Читать книгу Helen Sterling und das Geheimnis der Lady Jane Grey - Victoria Lancaster - Страница 10
Kapitel 6
ОглавлениеDas Taxi mit den beiden Frauen an Bord fuhr in der Brompton Road vor.
»Schau Helen, dass nenne ich jetzt stilecht. Du wirst dich wundern, wer sich hier alles so tummelt.« Helen schaute nach oben und die Reklame des Luxuskaufhauses Harrods strahlte ihr entgegen. Ein freundlicher Mann im Anzug öffnete ihnen die Tür und wünschte ihnen einen angenehmen Aufenthalt. Sie gingen an sündhaft teuren Handtaschen vorbei. Ob rote, grüne, schwarze oder pinke Taschen. Jede Farbe war hier vertreten. Aus Büffelleder oder Krokodil, als Baguette-Tasche oder Clutch, jeder Frauenwunsch wurde hier erfüllt. Hinter jeder Theke lächelten adrett gekleidete Damen, die ihnen die Produkte präsentierten. Helen hakte sich bei Titania unter, aber nur, um ihre Freundin dezent weiter zu ziehen. Sie wusste exakt, wie anfällig sie für Taschen und Schuhe war. Gern zeigte sie auf eine Tasche und sagte Sätze wie: »Aber genau SO eine besitze ich noch nicht!« Titania musste sich noch nie Gedanken um Geld machen. Woher das Vermögen der Familie stammte, wusste Helen aber nicht. Voraussetzung für die elterliche Fürsorge war allerdings ein abgeschlossenes Studium. So entschied sich Titania damals für Geschichte an der Universität.
Nach einer nicht zu enden scheinenden Fahrt auf der Rolltreppe, vorbei an ägyptischen Statuen und Verzierungen, erreichten sie The Georgian in der vierten Etage. »Miss McAllister!« Ein großer schlanker Mann um die 50 kam entzückt auf sie zu. »Ich bin höchst erfreut Sie zu sehen. Bitte folgen Sie mir, meine Damen. Möchten Sie wie gewohnt Teezeit machen?«
Titania flüsterte zu Helen: »Ich bin eindeutig zu oft hier.« Dann sagte sie hörbar lauter: »Ja bitte Dennis, alles wie immer.« Dennis führte sie zu einem Tisch, der recht mittig im Restaurant stand. Wie gewöhnlich eilten weitere Kellner herbei, um ihnen sofort die Mäntel abzunehmen und um ihnen anschließend den Stuhl heranzurücken. Für eine Teezeit war das Harrods eine der ersten Adressen in London. Alles war sehr edel und geschmackvoll eingerichtet. In das luxuriöse Etablissement kamen immer wieder Touristen, die für dieses Erlebnis ihr Sparschwein plünderten. Helen legte sich gerade die weiße Stoffserviette auf ihren Schoß, als schon zwei Kellner jeweils eine Kanne mit schwarzem Tee brachten. Sobald den Frauen die Tassen eingegossen wurden, kam Dennis mit einer Etagere voller Leckereien. Auf der untersten Etage befanden sich Sandwiches mit Lachs, Roastbeef, Geflügelsalat und Frischkäse. Natürlich hatten diese Schnittchen keinen Rand mehr am Brot. Wo käme man denn hin, wenn die Upperclass Brot mit Rand essen müsste? Neben den Schnittchen lagen noch zwei kleine Pasteten, gefüllt mit Käse. In der mittleren Etage standen drei kleine Schalen. Eine mit Clotted Cream, eine mit Erdbeermarmelade und eine mit Lemon Curd. Auf der dritten und obersten Etage lagen fünf Meisterwerke der Patisserie-Kunst. Helen und Titania machten sich sofort über die Sandwiches her. Das waren fast zehn Minuten einträchtiger Ruhe am Tisch, beide waren mit dem Genießen beschäftigt. Sobald auch Helen das letzte Krümelchen ihrer Pastete aufaß, räumte Dennis die benutzten Teller ab. Währenddessen goss eine junge Frau ihnen eine weitere Tasse Tee ein. Es war nahezu eine Todsünde sich den Tee selbst einzugießen. Die Angestellten in dem Restaurant waren vermutlich darauf geschult zu registrieren, wann ein Gast durstig war und eine weitere Tasse Tee benötigte. Dennis brachte zwei neue Teller und die noch warmen Scones. Zwei Stück, gespickt mit Rosinen, lagen neben zwei rosinenfreie Scones. Titania nahm sich von jeder Sorte einen und schnitt sie auf. Helen tat es ebenso. Gerade, als Helen die einzelnen Hälften mit Clotted Cream sorgfältig bestrich, eröffnete die Elfe das Gespräch: »Also Liebes, wir haben noch einen weiten Weg vor uns«, sagte sie ernst. »Wir müssen überlegen, wie wir jetzt vorgehen. Wo soll ich denn nur anfangen?« Sie trommelte mit den Fingern auf dem Tisch herum.
»Ich weiß es nicht«, sagte Helen, »Sag mir doch einfach, was es denn noch für Lebewesen gibt außer Elfen, Zwerge, Sandmenschen und Orks.«
»Darüber gibt es prinzipiell keine Übersicht, viele sind nicht mal auf Anhieb zu erkennen. Aber es gibt noch viele Feen, Vampire, Gestaltwandler,.. «
»Feen?«, unterbrach sie Helen, während sie sich den letzten Bissen eines halben Scones in den Mund steckte. »Erfüllen sie Wünsche? Und haben sie so kleine Flügelchen?«
Nahezu gewalttätig steckte Titania ihren Löffel in das Triffle, dass Dennis beiden Frauen gerade in Gläsern brachte. »Dafür könnte ich Disney verklagen. Feen sind NICHT klein, besitzen keine Flügel und erfüllen schon gar keine Wünsche. Feen sind schöne Lebewesen. Sie sehen unwiderstehlich aus. Viele Frauen fallen auf männliche Feen rein. Ein schöner Körper, machen dir die schönsten Komplimente …. meine Güte, ich lerne das auch nie. Das sind unglaublich heiße Nächte.« Die Spitzen ihrer Ohren verfärbten sich wieder ein bisschen rot.
»Du weichst ab, Titania.«, ermahnte Helen sie.
»Oh ja, sorry. Jedenfalls, kam dir bei George oder Brad noch nie etwas komisch vor?«
»Das erklärt allerdings so einiges. Erzähl´ mir mehr.«
»Feenwesen sind begnadete Sänger. Viele von ihnen haben eine so eindringliche und wunderschöne Stimme, dass sie im Musikgeschäft ganz oben mitmischen.«
»Nenne mir jemanden«, bat Helen sie.
»Naja, zwei der fünf Spice Girls sind Feen. Und dann hätten wir da noch Amy und Whitney.«
»Aber die letzten beiden sind leider schon tot«, bemerkte Helen.
»Leider. Und da wären wir schon bei der Schwäche von Feen. Sie sind so unendlich talentiert. Aber sie sind auch außerordentlich anfällig für Süchte jeglicher Art. Einige können nicht mehr ohne den Ruhm leben, andere sind süchtig nach Liebe oder verfallen viel schlimmeren Süchten: Drogen, Alkohol, Glücksspiel. Amy ist der beste Beweis dafür, dass dir ein gottgegebenes Talent auch Prüfungen im Leben beschert. Manchmal ist es schlimm zu sehen, wie sich eine Fee zu Boden richtet, auch, wenn Amy nur zur Hälfte Fee war. Aber das betrifft bei Weitem nicht alle. Einige sind auch extrem diszipliniert oder haben verdammt gute Therapeuten.«
Helen schob sich ein winziges Schokoladenkuchenstückchen, garniert mit einer goldenen Haselnuss, in den Mund. »Also welche zwei Spice …«
»HEEEELEN!« Eine hohe, schrille Stimme kreischte schamlos in Helens Ohr. Sie verschluckte sich fast am letzten Bissen. Eine leicht übergewichtige Frau in ihrem Alter zog sich einen Stuhl heran und setzte sich genau zwischen sie und Titania. »Nein, was ist das schön dich hier zu sehen. Ich bin ja öfter hier in Harrods, aber dich habe ich ja Ewigkeiten nicht gesehen. Schon gar nicht in einem Luxuskaufhaus.« Die Frau betonte jede einzelne Silbe des Wortes Luxuskaufhaus, als würde man Silbenklatschen spielen mit kleinen Kindern.
»Suzie Peters, welch unbändige Freude«, log Helen sie unverhohlen an, ohne sich dabei auch nur zu bemühen, ihre Genervtheit zu verbergen. Suzie hielt ihr Näschen etwas nach oben und schüttelte ihr schwarz gefärbtes Haar, als regnete es jeden Augenblick Diamanten daraus. Titania ignorierte sie gekonnt. »Ach stimmt ja. Da war ja diese Sache mir Joshua. Ich las es in der Zeitung. Das tut mir leid. Muss schlimm für dich gewesen sein.« Sie zupfte an ihrem goldfarbenen Oberteil, dass es nicht schaffte, die Speckröllchen gänzlich zu kaschieren.
»Ja, das ist schlimm. Danke für dein Beileid.« In Helens Stimme lag ein frostiger Ton.
»Wenn ich bedenke, dass meinen Mädchen etwas passieren könnte, nicht auszudenken! Aber sie machen auch so viele Dinge, wo etwas passieren kann. Reiten, Cricket, Schwimmen, Polo… meine Güte, selbst ihre Ballettstunden sind vermutlich nicht ohne Gefahren. Habt ihr gelesen, was neuerdings alles in London los ist? Es verschwinden ja so viele Menschen. Und vorgestern der Einbruch in die Nationalgalerie. Schlimm schlimm schlimm.« Suzie machte eine dramatische Pause, offensichtlich in der Hoffnung, jemand könnte sich beeindruckt zeigen. Sie sah, wie Helen die Arme verschränkte, und plapperte weiter: »Und dann das viele Reisen. Wir kommen ja gerade aus Dubai wieder. Das solltest du auch mal sehen.«
»Oh ja, der viele heiße Wüstensand muss toll sein«, murmelte Titania in ihre Teetasse.
»Absolut!« Suzie fasste diese Ironie als Kompliment auf. »Ich bin ja auch so dankbar für Harald. Das ausgerechnet ein Mann wie er mich zur Frau nahm. Da muss man einfach froh sein. Und man wird ja auch nicht jünger. Wie sieht es bei dir aus? Schon verlobt oder zumindest vergeben? Oh offenbar nicht, ich sehe schließlich keinen Ring an deinem Finger. Wie bedauerlich, wirklich. Na du warst ja schon damals in der Schule ein wenig, wie soll ich sagen, anders. Introvertierter. Ach schau, schon so spät.« Suzie schaute theatralisch auf ihre mit Diamanten besetzte Armbanduhr. Es war verwunderlich, dass sie vor lauter Gold und Steinen überhaupt noch die Zeit ablesen konnte.
»So Helen, es war wirklich zauberhaft mit dir gequatscht zu haben, wirklich wirklich wirklich. Aber ich muss die Mädchen vom Querflötenunterricht abholen. Taaaaa.« Ohne eine Antwort abzuwarten, erhob sie sich, schüttelte wie einstudiert ihr Haar und verließ das Restaurant.
»So so, du warst also schon immer etwas anders?« Titania grinste Helen an.
»Anscheinend. Sag mir, dass sie auch anders ist. Dafür muss es eine eigene Kategorie geben.«
»Ich konnte nichts sehen. Aber man kann auch nicht alles und jeden auf dem ersten Blick erkennen. Komm´, lass uns nach Hause fahren. Wir müssen unser weiteres Vorgehen planen.«
Titania zahlte mit einer ihrer unzähligen Kreditkarten und Dennis war höchst erfreut über ein üppiges Trinkgeld. Sie nahmen ein Taxi zurück zu Helens Haus, unterwegs holte Titania aus ihrem eigenen Apartment noch die nötigsten Dinge, um für ein paar Tage bei Helen einzuziehen. Als sie vor Helens Haus vorfuhren, war es mittlerweile später Nachmittag. Die beginnende Dunkelheit senke sich langsam herab. Helen lag auf der Couch und betrachtete im Schein des lodernden Kamins ihre Tätowierung.
»Was meinst du, was die alles kann?«, fragte sie ihre Freundin, die gerade in einem Modemagazin blätterte.
»Weiß ich nicht, Liebes. Ich wusste bis heute Mittag nicht einmal, dass es so was wirklich gibt. Ich hielt es immer für eine Legende. Merkst du irgendeine Kraft?«
Helen schwenkte den Arm hin und her. »Nein, bis jetzt noch nicht.«
»Vielleicht bist du ja jetzt unverwundbar?!« Titania ließ die Zeitschrift sinken. »Ich könnte ein Messer holen und dann …«
»Wage es ja nicht!« Helen versteckte reflexartig ihren rechten Arm hinter ihren Rücken. Gerade als die Elfe etwas sagen wollte, klingelte es an der Tür. Helen schwang sich von der Couch hoch und rief Titania zu »Ich gehe schnell. Wehe, du legst in der Zwischenzeit irgendwelche Folterwerkzeuge parat.« Sie ging den schmalen Flur entlang zur Eingangstür. Diese war aus schwarzlackiertem Holz und durch das Bleiglas konnte man nur eine verzerrte Gestalt ausmachen. Es läutete erneut. »Ich komme ja schon«, rief Helen dem unbekannten Besuch entgegen. Sherlock lief an ihr vorbei und sprang die Treppe hinauf in das erste Stockwerk. »Schisser«, murmelte Helen ihm hinterher.
An der Wand neben der Haustür befand sich eine Gegensprechanlage, die mit einem Monitor ausgestattet war. So konnte man vor der Tür, sowie vor der Tür zum Garten, immer sehen, wer vor dem Hauseingang stand. Niemand wollte in diesem Viertel sein Vermögen mit Dieben teilen. Helen drückte auf einem Knopf und sah einen Polizisten und einen zweiten Mann davor stehen. Die Druidin erkannte ihn sofort: Owen. Sie drückte auf einen weiteren Knopf.
»Ja bitte?« Während der Uniformierte genau die Kamera im Blick behielt, antworte Owen: »Helen, wir haben Neuigkeiten zum Tod von Joshua. Könnten Sie uns bitte rein lassen?«
Titania, die mittlerweile neben ihr stand, rümpfte ihre Nase. »Der Typ in der Uniform sieht seltsam aus. Findest du nicht, dass er etwas nervös wirkt?« Beide konnten beobachten, wie er an seine Hand an den Schlagstock am Gürtel legte. Helen drückte erneut den Knopf und beide hörten noch, wie der vermeintliche Polizist zu Owen sagte: »…zwei gegen eine. Wir machen es wie besprochen.«
Die beiden Frauen tauschten vielsagende Blicke aus. »Wir haben keine Zeit für einen Plan, Darling. Halt du sie hin, ich lasse mir was einfallen.« Titania schlüpfte aus ihren High Heels und schlich lautlos in die Küche. Während Owen ein zweites Mal klingelte, öffnete Helen ihm die Tür. Er sah sie grimmig an. »Das ist Constable Ricks«, Owen deutete mit dem Kopf auf den Typen neben ihm. Der war schätzungsweise 1,90 m groß und kräftig. Seine schmalzigen schwarzen Haare lagen angeklebt am Kopf. Er bleckte seine schneeweißen Zähne und grinste Helen an. Ihr fiel auf, dass seine Haut eine merkwürdige Farbe hatte, gerade so, als hätte er Make-up benutzt. Beide Männer setzten sich in Bewegung und gingen unaufgefordert in das Haus. Helen schloss die Tür und folgte beiden in die Küche. Owen kannte sich durch die Ermittlungen gut aus.
»Wo ist sie?«, blaffte Ricks sie an. Unter seinen Achseln bildeten sich deutliche Schweißflecke.
»Wo ist wer?« Helen dachte, sie würden auf Titania anspielen.
»Quatsch nicht so viel. Wir wollen die Kugel. Gib sie uns und es wird schnell gehen für dich.« Der Fleischberg vor ihr nieste unappetitlich in seine Armhöhle.
»Owen, was ist hier los?« In ihrer Stimme schwang Panik mit.
»Wir sind hier um die Kugel zu holen. Das ist Constable Ricks. Geben Sie sie uns.«
»Verschwinden Sie aus meinem Haus, alle beide!« Helen konnte ihre Angst nicht länger unterdrücken.
»Wir sind hier, um die Kugel zu holen. Das ist Constable Ricks. Geben …« Owen fasste sich an den Kopf, als quälten ihn heftige Kopfschmerzen.
Ricks zog seinen Schlagstock. »Die Kugel, sofort!«
»Ich denke nicht.« Helen griff nach hinten auf die Arbeitsfläche ihrer Küche und versuchte, irgendetwas zu greifen zu bekommen. Ricks stürzte in einem Satz auf sie zu. Sie bekam noch rechtzeitig etwas zu greifen und zog ihm im letzten Augenblick einen Fleischhammer über den bulligen Schädel. Er taumelte und griff sich an den Kopf. Blut tropfte aus einer Wunde an der Schläfe. Jetzt wurde Helen auch alles klar. Der Polizist wischte sich das Blut aus seinem Gesicht und damit auch die Farbe ab. Zum Vorschein kam ein dunkelgrünes Gesicht. »Sie sind ein Ork! Owen, jetzt tun Sie doch was!«
»King, töten Sie die Frau. Sie ist die Mörderin.« Owen richtete sich auf und Helen sah noch nie da gewesene Wut in seinen Augen.
»Nein, Owen, bitte …«, war das Letzte, was Helen hervorbringen konnte, ehe er seine Hände fest um ihren Hals legte.
»Sie stecken dahinter?!« Speichelfäden kamen aus seinem Mund geschossen, der Hass stand ihm in die Augen geschrieben. Helen wurde schwindelig, panisch schlug sie mit den Fäusten gegen ihren Angreifer. Sie sah aus dem Augenwinkel, dass der Ork zu einem Beil griff, das in einem Messerblock auf der Kücheninsel steckte. Kurz bevor sie das Bewusstsein zu verlieren drohte, sprang von hinten eine kleine Person auf den Ork. Titania hielt einen Gürtel in ihren Händen und schlang diesen um den Hals des Angreifers. Die Knie drückte sie fest in Ricks seitliche Fleischberge und so sah es aus, als würde sie eine Art Ork-Rodeo machen. In diesem Moment war Owen abgelenkt und schaute zu den beiden rüber. Sein Griff lockerte sich kurzzeitig und durch Helens Hauptschlagader floss ein paar Sekunden wieder Blut. Energisch packte sie Owens linken Arm mit ihrer rechten Hand. Unerwartet schrie er auf und ließ ihren Hals los. Ihr Tattoo begann zaghaft an ihrem Handgelenk aufzuleuchten. Instinktiv ließ sie Owens Arm nicht los, sondern drückte nur noch fester zu. Sein Gesicht verfärbte sich vor Schmerz dunkelrot, als er in die Knie vor ihr ging, die Hand zur Faust geballt. Sie konnte sehen, wie ihm Tränen aus den Augenwinkeln flossen, während er die Zähne zusammen biss, um die Schmerzen zu ertragen. Helen spürte eine unglaubliche Hitze, die sich in ihrer Handfläche ausbreitete, als Owen in diesem Moment einen lauten Schmerzensschrei ausstieß. Sie ließ ihn los und sah, dass seine Haut unter ihrem Griff verbrannt aussah. Immer noch auf den Knien liegend sah er sie mit flehenden Blick an. »Jennifer, bitte tue es nicht. Ich bitte dich. Denk doch an die Kinder.« Der Schmerz in seinen Augen erschrak Helen. Ein dumpfes Geräusch lenkte ihre Aufmerksamkeit auf Titania, die gerade auf dem ohnmächtigen Ork zu Boden fiel und unsanft seitlich unter ihm landete. Daneben stand eine Person mit einer Bratpfanne in der Hand. Diese kam jetzt auch zu Helen rüber. KLONG, nun ging auch Owen bewusstlos zu Boden. »Bratpfannen, man darf sie einfach nicht unterschätzen! Geht es dir gut, Kind?«
»Granny!?« Vor Helen stand eine 72 Jährige Dame, gekleidet in einer beigen Stoffhose und rosafarbenem Twinset, mit kurzen lockigen weißen Haaren. In der Hand hielt diese resolute und kleine Person eine Pfanne.
»Ja, dachtest du denn, ich lasse dich hier allein?« Ihre Oma schaute sie fragend an.
»Aber du lebst in einem Altenheim und sitzt im Rollstuhl!« Man konnte fast einen vorwurfsvollen Ton in der Stimmlage ihrer Enkelin feststellen.
»Alles nur Tarnung«, erwiderte ihre Großmutter.
»Hallo? Denkt auch jemand an mich?« Titania jammerte sich wieder in das Bewusstsein der beiden anwesenden Frauen. Helen und ihre Oma zogen mit vereinten Kräften den noch bewusstlosen Ork von Titania. Ihr linker Fußknöchel war fast auf das Doppelte angeschwollen.
»Sieht arg verstaucht aus«, bemerkte Helen.
»Dann mach ihn doch heil«, erhielt sie von ihrer Oma zur Antwort. »Okay, ich hole den Verbandskasten.« Helen richtete sich vom Küchenboden wieder auf, nur damit ihre Oma sie gleich wieder am Ärmel nach unten zog.
»Nein nein nein, leg deine rechte Hand darauf und konzentriere dich. Lass deine Energie hinein fließen.«
»Hä?«, fragte Helen.
»Du bist nicht die erste Druidin in der Familie. Dein Großvater war einer und ich bin ebenfalls Sehende. Also vertraue mir.«
»Das klären wir gleich noch.« Zögerlich legte Helen ihre Hand auf Titanias Knöchel.
»Wehe, ich habe danach einen Huf«, presste die Elfe durch die Zähne. Alle drei Frauen starrten auf den Fußknöchel. Nichts passierte. Helen schloss die Augen und bündelte ihre Gedanken so stark wie sie konnte auf Titania. Sie dachte an die vielen lustigen Momente, die sie mit ihrer Freundin hatte und empfand große Dankbarkeit, dass sie immer bedingungslos auf ihrer Seite stand. Sie fühlte eine angenehme Wärme aus der Mitte ihres Körpers entspringen, die durch ihren rechten Armen weiter floss. Durch ihre Hand spürte sie nicht nur die Wärme fließen, sondern auch ein Kribbeln. Langsam öffnete sie vorsichtig die Augen. Ihr Mistelzweig am Handgelenk leuchtete wieder auf, umrandet von einem blauen Licht. Unter ihrer Hand konnte sie gleichermaßen das Licht erkennen. Als es aufhörte, nahm sie ihre Hand von Titanias Knöchel.
»Er sieht wieder völlig normal aus«, stellte Helen zu ihrer eigenen Verwunderung fest.
»Natürlich Liebling. Dafür bist du ja Druidin. Ich glaube, wir müssen reden.«
»Gute Idee. Aber könnten wir dabei bitte was essen?« Das Knurren ihres Magens war laut zu hören. »Und was machen wir eigentlich mit den beiden?« Sie schaute besorgt auf die am Boden liegenden Männer. Helens Großmutter nahm ihre Handtasche, die sie während des gesamten Angriffs über in der Armbeuge trug, und kramte darin. Unter leisem Gemurmel und begleitet von einem lang gezogenen »Ahhh« zog sie zwei paar Handschellen heraus. Diese sahen aber im Vergleich zu normalen Handschellen der Polizei anders aus. Ihre Farbe glich dem eines Rubins und sie waren sehr viel dicker.
»Aus was sind die gefertigt?«, fragte Helen neugierig.
»Die sind aus Furien-Krallen und Druidenstein hergestellt.« Da das Gesicht ihrer Enkelin Bände sprach, erklärte sie es ihr. »Furien sind Wesen mit ausgesprochenem Gerechtigkeitssinn und einer extrem hohen Moral. Weiterhin besitzen ihre Krallen die Eigenschaft, dass sie, egal was sie halten, ihren Gegner wehrlos machen. Der Druidenstein entsteht, wenn das Blut eines Druiden auf einen Diamanten fällt. Diese Steine sind so rein, dass sie das Blut sofort aufsaugen. Sie verstärken die Kraft der Furien-Krallen um ein Vielfaches.«
Als der Ork ein leises Stöhnen von sich gab, zog Titania ihm die Pfanne, die immer noch neben den drei Frauen lag, erneut über den Schädel. Alle drei beeilten sich, den beiden Männern die Handschellen anzulegen. Vorsichtshalber banden Helen und Titania ihnen noch die Beine mit Gürteln zusammen und stopften ihnen jeweils ein Paar Socken in den Mund. Als es an der Tür klingelte, wechselten die jungen Frauen nervöse Blicke. Helens Großmutter ging seelenruhig zur Tür und kam zwei Minuten später mit zwei großen Pizzaschachteln zurück, gefolgt von zwei Frauen. Beide wirkten mindestens einen Kopf größer als Helen und schauten ernst drein. Ihr Erscheinungsbild glich des eines Menschen, aber statt gewöhnlicher Hände, wirkten ihre groß und beschuppt. Aus ihren kräftigen langen Fingern konnte Helen gräuliche Krallen erkennen, die spitz am Ende mit langen Nägeln zuliefen.
»Dachtest du, ich lasse meine Enkelin verhungern?«, fragte sie und ging zum Esstisch am Fenster. »Ach ja, das sind die Damen Olivia und Amy, ihres Zeichens Furien. Sie geleiten unsere Gäste zu einer passenderen Unterbringung.« Die beiden Furien nickten nur knapp in Titanias und Helens Richtung. Stumm griff sich jeweils eine der Furien einen der bewusstlosen Angreifer am Kragen und schulterte ihn mühelos. Mit jeweils einem Mann über der Schulter, verließen Amy und Olivia das Haus und legten ihre Bündel auf den Boden eines weißen Transporters. Helen folgte tief beeindruckt ihrer Großmutter an den Tisch. Noch nie hatte sie so einen starken Hunger. Wie ein ausgehungerter Tiger stürzte sich die Druidin auf die Pizza.
»Ich kann mich nicht erinnern, jemals so hungrig gewesen zu sein«, stieß sie mit vollen Mund hervor.
»Das kommt vom Energieverbrauch. Deine Kräfte verbrauchen enorm viel davon. Du solltest ab sofort immer etwas Essbares in der Tasche haben. Deshalb bat ich auch die Damen, auf ihrer Fahrt hierher etwas mitzubringen.«
Die alte Dame schaute Titania über den Tisch hinweg. »Ich befürchte, wir wurden einander noch nicht vorgestellt. Ich bin Evelyn Sterling, Helens Großmutter väterlicherseits.«
»Titania. Titania McAllister. Ich bin hocherfreut Sie kennenzulernen.« Titania lächelte Evelyn breit an.
»McAllister? Ist Ihre Mutter nicht Schauspielerin? Ich sah sie neulich in einer Inszenierung von Die lustigen Weiber von Windsor, denke ich.«
»Ja ja ja!« Titanias Augen leuchten. »Das war eine großartige Vorstellung, nicht wahr?«
Helen stopfte sich ein weiteres Stück Pizza in den Mund. »Granny, das musst du mir erklären. Bei meinem letzten Besuch hast du in einem Rollstuhl gesessen. Was in aller Welt ist passiert?«
Und ihre Großmutter erklärte ihnen alles. Sie begann bei ihrem verstorbenen Ehemann Walter, der auch ein Druide war, seit sie beide bei einem Spaziergang im Park diese Kugel fanden. Und von Jonathan, der Bruder ihres Mannes, der ebenfalls bei ihnen war. Walter konnte die Kugel öffnen und sie hörten die Melodie. Da es spät am Abend war, schienen sie die einzigen Spaziergänger in Sichtweite zu sein. So konnten sie auch erst beim Verlassen des Parks sehen, was die Konsequenz des ganzen war: Überall neue Lebewesen und eine Tätowierung an Walters Handgelenk. Sie erzählte auch, dass Jonathan diese andere Welt schlechter akzeptieren konnte. »Selbstlos löste mein Walter die Probleme aller Lebewesen. Sein stets freundliches Gemüt wirkte immer vertrauenserweckend. Er wurde respektiert und gebraucht, von vielen sogar geliebt. Jonathan hingegen sah immer nur seinen Vorteil in allen Dingen. Schnell bemerkte er, dass viele Dinge Kräfte hatten, die sie wertvoll werden ließ. Er fing an damit zu handeln. Dein Onkel zog auf’s Land und die Brüder entfernten sich immer weiter voneinander.« Evelyns Blick wirkte traurig und müde. Sie erzählte, wie sehr sie sich über David, ihren Sohn, freuten. Sie beschlossen bei seiner Geburt, ihm nie von dieser anderen Welt zu erzählen, so lange er noch ein Kind war. Wie rasch die Jahre ins Land zogen, während Walter die beiden Welten im Gleichgewicht hielt und David weit entfernt auf ein Internat ging. Zu sehr fürchteten die Eltern, dass ihm etwas zustoßen könnten. Bis er dann mit Helens Mutter als Verlobte zurückkam. »Wir fanden nie den rechten Augenblick, um ihn sehend zu machen. Aber deine Mutter war bereits mit Joshua schwanger und wir brachten es einfach nicht über’s Herz.«
»Aber was ist dann mit ihm passiert?«, platzte es aus Titania heraus.
»Joshua war gerade 4 Jahre alt, an Helen dachte zu diesem Zeitpunkt noch niemand. Er war bei uns zu Besuch über ein Wochenende. Frag mich nicht, wie er es geschafft hat, aber er fand im Büro deines Großvaters die Kugel und konnte sie auch öffnen. Ein sehender Vierjähriger, stellt euch das mal vor! Trotz all unserer Versuche redete er nur noch von dem, was er sah. Er konnte es nicht verstehen. Anfangs dachten deine Eltern, er hätte eine lebhafte Fantasie. Doch es wurde immer schlimmer mit der Zeit und sie wussten sich keinen Rat mehr. Als du auf der Welt warst und eure Mutter mit euch einmal spazieren ging, verprügelte er ein anderes Kind und beschimpfte ihn als einen dreckigen Grünen. Sie fürchteten, er könne auch dir etwas antun. Eines Abends erfuhren wir, dass er zu einem Psychiater sollte. Dein Großvater und ich entwickelten folgenden Plan: Wir riefen Jonathan an und baten ihn um Hilfe. Wir alle waren verzweifelt. Dann ging alles viel leichter als gedacht. Wir schlugen einen gewissen Dr. John Smith als Nervenarzt für Joshua vor, einen der angeblich renommiertesten Spezialisten für Kinderpsychiatrie. Sie riefen ihn natürlich an und Jonathan gab sich als Arzt aus. Reden konnte er schon immer gut, deine Eltern hatten absolut keine Zweifel an seiner Professionalität. Er stattete ihnen einen Hausbesuch ab und bestand darauf, dass dein Bruder augenblicklich in eine Klinik eingewiesen werde müsse. Jonathan nahm seinen Neffen mit auf das Land und zog ihn groß. Deine Eltern erhielten regelmäßig Anrufe von Dr. Smith, in denen er ihnen mitteilte, dass sich der geistige Gesundheitszustand von Joshua noch nicht gebessert hätte. Dass er höchst aggressiv wäre und ihr Besuch ihn nur aufregen würde. Das war eine so schwere Zeit für sie. Für uns alle. Und du warst ja noch so klein.« Evelyn schnäuzte in ihr Taschentuch. »Aber,« sie holte tief Luft und fuhr fort, »dein Großvater und ich besuchten ihn häufig. Jonathan kümmerte sich hervorragend um ihn. Er unterrichtete ihn privat und lehrte ihn, mit der Gabe umzugehen. Erst als Jonathan vor drei Jahren starb, zog dein Bruder in die Stadt.«
»Wir starb er?«, fragten Helen und Titania im Chor.
»Das war schlimm. Sein Landhaus geriet in Brand, vermutlich durch eine Kerze. Wir wollten ihn besuchen und stiegen gerade aus dem Auto, als wir die Hilfeschreie deines Bruders hörten. Dein Großvater hat noch versucht, Jonathan zu retten, nachdem er Joshua aus den Flammen holte, aber das Feuer nahm beide mit in den Tod.« Evelyn wischte mit dem Handrücken eine Träne aus ihrem Gesicht. »Joshua erbte natürlich laut Testament alles, einschließlich dieses Hauses hier. Der Handel meines Schwagers muss sich wohl gelohnt haben.« Sie rümpfte kaum merkbar die Nase, während sie sich in der luxuriösen Küche umschaute.
Helen klaubte nachdenklich die letzten Krümel aus dem Pizzakarton zusammen. »Granny«, begann sie, »woher wusstest du denn, dass ich jetzt Druidin bin?« Evelyns Gesicht hellte sich merklich auf, dankbar für den Themenwechsel. »Die Rainbowhill Seniorenresidenz ist nur für Sehende, inklusive aller Lebensformen – Elfen, Orks, Vampire. Das volle Programm. Dass wir senile Greise sind, spielen wir den Besuchern nur vor. Du dachtest auch immer, ich sitze im Rollstuhl. Weißt du eigentlich, wie anstrengend das ist? Den ganzen Tag rum zu sitzen und auf gebrechlich zu machen?« Ihre Enkeltochter prustete das Wasser, was sie gerade trank, quer über den Tisch und starrte sie mit großen Augen an. »Kindchen, wir haben eine Tarnung aufrecht zu erhalten. Schau mich bitte nicht so vorwurfsvoll an. Ein neuer Druide war das Gespräch in der Residenz. Wenn ich mich recht erinnere, wusste Mackie davon zuerst. Er hörte es von Kenny, der wiederum eine Cousine namens Cora hat. Die ist eine Gestaltwandlerin und hörte es von den Sittichen im Hyde Park.«
»Die Halsbandsittiche im Hyde Park«, ergänzte Titania, »sind Begleittiere der Sehenden. Das konntest du ja noch nicht wissen, weil dich dein Sittich noch nicht gefunden hat. Mein Sittich heißt übrigens Marilyn. Sie singt fantastisch.«
»Meiner heißt Columbus«, warf Evelyn ein. »Ich habe ihn besser nicht mitgenommen, er ist auch nicht mehr der Jüngste. Jedenfalls erzählte mir Mackie, dass er gehörte habe von besagten Quellen, dass ein neuer Druide in der Stadt sei. Nur Joshua hatte diese Kugel. Ich hatte Angst um dich, deswegen bin ich gleich hergekommen. Und wie man sieht, konnte der Zeitpunkt nicht besser sein. Ich habe dir im Übrigen etwas mitgebracht, was deinem Großvater gehörte.« Sie wühlte in ihrer Handtasche auf dem Schoß. Nasenspray, Blutdruckpillen, Taschentücher, ein Spiegel, das Portemonnaie, und endlich fand sie, was sie gesucht hatte: Ein goldenes Medaillon.
Vorsichtig nahm Helen es in ihre Hände. Es war ein ovales Schmuckstück aus mattem Gold. Auf der vorderen Seite waren zwei Blätter eines Mistelzweiges eingraviert und drei Mistelfrüchte. Mit dem Daumen fuhr sie die Linien der Gravur nach. Als sie es öffnete, konnte sie eine gläserne Oberfläche auf beiden Seiten erkennen. Zuerst dachte sie, es wäre eine Art Taschenspiegel. Dann sah sie aber etwas darin, das aussah wie Nebel.
»Was siehst du?«, fragte Evelyn. Ohne den Blick vom Medaillon zu wenden, antwortete ihre Enkelin: »Ich weiß nicht. Es wirkt verschwommen.« Je länger sie darauf starrte, umso deutlicher konnte sie es sehen. »Ich sehe ein Büro. Und viele Bücher in einem Regal. An der Wand hängt ein Bildnis von Sigmund Freud. Auf dem Schreibtisch steht ein Namensschild: Dr. Toni Stratford. Was hat das zu bedeuten Granny?«
»Das ist ein besonderes Schmuckstück, es wird dir immer in seinem Inneren zeigen, wo du dein nächstes Ziel findest. Es gehört nun dir, dein Großvater hätte es so gewollt.«
Helen klappte es zu und hängte es sich um den Hals. Das kalte Metall traf unangenehm auf ihre warme Haut, sie zuckte unwillkürlich etwas zurück mit dem Oberkörper. »Und wo finden wir jetzt diesen Dr. Stratford?«, fragte sie in die Runde.
Jetzt beteiligte sich auch wieder Titania am Gespräch. »Da du Freud gesehen hast, tippe ich darauf, dass die Furien die Herren in ein Sanatorium begleitet haben. Warum sonst, sollte das Medaillon dir das sonst anzeigen? Und da kenne ich nur eines in London für diese speziellen Fälle: das Blackhill Sanatorium. Es liegt nördlich von Hampstead. Dort müsste dann auch unser Doktor anzutreffen sein. Da es aber für uns alle ein langer Tag war, schlage ich vor, dass wir es morgen Früh erledigen. Heute Abend lässt uns da eh niemand mehr rein, zumindest nicht als Besucher.«