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Kapitel 6

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Am Montagmorgen saß Maria bereits kurz nach acht wieder am Schreibtisch. Heute würde der Bericht der Spurensicherung über die Untersuchung des Hotelzimmers von Guido Brunner eintreffen. Die ballistische Untersuchung, die ebenfalls noch ausstand, würde Aufschluss über die Tatwaffe und das Kaliber geben. Außerdem war für um zehn die Obduktion von Bernhard Molberg angesetzt.

Vorher wollte sie jedoch Notar Dr. Hübscher anrufen. Sie musste Alexander Molbergs Aussage überprüfen, dass sein Vater schon vor längerer Zeit ein Testament gemacht hatte, das ihn begünstigte.

Und dann war da noch das Stück Haut, das beiden Ermordeten im Nacken herausgeschnitten worden war. Deutlicher konnte es nicht sein: Diese Morde hingen zusammen. Sie nahm den Telefonhörer ab und wählte eine interne Nummer. Wenig später klopfte es an die Tür und Hellwig Dreiblum trat ein.

»Guten Morgen, Frau Wagenried, da bin ich.« Lächelnd trat ihr Assistent näher.

Maria sah ihn an. Irgendetwas war anders an ihm. Sie musterte ihn von oben bis unten, bis ihr ein Licht aufging.

»Mensch, Hellwig, ich wusste gar nicht, dass Sie blond sind.«

Er errötete.

»Endlich haben Sie mal diese bekloppte Mütze abgenommen.«

Hellwig Dreiblum wurde noch einen Ton dunkler im Gesicht.

»Ich möchte, dass Sie mir einen Termin bei Notar Dr. Hübscher machen. Möglichst zeitnah. Und wo ist die Ermittlungsakte Guido Brunner?«

»Ich hole sie.« Er zog wieder ab. Als Maria ihm hinterher sah, bemerkte sie, dass er auch eine neue Hose trug, nicht so einen Schlabbersack wie sonst. Sie vermutete, dass diese positive Verwandlung auf eine Frau zurückzuführen war.

Ihr fiel ein, dass sie Dess noch danach fragen musste, für wann er die Obduktion der Leiche von Guido Brunner angesetzt hatte. Gerade hatte sie ihr Handy gezückt, als Hellwig Dreiblum wieder ins Büro kam und die Akte auf den Schreibtisch legte.

»Setzen Sie sich, Hellwig. Sie können mir helfen.« Sie wies mit der Hand auf den freien Platz vor sich. Unsicher blickte ihr Assistent auf Gerd Wechters ehemaligen Schreibtischstuhl, setzte sich dann aber doch. Sie warf ihm die Hälfte der im Canadian handschriftlich angefertigten und von den Zeugen unterschriebenen Vernehmungsprotokolle über den Tisch.

»Lesen Sie die Aussagen durch und achten Sie darauf, ob jemand zu Protokoll gegeben hat, dass er den Täter etwas hat rufen hören, bevor er geschossen hat.«

Maria ging ihren Stapel ebenfalls durch. Nach der Durchsicht der achten Aussage war sie noch nicht fündig geworden.

»Sind Sie auf etwas gestoßen, Hellwig?«

Ihr Assistent sah kurz hoch und schüttelte den Kopf.

»Weitermachen«, forderte sie ihn auf und tat das Gleiche.

Nur das Rascheln der Blätter unterbrach von Zeit zu Zeit die Stille.

»Hier!«, rief ihr Assistent plötzlich, »hier steht was. Ein Herr Stemmer hat ausgesagt, dass der Täter etwas gerufen hat, bevor die Schüsse knallten. Er konnte sich aber nicht mehr erinnern, was es gewesen war, weil die Ereignisse sich dann überschlagen haben.«

»Lesen Sie noch die restlichen Aussagen durch. Anschließend laden Sie diesen Herrn Stemmer vor. Vielleicht können wir seiner Erinnerung auf die Sprünge helfen.«

Es dauerte eine weitere Dreiviertelstunde, bis sie alle Dokumente geprüft hatten. Es blieb bei diesem einen Zeugen, niemand sonst hatte etwas gehört.

Hellwig Dreiblum stand auf, um den Notar anzurufen. Sobald er ihr Büro verlassen hatte, griff Maria nach ihrem Handy und rief Desmond Petermann an, der sich nach wenigen Freizeichen meldete.

»Schaffst du es nicht bis zehn?«, fragte er ohne Umschweife.

»Doch, natürlich. Ich wollte nur fragen, ob du nicht gleich im Anschluss Guido Brunner obduzieren kannst.«

»Moment, ich schaue mal nach.«

Sie hörte Papier rascheln und unterdrücktes Stimmengemurmel.

»Ja, geht klar. Aber du musst Staatsanwalt Schmücke überzeugen, dass er noch ein oder zwei Stündchen länger bleiben muss.«

Verdammt! Daran hatte sie nicht gedacht. Aber zur Not würde es auch ohne ihn gehen, falls er keine Zeit mehr haben sollte. Sie warf einen Blick auf die Uhr und fasste einen Entschluss. Hellwig Dreiblum würde sie begleiten. Sie wählte seine Nummer.

»Sie kommen mit zur Obduktion von Molberg und Brunner. In fünfzehn Minuten fahren wir los.«

Schweigen am anderen Ende.

»Ich habe das noch nicht mitgemacht, also ich meine …«

»Dann wird es höchste Zeit. Haben Sie Dr. Hübscher erreicht?«

»Ja, heute Nachmittag um halb drei, wenn es Ihnen recht ist.«

»Das ist mir sogar sehr recht«, sagte sie, bevor sie auflegte. Eine Sekunde später klingelte das Telefon. Sie verdrehte die Augen, als sie die interne Nummer erkannte. Kriminaloberrat Rottge! Der hatte ihr gerade noch gefehlt.

»Ja, Wagenried«, meldete sie sich.

»Guten Morgen«, dröhnte er. »Ich wollte Ihnen mitteilen, dass das Auswahlverfahren für die vakante Stelle abgeschlossen ist. Nächste Woche haben Sie wieder einen neuen Kollegen. Herrn Hauptkommissar Laschkow, er wechselt aus Leipzig zu uns. Er wird am Montag kommender Woche seinen Dienst antreten.«

»Großartig«, entgegnete Maria indifferent.

»Scheint Sie ja nicht sonderlich zu interessieren.«

»Papier ist geduldig. Die offiziellen Voraussetzungen erfüllt er, sonst hätte er den Posten nicht bekommen. Ich werde mir im Laufe der Zusammenarbeit selbst ein Bild machen.«

»Ich wollte Sie nur informieren. Schon irgendwas Neues in unseren Fällen?«

»Absolut nichts, wir sind ja gerade erst am Anfang. Heute Nachmittag werden wir Dr. Hübscher aufsuchen. Das ist der Notar, bei dem Bernhard Molberg sein Testament hinterlegt hat.«

»Sehr gut. Wann findet denn die Obduktion statt?«

»Heute Morgen, gleich um zehn. Um ehrlich zu sein, deswegen bin ich ein bisschen in Eile.«

»Natürlich, grüßen Sie Dr. Petermann von mir.« Damit knallte er den Hörer auf.

Maria verließ ihr Büro, um Hellwig Dreiblum abzuholen.

»Ist Ihnen nicht gut?« Maria sah ihren Assistenten an, der auffällig blass und schweigsam auf dem Beifahrersitz saß.

Gerade hatten sie die St. Petersburger Straße überquert und fuhren nun die Pillnitzer Straße entlang, weil das Terrassenufer mal wieder gesperrt war. Das bedauerte sie, denn sie liebte es ganz besonders, an der Elbe entlangzufahren, ob mit dem Fahrrad oder mit dem Auto. Insbesondere in den frühen Morgenstunden, wenn die Sonne noch nicht ganz aufgegangen war, aber ihr Erscheinen mit einem blassrosa Schimmer am Himmel ankündigte und die prachtvollen Villen und die drei Elbschlösser am gegenüberliegenden Elbhang in ein geradezu märchenhaftes Licht tauchte. Auch der Morgennebel, der wie feenhafte Schleier aus den Wiesen am Fluss hochstieg, verzauberte Maria immer wieder aufs Neue.

»Ich bin ein bisschen nervös, muss ich zugeben.« Hellwig Dreiblum presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen und räusperte sich.

»Das sind wir alle beim ersten Mal«, versuchte sie ihn zu beruhigen. »Ist halb so schlimm. Etwas anderes wäre es, wenn wir eine Wasserleiche hätten. Der Gestank ist unbeschreiblich.«

Hellwig Dreiblum sah sie von der Seite an, klappte den Mund auf, um etwas zu erwidern, schloss ihn aber dann wieder.

»Wollten Sie was sagen?«

Er schüttelte den Kopf.

»In fünf Minuten sind wir da.«

Sie waren pünktlich und die ganze Meute hatte sich schon versammelt. Staatsanwalt Schmücke, Dr. Stein als zweiter Mediziner, mehrere Ärzte in Ausbildung, vielleicht waren es auch noch Studenten, und schließlich Desmond Petermann, der alle ein großes Stück überragte. Maria sah in ihre Gesichter, die durch das harte, helle Licht der Neonröhren blass und konturlos wirkten.

Bernhard Molbergs Leiche lag nackt auf einem Seziertisch. Desmond Petermann begann mit der Obduktion. Zunächst untersuchte er den tiefen Schnitt im Hals, der bei der Strangulation mit der Garotte herbeigeführt worden war. Beide Aorten waren fast vollständig durchtrennt. Dann wandte er sich den Händen zu, durch die der Mörder dicke, lange Nägel getrieben und die er damit an den Tisch fixiert hatte.

»Warum hat der Mörder das getan? Was meinen Sie, Dr. Petermann?« Maria und Dess hatten sich darauf geeinigt, bei offiziellen Terminen das formelle ›Sie‹ zu benutzen. Es sollte nach außen nicht der Eindruck einer Vertrautheit zwischen ihnen entstehen, die die Objektivität beeinträchtigen könnte.

»Auf mich hatte es am Tatort so gewirkt, als sollte er gezwungen werden, einen Segen zu empfangen«, fuhr Dr. Stein schnell dazwischen, bevor Dess antworten konnte. »Oder es sollte an Jesus Christus erinnern. Ihm wurden die Hände ans Kreuz genagelt.«

Maria kommentierte keine der beiden Äußerungen, von denen ihr weder die eine noch die andere plausibel erschien.

Dess fuhr mit der Untersuchung fort und inspizierte akribisch die Hautoberfläche mit einer starken Lupe. Doch hier war nichts Auffälliges oder Ungewöhnliches festzustellen. Dann wurde der Leichnam auf den Bauch gedreht, sodass alle Anwesenden die Wunde im Nacken sehen konnten.

»Im Bereich des vierten und fünften Nackenwirbels wurde ein Stück Haut, circa fünf mal drei Zentimeter, entfernt«, erläuterte Desmond laut, während er die Wundränder genauer inspizierte. »Mit einem Messer herausgeschnitten. Post mortem. Keine Nachblutungen an der Wunde erkennbar.«

Der Tote wurde wieder auf den Rücken gelegt und der Obduktionsassistent begann, den Schädel von Bernhard Molberg mit einer Handsäge zu öffnen. Das dabei entstehende Geräusch verursachte nicht nur bei Maria Unbehagen, sondern auch bei den Umstehenden, wie sie an deren Mienen ablesen konnte. Desmond entnahm das Gehirn und legte es sogleich auf eine Platte, die am Fußende des Stahltisches angebracht war. Dort schnitt er es fein säuberlich in Scheiben, um innere Blutungen auszuschließen. Seine Beobachtungen sprach er mit leiser, routinierter Stimme in sein Diktiergerät.

Maria wusste, was jetzt folgen würde: Die Öffnung des Brustkorbes mittels des Y-Schnitts. Desmond setzte das Skalpell an und führte es von beiden Schlüsselbeinen zum Brustbein und von dort gerade bis zum Schambein hinab. Nach der Entfernung des Brustbeins und der angrenzenden Rippen, lag der innere Bauchraum mit den Organen frei. Desmond stutzte, entnahm die Leber, inspizierte sie mit gerunzelten Brauen und legte sie auf die rechteckige Fläche, auf der er schon das Gehirn untersucht hatte. Sorgfältig schnitt er einige Male in das dunkelrote Gewebe.

»Ein großer Tumor im rechten Lappen.«

Ein Organ nach dem anderen wurde zutage befördert und sorgfältig untersucht.

»Krebs im Endstadium, er hatte höchstens noch zwei oder drei Monate zu leben«, sagte er schließlich und sah Maria an. »Die gesamte Bauchhöhle ist befallen, alles. Magen, Darm, sogar die Nieren.«

Der Mörder hätte einfach seinen Tod abwarten können, dachte Maria. Vorausgesetzt, er hätte es gewusst.

Während der Leichnam wieder geschlossen und anschließend gewaschen wurde, sprach Petermann in sein Diktiergerät und wandte sich dann der nächsten Leiche zu, die auf einem zweiten Seziertisch lag, der bisher von ihm und den Umstehenden verdeckt worden war. Maria und Hellwig Dreiblum stellten sich wieder gegenüber von Desmond an den Tisch.

Die Sektion von Guido Brunner begann mit der Untersuchung der Schusswunden in Kopf und Brust.

»Es handelt sich um Steckschüsse. Eines der Projektile hat mit großer Wahrscheinlichkeit das Herz getroffen«, erklärte er, »das andere dürfte sich im Gehirn befinden. Ich werde zunächst das aus dem Schädel und anschließend die Projektile aus dem Brustraum entfernen.«

Erneut erklang das grässliche Geräusch der Knochensäge. Ein Arzt in Ausbildung trug das gelblich graue Gehirn, dessen Windungen wie platte Würmer aneinanderklebten, direkt an Maria und Hellwig Dreiblum vorbei und legte es auf ein separates Tischchen.

Etwas rumste neben Maria. Hellwig! Er war neben ihr auf dem Boden gelandet und ganz offenbar bewusstlos. Indigniert wegen der Störung, sah Desmond auf.

»Wie hätte er reagiert, wenn er bei der Obduktion der Frau mit dem Rosenstil in der Vagina dabei gewesen wäre?«, fragte er kühl und zog affektiert die Augenbrauen hoch. »Augen auf bei der Berufswahl, sag ich nur.« Die Umstehenden kicherten leise oder grinsten.

Ja, jetzt hast du wieder deinen Spaß, dachte Maria grimmig und schoss mit ihren Blicken wütende Pfeile auf Desmond ab, der jetzt ungerührt mit der Untersuchung des Gehirns begann. Maria bückte sich und rüttelte ihren Assistenten an der Schulter. Jemand reichte ihr ein Glas Wasser, das sie ihm an den Mund hielt, um ihm etwas davon einzuflößen. Hustend kam er wieder zu sich. Obwohl sie ihm dazu riet, sich hinzusetzen, bestand er darauf, an der weiteren Obduktion stehend teilzunehmen.

Mit einer Pinzette entfernte Desmond ein Projektil aus dem Gehirn und ließ es in ein Plastikbeutelchen fallen. Später würde es ins KTI, das Kriminaltechnische Institut des Landeskriminalamtes Sachsen, gebracht und von der Ballistik-Abteilung untersucht werden.

Anschließend öffnete er den Brustkorb mittels Y-Schnitt und entfernte ein Projektil aus dem Herzen und ein weiteres aus der Lunge. Auch sie wanderten in ein Tütchen. Danach wurde auch Guido Brunner auf den Bauch gedreht, sodass im Nacken die gleiche Schnittwunde wie bei Bernhard Molberg sichtbar wurde. Laut Desmond war auch sie durch ein Messer herbeigeführt worden.

»Da beide Hautstücke weder am Tatort in der Königstraße noch hier in der Rechtsmedizin gefunden wurden, können wir davon ausgehen, dass sie der Täter in beiden Fällen mitgenommen hat.« Er streifte seine dünnen Gummihandschuhe ab. »Guido Brunner war ein organisch völlig gesunder Mann und hätte noch gut und gerne weitere zwanzig Jahren leben können.«

Maria und Hellwig Dreiblum verließen das Gelände der Universitätsklinik. Sie fuhr aber nicht zum Präsidium zurück, sondern lenkte den Wagen in die entgegengesetzte Richtung. Als sie die Goetheallee erreichten, fuhr sie rechts ran. Fragend sah ihr Assistent sie an.

»Wir machen einen hübschen kleinen Spaziergang. Das bringt Ihren Kreislauf wieder in Schwung«, sagte Maria.

Peinlich berührt sah er zur Seite.

»Machen Sie sich nichts draus. Sie sind nicht der Erste, dem das passiert. Auf geht’s!«

Sie überquerten das Käthe-Kollwitz-Ufer und liefen einen Trampelpfad entlang, der sie zum Radweg an der Elbe führte.

Ohne Hellwig Dreiblum zu fragen, nahm Maria Kurs aufs Blaue Wunder, das sich über die Elbe spannte und die Ortsteile Blasewitz und Loschwitz verband. Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her, bis Maria das Wort ergriff.

»Mal abgesehen davon, dass Sie für einen kurzen Moment abwesend waren, welchen Eindruck haben Sie gewonnen?«

»Dass ich nicht so schnell wieder an einer Obduktion teilnehmen möchte. Und schon gar nicht an zweien nacheinander.« Er grinste sie an.

»Wir wollen doch nicht hoffen, dass wir demnächst wieder eine Leiche haben. Schon Ihretwegen nicht. Jetzt mal im Ernst, wie denken Sie über die Hautstücke, die beiden Opfern an der gleichen Stelle entfernt wurden?«

»Das bedeutet für mich, dass beide Morde zusammenhängen. Denn beide Opfer haben etwas im Nacken gehabt, von dem der Täter nicht wollte, dass es gesehen wird.«

»Weiter!«

»Es könnte sich um ein Tattoo gehandelt haben. Beide Opfer haben sich die gleiche Tätowierung stechen lassen.«

»Beide Männer waren über sechzig. Soweit ich informiert bin, ist das doch eher bei jüngeren Leuten en vogue.« Sie sah ihn von der Seite an. »Haben Sie eigentlich auch eins, Hellwig?«

Überrascht sah er sie an und nickte.

»Auf dem Oberarm.«

»Das ist eine durchaus übliche Stelle für ein Tattoo«, sinnierte Maria. »Genauso wie auf Händen, Beinen, Brust und Rücken. Arschgeweih ist ja aus der Mode, wenn ich richtig orientiert bin, oder?«

Hellwig Dreiblum nickte. »Einige haben auch eins im Gesicht, aber das ist eher selten. Punks oder so.«

»Und im Nacken?«

»Ja, auch.«

»Würden Sie unsere Mordopfer als typische Tattooträger bezeichnen?«

»Was ist denn ein typischer Tattooträger?«, antwortete er mit einer Gegenfrage.

»Können Sie sich vorstellen, dass der Syndikus einer ehrenwerten Stiftung ein Tattoo trägt? Oder unser Ministerpräsident? Oder vielleicht Ihr Vater?«

Hellwig Dreiblum lachte verlegen auf. Siehste, natürlich nicht, dachte Maria und warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Sie hatten noch gut anderthalb Stunden Zeit bis zu ihrem Termin mit Notar Dr. Hübscher.

»Aber bei diesem Molberg, da kann ich es mir durchaus vorstellen.«

»Wieso?«

»Als Kunsthändler ist man vielleicht nicht so konservativ. Man bewegt sich in anderen Kreisen.«

»Möglich, aber er ist studierter Kunsthistoriker, Hellwig. Also eher Wissenschaftler als Künstler.«

»Gut, dann ist es eher unwahrscheinlich, war ja auch nur so ein Gedanke.«

»Egal, nur immer raus damit. Sonst kommen wir nicht weiter, aber wir sind sowieso gleich da.«

»Wo, da?«

»Am Schillergarten. Wir essen eine Brezel und trinken ein Bier.«

»Aber … aber wir sind doch im Dienst und wir wollen doch gleich noch …«

»Ich habe einen Scherz gemacht. Wir trinken einen Kaffee. Die Brezeln sind aber erlaubt. Ich lade Sie ein. Kommen Sie.«

Sie passierten das Restaurant Villa Marie, gingen unter der Brücke hindurch und stiegen die Stufen zum Schillergarten hoch, in dem viele Gäste saßen, um nach den sintflutartigen Regengüssen der vergangenen Tage das milde Frühlingswetter zu genießen. Sie fanden einen freien Tisch. Maria drückte ihrem Begleiter einen Zehner in die Hand und schickte ihn los, um Kaffee und Brezeln zu holen. Sie genoss derweil den Blick auf die gegenüberliegende Elbseite. Plötzlich verspürte sie Lust, nach dem kleinen Imbiss das Blaue Wunder zu überqueren und in Loschwitz’ alten Gassen umherzuschlendern, vielleicht ein Eis in der Waffel zu kaufen und sich dabei einzureden, dass heute kein normaler Arbeitstag sei.

Hellwig Dreiblum kam mit Brezeln und Kaffee zurück und setzte sich, die Sonne direkt im Gesicht, ihr gegenüber.

»Warum setzen Sie sich nicht neben mich? Von hier aus haben Sie einen viel schöneren Blick auf die andere Seite!«

Wie ein altes Ehepaar saßen sie nebeneinander, bissen von ihren Brezeln ab und schlürften den heißen Kaffee.

»Schön da drüben«, sagte er kauend und trank einen Schluck. »Da müsste man ein Haus haben.«

»Dream on. In welcher Gehaltsstufe sind Sie? A9?«

»Man wird ja wohl noch träumen dürfen«, entgegnete der frischgebackene Polizeikommissar.

»Es reicht doch, wenn man sich ab und zu hierher oder an einen anderen Platz setzen und das Schöne einfach nur betrachten kann. Wir haben einen tollen Beruf, Hellwig, das entschädigt für so manches. Sie stehen gerade am Anfang, haben Ihr Studium abgeschlossen und zumindest ein sicheres Einkommen. Außerdem sind Sie höchstens fünfundzwanzig. Habe ich recht?«

»Fast, ich bin schon achtundzwanzig. Hab mich aber ganz gut gehalten, finde ich.«

»Vor allen Dingen haben Sie Ihre lächerliche Aufmachung, Entschuldigung, dass ich das so sage, verändert. Sie sehen so viel respektabler aus. Wie ein richtiger Mann.«

Hellwig Dreiblum lächelte unsicher. So ganz kam er mit Marias Humor noch immer nicht zurecht.

»Nächste Woche kommt unser neuer Kollege. Hauptkommissar Laschkow. Sportlich und dynamisch, aber vor allen Dingen ehrgeizig, so wie ich gehört habe«, sagte sie gedehnt.

»Hoffentlich verstehen Sie sich so gut mit ihm wie mit Gerd Wechter.«

Es war ihm ohne böse Absicht herausgerutscht, das wusste Maria. Dennoch hatte sie den Stich gespürt. Würde das nie aufhören? Nein, natürlich nicht, es war nun ein Teil ihres Lebens. So etwas hörte nicht auf. Es würde weniger schmerzhaft werden mit der Zeit, aber nie verschwinden.

»Ich … Entschuldigung, das war blöd von mir.«

»Alles fein«, beruhigte sie ihn, »Trinken Sie aus. Wir haben noch eine Dreiviertelstunde. Wir gehen übers Blaue Wunder auf die andere Seite. Dort gibt es ein kleines Geschäft mit handgefertigten Seifen und allerlei Schnickschnack. Ich brauche noch ein kleines Geschenk.«

Erleichtert stand Hellwig Dreiblum auf und trug die Becher zurück.

Am Ende der Brücke gingen sie die Treppe hinab, liefen am Körnergarten vorbei und bogen nach wenigen Metern links ab. Ein Gewirr aus schmalen verwinkelten Gassen und romantischen Häuserfassaden, gesäumt von Cafés und kleinen Restaurants, empfing sie. Maria wurde in dem winzigen Laden am Körnerplatz fündig, kaufte neben der Seife noch drei handgezogene Kerzen aus Bienenwachs und ließ alles als Geschenk verpacken. Hellwig hatte sich draußen auf eine Bank gesetzt und aß ein Eis.

Dann machten sie sich auf den Rückweg. Sie mussten sich sputen, nachdem Maria mit der Ladeninhaberin ins Plaudern gekommen war. Sie hatte nämlich ein kleines Bild entdeckt, von dem sie glaubte, dass es gut in ihr Wohnzimmer passen würde. Sie beschloss, noch einmal wiederzukommen, um festzustellen, ob es ihr dann immer noch so gut gefiel.

Pünktlich, halb drei, erreichten sie das Notariat in der Hohen Straße im Bayrischen Viertel hinter dem Hauptbahnhof. Das Entree war beeindruckend: Ein Empfangstisch aus dunklem Holz, der Maria an die Rezeption eines Fünf-Sterne-Hotels erinnerte, erstreckte sich über die gesamte Länge des Raumes. Dahinter saß eine Sekretärin, zwei weitere Mitarbeiterinnen liefen geschäftig umher. Ständig wurden Türen geöffnet, Angestellte durchquerten die Empfangshalle und wurden wieder verschluckt. Maria meldete ihren Termin an und wenige Augenblicke später wurden sie in das Büro des Notars geführt.

Dr. Hübscher empfing sie mit einem offenen Lächeln und bat sie, Platz zu nehmen. Dann forderte er über die Sprechanlage die Unterlagen an. Diese Zeit reichte Maria, um ihn eingehender zu betrachten. Die modische Brille und das dunkelblonde, kurz geschnittene Haar ließen ihn ein wenig jungenhaft aussehen, obwohl er schätzungsweise Mitte vierzig war. Seine gesamte Erscheinung strahlte Kompetenz und Souveränität aus. Die Tür öffnet sich und eine Angestellte brachte die gewünschte Akte.

»Natürlich habe ich vom schrecklichen Ableben von Herrn Molberg erfahren«, eröffnete er das Gespräch. »Schließlich geht es ja seit mehreren Tagen durch die Presse. Sie wollen, wenn ich richtig informiert bin, Einzelheiten zu seinem Testament wissen?«

Fragend sah er sie über seinen Brillenrand hinweg an.

»Ja, das wäre sehr hilfreich. Insbesondere möchten wir wissen, ob er es kurz vor seinem Tod noch geändert hat.«

Der Notar schüttelte den Kopf und schlug den Aktendeckel auf. Hellwig Dreiblum zückte sein Notizbüchlein.

»Nein. Das Testament wurde im November 2002 aufgesetzt, seitdem wurde nichts angepasst.«

»Wer sind denn der oder die Erben?«

»Alleinerbe ist sein Sohn, Alexander Molberg. Es gibt allerdings noch zwei sogenannte Legate. Demnach muss Alexander Molberg der langjährigen Haushälterin seines Vaters zehntausend Euro und einer Stiftung in Würzburg einhunderttausend Euro übereignen. Moment, ich schaue gleich mal nach, wie die Stiftung heißt …«

»Nein, nicht nötig im Moment. Lassen Sie uns später dazu kommen«, unterbrach Maria ihn. »Das Allermeiste bekommt also sein Sohn, Alexander. Wie hoch schätzen Sie den Gesamtwert des Vermögens, Dr. Hübscher?«

Der Notar schloss die Akte wieder und legte die Stirn in Falten.

»So genau kann ich das auf die Schnelle nicht sagen, aber ich nehme an, er beläuft sich auf mindestens eineinhalb Millionen Euro, vielleicht auch mehr. Allein die Villa in der Goetheallee ist mit Sicherheit mehr als eine Million wert. Unbelastet, keine Hypothek eingetragen.«

Maria nickte. »Wussten Sie, dass Herr Molberg schwerkrank war und nur noch kurze Zeit zu leben gehabt hatte?«

Dr. Hübscher sah sie entgeistert an und schüttelte dann langsam den Kopf.

»Nein, das wusste ich nicht.« Er wirkte sichtlich erschüttert.

»Haben Sie mit Herrn Molberg privat verkehrt?«

»Nein, das wäre zu viel gesagt. Wir haben zwar im gleichen Club Golf gespielt. Doch der Kontakt beschränkte sich auf den üblichen Small Talk und Gespräche über den Sport. Allerdings, jetzt wo Sie die Erkrankung erwähnt haben, fällt mir ein, dass er sich in letzter Zeit im Club nicht mehr hat blicken lassen. Jetzt wird mir klar, warum.« Er seufzte. »Eine schreckliche Sache. Haben Sie denn schon eine heiße Spur?«

»Wir stehen noch ganz am Anfang unserer Ermittlungen. Aber ich habe noch eine Frage, da Sie das Golfspiel erwähnt haben. War es üblich, nach dem Spielen zu duschen?«

»Wie meinen Sie das, ich verstehe nicht ganz.«

»Also, ich bin keine Golfexpertin und kenne es nur aus dem Fernsehen. Soweit ich mitbekommen habe, rennt man da nicht hin und her, sondern läuft eher gemessenen Schrittes über den Rasen. Kommt man da ins Schwitzen, sodass man nach dem Spielen duschen muss?«

»Das wird unterschiedlich gehandhabt, je nachdem, wie warm es ist. Und ja, man kommt auch beim Golfen ins Schwitzen. Aber wieso fragen Sie mich das?«

Maria warf einen Seitenblick auf Hellwig Dreiblum, der aufgehört hatte zu schreiben und den Notar aufmerksam ansah.

»Ist Ihnen beim Duschen oder in der Umkleidekabine eine Tätowierung im Nacken Ihres Klienten aufgefallen?«

»Ein Tätowierung?« Verblüfft schaute der Notar sie an. »Bernhard Molberg soll ein Tattoo gehabt haben? Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Im Nacken, sagen Sie?« Wieder schüttelte er den Kopf. »Nein, tut mir leid. Mir ist nichts aufgefallen, weder im Nacken noch an einer anderen Stelle.«

»Das war es auch schon, Herr Dr. Hübscher.« Maria stand auf. »Haben Sie vielen Dank für Ihre Zeit und Mühe. Sie haben uns sehr geholfen.«

»Wenn ich irgendetwas tun kann, lassen Sie es mich bitte wissen. Niemand hat es verdient, auf so grausame Weise aus dem Leben gerissen zu werden. Ich hoffe, Sie finden den Täter schnell.«

»Alles mitgeschrieben?« Maria und Hellwig Dreiblum saßen schon wieder im Auto und fuhren zurück zum Präsidium. Ihr Assistent nickte artig.

»Wir laden Alexander Molberg noch einmal vor. Er muss doch wissen, ob sein Vater eine Tätowierung hatte.«

»Können wir nicht jetzt gleich zum Geschäft auf die Königstraße fahren?« Fragend sah der junge Kommissar sie an.

»Gute Idee, das machen wir.«

Nach zwanzig Minuten hatten sie die Königstraße erreicht. Sie stiegen aus und Maria fixierte das etwa dreihundert Meter entfernte Antiquitätengeschäft. Sie fragte sich, ob Alexander Molberg den Laden schon wieder geöffnet hatte, gerade drei Tage, nachdem er seinen Vater hier ermordet aufgefunden hatte. Aber sie hatten Glück. Alexander Molberg unterhielt sich gerade mit einem älteren Kunden und strich dabei liebevoll über das glatte, glänzende Nussbaumholz eines Kabinettschrankes. Er sah auf, als die Kommissare den Laden betraten. Sein geschäftsmäßiges Lächeln gefror. Er entschuldigte sich bei dem Mann und kam zu ihnen.

»Guten Tag, Herr Molberg. Wir haben noch einige Fragen an Sie. Wenn es möglich wäre, gleich hier, sonst müssten wir Sie extra noch einmal ins Präsidium bitten.«

»Gehen Sie doch einfach nach hinten ins Büro. Den Weg kennen Sie ja. Ich bin gleich bei Ihnen.«

Sie gingen an Molberg und dem Kunden vorbei nach hinten. Etwas unschlüssig standen sie herum, setzten sich aber schließlich doch, Maria auf den Stuhl hinter dem Schreibtisch und Hellwig Dreiblum auf den davor. Vor ihr lag ein aufgeschlagener Katalog mit Kunstgegenständen. Sie studierte die astronomisch hohen Preise, die unter den Kurzbeschreibungen der Objekte zu finden waren.

»Möchten Sie eine Kommode aus Kirschholz kaufen? Ist von 1878 und kostet nur schlappe viertausendsechshundert Euro.«

»Das ist ja ein richtiges Schnäppchen! Wenn ich meine Couchgarnitur von IKEA abbezahlt habe, werde ich darüber nachdenken.«

»Oder hier, der Silberleuchter, Barock, dreizehntausendfünfhundert Euro.«

»Würde sich sehr gut zu meinen Drucken an der Wand machen.«

Sie kicherten beide und Maria blätterte weiter in dem Hochglanzkatalog. Sie fand es erstaunlich, wie viel Geld manche Leute für ein antikes Stück auszugeben bereit waren. Auch wenn sie den Wunsch nachempfinden konnte, etwas Besonderes und Einmaliges zu besitzen.

Alexander Molberg erschien in der Tür und blieb dort abwartend stehen.

Maria und Hellwig Dreiblum standen auf.

»Wollen Sie sich vielleicht setzen?«, fragte Maria ihn und sah sich suchend nach einer dritten Sitzgelegenheit um. Aber Molberg schüttelte den Kopf. Offensichtlich wollte er sie so schnell wie möglich wieder loswerden.

»Die Obduktion Ihres Vaters hat heute Morgen stattgefunden, wie Sie wissen. Der Leichnam wurde freigegeben. Sie können die Beerdigung arrangieren.«

Jetzt setzte sich Molberg doch auf den Stuhl vor dem Schreibtisch, von dem Hellwig Dreiblum sich erhoben hatte.

»Die Obduktion hat unter anderem ergeben, dass Ihrem Vater im Nacken ein Stück Haut herausgeschnitten wurde. Wir fragen uns, warum der Mörder das gemacht hat. Vielleicht, um eine Tätowierung verschwinden zu lassen?«

»Ich bitte Sie! Mein Vater hatte keine Tätowierung. Zumindest habe ich nie eine gesehen. Das wäre mir mit Sicherheit aufgefallen.«

Maria warf ihrem Kollegen einen vielsagenden Blick zu. Wäre ja auch zu schön gewesen.

»Herr Molberg, wie Sie vielleicht den Medien entnommen haben, ist kürzlich ein weiterer Mord geschehen. Diesem Opfer wurde an der gleichen Stelle ein Stück aus der Nackenhaut herausgeschnitten.«

»Dann besteht doch eindeutig ein Zusammenhang zwischen den Morden?!«, rief Molberg und schaute von einem zum anderen. »Wenn es keine Tätowierung war, die der Mörder herausgeschnitten hat, dann vielleicht eine Art Trophäe, die er mitnehmen wollte?« Fragend sah er sie an. »Das hört man doch immer wieder, dass Mörder irgendetwas von ihren Opfern an sich nehmen.«

»Auch wir gehen davon aus, dass eine Verbindung zwischen beiden Verbrechen besteht. Wir wissen nur noch nicht, welche«, entgegnete Maria. »Wir werden den Mörder Ihres Vaters finden, Herr Molberg, seien Sie versichert.«

Er nickte schwach, so als würde er den Worten der Kommissarin keinen Glauben schenken.

»Wie weit sind Sie denn mit der Inventarliste? Haben Sie festgestellt, ob etwas fehlt?«

»Ich bin noch nicht ganz durch, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass nichts gestohlen wurde. Ich denke, in zwei Tagen habe ich alles durchgearbeitet.«

»Also kein Tattoo«, stellte Hellwig Dreiblum fest, als sie wieder draußen auf der Straße standen und zum Auto gingen. Maria blieb stehen und sah ihn direkt an.

»Es gibt drei Möglichkeiten. Erstens: Es gibt kein Tattoo. Zweitens: Sein Sohn hat es nie gesehen. Und drittens: …«

»… er hat gelogen.«

Blutiges Erbe in Dresden

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