulassen. Das verstehen Sie doch, nicht wahr?«

Jetzt nickte er schwach.

»Ich möchte jetzt noch einmal auf meine Frage von vorhin zurückkommen. Wann und wie haben Sie Ihren Vater gefunden?«

»Also, ich …« Molberg räusperte sich und schluckte hart. »Ich bin gegen halb elf heute Morgen hierhergekommen. Zu meiner Verwunderung hatte mein Vater das Geschäft noch nicht geöffnet. Normalerweise öffnet er um zehn. Da habe ich dann mit meinem Schlüssel die Tür aufgeschlossen und ihn dort«, er blickte kurz zum Stuhl hinter dem Schreibtisch, »kurze Zeit später gefunden. Es war einfach schrecklich, ihn da so … so zugerichtet sitzen zu sehen. Mir war natürlich sofort klar, dass er tot war. Ich habe dann gleich die Polizei gerufen.«

Maria nickte und wandte sich an die Umstehenden.

»Wurde der Schlüssel des Toten gefunden?«, fragte sie.

Ein Kollege der Spurensicherung verneinte und auch die Polizeibeamten schüttelten den Kopf.

»Das bedeutet, dass der Mörder ihn vermutlich mitgenommen hat, denn er hat die Tür von außen wieder verschlossen. Hing der Schlüssel an einem Bund oder Etui?«

»Ja, an einem braunen Lederetui, zusammen mit den anderen Schlüsseln.«

»Welchen Schlüsseln?«, hakte Maria alarmiert nach.

»Die Wohnungsschlüssel … Oh mein Gott!« Alexander Molberg schlug sich die Hände vors Gesicht. »Bedeutet das etwa, dass der Mörder meines Vaters auch in sein Haus eingedrungen ist?« Entsetzt starrte er Maria aus weitaufgerissenen Augen an.

»Das werden wir feststellen. Wir fahren sofort dort hin. Wie ist die Adresse?«

»Goetheallee 59 A, in Blasewitz. Soll ich vielleicht mitkommen?«

»Natürlich«, antwortete Maria bestimmt, »Sie können uns bei der Klärung der Frage behilflich sein, ob etwas fehlt, falls sich tatsächlich jemand Zugang zu der Wohnung verschafft hat. Das würde Ihnen doch bestimmt auffallen, nicht wahr?«

Molberg nickte und schwankte für einen kurzen Moment. Halt suchend griff er die Lehne eines neben ihm stehenden Stuhls.

»Sie fahren mit den Kollegen.« Sie gab den betreffenden Beamten einen Wink und schickte auch die Spurensicherung zu der angegebenen Adresse.

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