Читать книгу Helen Sterling und das Geheimnis der Lady Jane Grey - Victoria Lancaster - Страница 5
Kapitel 1
ОглавлениеRegen tropfte auf einen Grabstein an jenem düsteren Tag im Januar. Langsam lassen zwei Männer einen Sarg in ein sorgfältig ausgehobenes Grab. Helen fröstelte und zog die Schultern hoch, hinter ihr zogen graue Wolken am Himmel langsam entlang. Sie schaute ihrem Bruder hinterher, wie er in dieser Kiste immer tiefer in der Erde verschwand. Auf den Tag vor zwei Wochen fand ihn die Reinigungskraft. Merkwürdig verdreht lag er vor der Treppe. Sein Gesicht wirkte beinahe friedlich, so als würde er schlafen. Nur sein linkes Bein stand unnatürlich weg und sein Kopf wirkte ebenfalls seltsam überdreht. Das Schreien der Angestellten weckte die Nachbarn. Als Helen an jenem Mittag bei seinem Haus am Hyde Park eintraf, fand sie ein Meer an Blaulicht und Polizisten vor. Es war der Abend, an dem sie ihren Bruder erst zum dritten Mal in ihrem Leben sah. Auf dem Sterbebett verriet ihr ihre Mutter, dass sie einen älteren Bruder hätte. Sie gab ihrer Tochter einen Zettel mit dem Namen Joshua und einer Telefonnummer. Helen wollte ihrer Mutter unzählige Fragen stellen, aber die starken Schmerzmedikamente machten ihre Mutter zu schläfrig. Noch in der selben Nacht schloss sie für immer ihre Augen. Den Kampf gegen den Krebs konnte sie nicht gewinnen.
Es vergingen mehrere Wochen, bevor sich die junge Frau traute, die Nummer von dem Zettel zu wählen. Das erste Treffen verlief schüchtern, aber angenehm. Sie trafen sich auf eine Tasse Tee und sie erzählte von ihrem Leben. Er hörte ihr geduldig zu und neckte sie, wie es sich vermutlich für große Brüder gehörte. Beim zweiten Treffen fragte sie ihn nach seinem Leben aus. Joshua reagierte verhalten und meinte, er würde sie nur langweilen damit. Also sprachen sie über Belanglosigkeiten. Beim letzten Telefonat klang er gehetzt und meinte, er müsse dringend mit ihr reden. Bei ihrem dritten Treffen war Joshua tot.
Es kam Helen nie in den Sinn, dass der Tod beide so schnell trennen sollte.
»Miss Sterling?«, fragte eine tiefe Stimme hinter ihr.
»Nennen Sie mich Helen, Sergeant Owen King. Sie unterstellten mir doch so oft Mord im Verhör, da brauchen wir jetzt auch nicht mehr förmlich sein.« Langsam drehte sie sich zu Owen King um. Unter anderen Umständen hätte sie ihn attraktiv gefunden. Er war circa 1,80 m groß, hatte fast pechschwarze Haare und rehbraune Augen. Seine grauen Schläfen verliehen ihm ein reifes Aussehen. Owen war er ein charmanter Kerl. Wenn er ihr nur nicht den Mord an ihrem Bruder unterstellt hätte.
»Was machen Sie hier eigentlich? Ich habe meinen Bruder gerade beerdigt. Schämen Sie sich nicht, einfach auf einem Begräbnis aufzutauchen?«
Owen blinzelte sie an. »Miss Sterling, … Helen … ich wollte Ihnen keine Unannehmlichkeiten bereiten. Im Grunde genommen wollte ich Ihnen nur mein Beileid aussprechen. Im Übrigen gibt es Neuigkeiten, die den Tod ihres Bruders betreffen. Darf ich Sie auf eine Tasse Tee einladen, um Ihnen alles zu erzählen?«
Helen nickte zögernd und erwiderte: »Ich kenne ein nettes Café in der Nähe, dort können wir ungestört reden.« Sie wärmte ihre klammen Finger in die Taschen ihres schwarzen Wollmantels.
Schweigend gingen beide über den Friedhof. Der kalte Wind blies ihnen ins Gesicht und die 5 Grad in London fühlten sich mit einem Schlag an wie 10 Grad unter Null. Ein paar Krähen erhoben sich schwerfällig von einer alten Eiche und trotzten dem Wind. Die Grabsteine standen willkürlich verteilt auf dem Friedhof, an vielen wucherte das Moos so stark, dass das Lesen von Namen unmöglich war.
Owen wagte einen kurzen Blick zur Seite. Helen war eine überaus attraktive Frau. 32 Jahre alt, nur ein wenig kleiner als er und naturschön. Sie benötigte kaum Schminke. Alles was sie zu verwenden schien, unterstrich nur ihre Schönheit. Ihre langen mahagoniebraunen Haare wehten im Wind. Er fühlte sich auch von ihrer kurvigen Figur angezogen. Sie war zwar schlank, aber nicht so dürr wie andere Frauen ihres Alters. Er mochte es als Mann nicht, wenn Frauen ständig ihre natürlichen Rundungen weg hungerten. Gleichwohl hatte sie etwas Geheimnisvolles an sich. Er konnte nicht einmal sagen, was es war. Aber es war etwas, dass ihn instinktiv davor warnte, sich mit dieser Art Frau einzulassen. Wobei seine Freundin vermutlich auch etwas dagegen hätte. Mary war ein Schatz. Lieb, hilfsbereit und nahezu tödlich langweilig. Sie machte ihm das Leben so einfach, dass er es schon langsam nicht mehr ertragen konnte. Sein Haus war stets sauber, seine Hemden makellos gebügelt und abends stand das Essen heiß auf dem Tisch, während Mary ihn überschwänglich begrüßte. Noch traute er sich nicht, sie zu verlassen. Owen befürchtete, ihn träfe augenblicklich eine Art göttlicher Zorn, wenn er so einem liebenswerten Geschöpf das Herz brechen würde. Im Übrigen könne er ihr nie vergessen, was sie für ihn tat. Gedankenverloren kratzte er sich an seinen Bartstoppeln.
Unweit des Friedhofs setzten sie sich in ein kleines Café. Diese Umgebung erdrückte ihn schier. Die Tische standen eng beisammen und die Sitzfläche der Stühle war unangenehm klein. Die Kellner schienen hier alle unnatürlich gut gelaunt zu sein. Jeder frostige Blick eines Gastes wurde mit dem breitesten Lächeln beantwortet, was ein Mensch nur hervorbringen kann. In der Auslage im Schaufenster verführte der Anblick von glänzenden Kuchen und Torten die vorbei gehenden Passanten. Wer konnte im Januar schon zu einem Stück Erdbeertorte Nein sagen? Die Kulisse einer verträumten französischen Patisserie wirkte beinahe tadellos.
Völlig gedankenverloren hörte er Helen sagen: »Owen, haben Sie mir überhaupt zugehört?«
»Ja, Entschuldigung … natürlich. Ich bin ganz Ihrer Meinung«, stammelte er.
»Prima, dann nehmen Sie also auch eine Tasse Earl Grey«, sagte Helen und gab sofort die Bestellung auf. Die junge Bedienung mit spanischem Akzent verschwand augenblicklich im hinteren Bereich des Lokals, nachdem sie sich lächelnd für die Bestellung bedankte. Keine drei Minuten später kam sie mit dem Tee zurück.
Erneut schwiegen sie sich über zwei dampfenden Teetassen an. »Also«, eröffnete Helen das Gespräch, »was wollten Sie mir erzählen?«
Gespannt beobachtete sie, wie Owen unruhig auf dem Stuhl umher rutschte.
»Wir fanden bei Ihrem Bruder einen Zettel. Ich hatte gehofft, Sie könnten mir die Bedeutung erklären.« Owen suchte in der Innentasche seines Jacketts nach der Kopie des Zettels, während Helen an ihrer Tasse Tee nippte, den sie ohne Milch und Zitrone genoss. Er räusperte sich kurz und begann vorzulesen:
»Die Melodie ist der Schlüssel. Es gibt Leute, die töten dafür! Die Geschichten sind alle wahr. Sie werden mich sicher kommen holen. Aber ich habe es versteckt. Suche an dem Ort, den ich am meisten hasse.«
»Was meinte Ihr Bruder damit? Wir können uns keinen Reim darauf machen.« Owen schaute Helen unverwandt an. Er wollte keine ihrer Reaktion verpassen. Ein Zucken oder ein Blinzeln konnte bereits ein erstes Anzeichen von Schuldigkeit sein, das hatte er in Verhören schon oft erlebt. Es war seine letzte Chance, eine vermeintliche Mörderin zu überführen. Joshua Sterling war schließlich das, was man am ehesten als wohlhabend bezeichnen konnte. Er besaß ein Haus in einem der besten Stadtteile Londons, sein Konto war gut gefüllt und es gab nur eine Erbin laut Testament: Helen Sterling. Seine Schwester, die wie aus dem Nichts auftauchte und nach kürzester Zeit aufgrund eines angeblichen Unfalls finanziell ausgesorgt hat.
Mit großen Augen sah sie den Polizisten an. »Das soll mein Bruder geschrieben haben? Das ergibt doch keinen Sinn! Hören Sie, Owen, mein Bruder war kein Verrückter. Weder schien er sonderlich musikalisch begabt, noch befand er sich auf irgendeinen albernen Miss-Marple-Trip. Es war ein verdammter Unfall. Ich weiß auch nicht, wer sich hier mit diesem schwachsinnigen Zettel einen Spaß erlaubt. Was wollen Sie mir als Nächstes erzählen? Dass Sie sicher sind, er wurde von Außerirdischen entführt? Lassen Sie mich mit Ihren albernen Theorien in Ruhe!« Ihr Gesicht verfärbte sich allmählich rot vor Zorn.
Owen knallte mit der Faust auf den Tisch. »Verdammt, Sie kannten den Kerl doch überhaupt nicht! Aber Sie fanden schnell heraus, dass er vor Geld stank. Und Sie wollen mir allen Ernstes erzählen, es wäre ein Unfall gewesen? Er lernt seine einzige Schwester kennen, macht sein Testament und fällt mit 39 Jahren tot die Treppe runter?! Die Scheiße nehme ich Ihnen nicht ab.« Beide sahen sich für wenige Sekunden stumm an. »Helen bitte, ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten«, beschwichtigte Owen sie. Er hatte es gerade ein bisschen übertrieben mit seinen Anschuldigungen, und das wusste er auch. Helen sprang vom Stuhl auf, sodass dieser mit einem lauten Geräusch an den dahinter stehenden Tisch stieß. Hastig zog sie ihren schwarzen Mantel über.
»Sie treten mir nicht zu nahe, Owen. Sie quälen mich. Joshua ist tot, er stolperte und fiel die Treppe runter. Lassen Sie es endlich gut sein und hören Sie auf, mich zu belästigen.« Sie warf eine Zwanzig-Pfund-Note auf den Tisch und verließ das Café. Ohne zurückzublicken hielt sie das nächstbeste schwarze Taxi an und ließ einen zerknirschten Seargent King zurück.
Endlich angekommen gab sie dem Fahrer ein großzügiges Trinkgeld und stieg aus. Der Tag war düster, kalt und nass. Es graute ihr davor, in das große, fremde Haus alleine zurückzukehren. Zumindest würde Sherlock auf sie warten, der Kater ihres Bruders. Bei Joshuas Anwalt war ein Testament hinterlegt, in dem Helen als Alleinerbin aufgeführt wurde. Sie zog vor einer Woche hier ein, mit festen Willen herauszufinden, wer ihr Bruder war. Sie wohnte bis dahin in einem schäbigen Apartment in Wimbledon. So war es für sie auch einfacher, sich auf die Beerdigung und sonstigen Behördengängen zu kümmern. Das Reihenhaus in der Westbourne Terrace war ein weißes Gebäude, welches um 1840 erbaut wurde. Die insgesamt vier Etagen waren äußerst luxuriös eingerichtet. Sieben Schlafzimmer, mehrere Bäder, eine Terrasse mit Blick auf’s Grüne, ein Heimkino. Helen hätte in ihrem Job als Stadtführerin gefühlte tausend Jahre arbeiten müssen, um sich dieses Haus leisten zu können. Als Historikerin war es nicht einfach, in London einen Job zu finden. Sie schlug sich mit geführten Touren durch. Ob die musikalische Seite Londons, auf den Spuren Jack the Rippers oder die üblichen Sehenswürdigkeiten. Helen konnte stundenlang den Touristen die Schönheiten dieser Stadt erklären. Und das tat sie auch. Abends schmerzten ihre Füße vom vielen Gehen. Das viele Stehen schadete ihrem Rücken gleichermaßen. Alles, was sie abends wollte, war ein heißes Bad und eine Flasche Rotwein. In ihrer alten Wohnung unter dem Dach gab es nur heißes Wasser, wenn kein anderer Mieter es gerade benötigte. Im Winter wickelte sich Helen in mehrere Decken, um nicht zu erfrieren. Im Sommer wurde es unter dem Dach unerträglich heiß. Ihre beste Freundin vermutete, dass bald zwei Hobbits kämen, um DEN Ring in ihre Wohnung zu werfen.
Das heiße Wasser zu jeder Tages- und Nachtzeit in dem neuen Haus war absoluter Luxus, den sie mit schlechtem Gewissen genoss.
Aber heute schaffte sie es einfach nicht allein in dieses Haus. Stattdessen schrieb sie ihrer besten Freundin eine Nachricht und ging die Straßen runter zu ihrem Lieblingspub The Swan, direkt gegenüber vom Hyde Park. Vorbei an all den weißen Fassaden und den schwarz gestrichenen Zäunen. Vorbei an den Türen, die Reichtum und Wohlstand verbargen. Der Streit mit Owen ärgerte sie immer noch. Vielmehr ärgerte sie sich aber, dass sie so ausgerastet ist. Was denkt sich der Kerl überhaupt? Es kostete sie schon ihren Job bei der Agentur. Gleich nachdem Owen dort auftauchte, um sich über ihr Verhalten bei Arbeit und möglichen Beschwerden zu erkundigen, musste sie zu ihrem Boss. Boris erklärte ihr in seinem unverständlichen Mix aus Englisch und Russisch, dass die Kunden sich nicht wohlfühlten, wenn man gegen Helen ermittle. Boris war ein schmieriger, geldgeiler Grobian, den nur die Zahlen interessierten. Sie bemühte sich vergebens, ihn von neuen Ideen für Führungen zu überzeugen. In ihren Augen war er ein unverbesserlicher Kulturbanause.
Um sich etwas abzulenken, zählte sie die geparkten Porsche am Straßenrand. Bei Nummer 12 hörte sie auf zu zählen. Denn der Letzte gehörte ihrer Freundin Titania. Helen betrat den Pub und hörte sofort ihren Namen. »Helen, Liebes! Wie geht es dir? Komm‘, setz dich zu mir. Du bringst die Probleme mit und ich den Alkohol, das ist eine klare Arbeitsteilung.«
Bevor Helen sich versah, saß sie neben ihrer Freundin mit einem Pint Bier in der Hand. Titania konnte man am ehesten als Naturgewalt bezeichnen. Klein, blond und so scharfzüngig, dass sie dafür einen Waffenschein bräuchte. Titanias Mutter war Schauspielerin und dementsprechend freigeistig erzog sie ihre einzige Tochter. Auch ihrem Vater war es daran gelegen, seinem einzigen Kind alle Möglichkeiten zu geben.
Als sie sich am ersten Tag an der Uni trafen, stellte sich Titania ihr wie folgt vor: »Titania, Königin der Elfen, Leidgeprüfte ihres Namens, Herrscherin über 7 Kreditkarten. Und du bist?«
Helen antworte ebenso schlagfertig: »Helen, Sterling wie Pfund, Königin des Pubs und Herrscherin über des letzten freien Platzes im Hörsaal.« Darüber mussten beide so sehr lachen, dass sie augenblicklich von Professor Lockhart raus geworfen wurden. Seit diesem Zeitpunkt waren sie die besten Freunde.
Müsste Helen ihre beste Freundin mit zwei Worten beschreiben, träfe perfekt gestylt es am ehesten. Titania würde nicht ohne ihre geliebten High Heels und ohne die teuerste Markenkleidung ihr Luxusapartment verlassen, wenn es lichterloh brennen würde. Nun saß sie vor ihr, die wachen, fragenden Augen vollkommen auf Helen gerichtet.
»Mir geht’s gut, danke Titania.«
»Sei ehrlich Helen.«
»Mir geht es gut. Wirklich.«
»Sei ehrlich.«
»Naja, es geht so.«
»Ganz ehrlich, Helen.«
»Beschissen. Zufrieden? Mein Bruder, den ich bis vor wenigen Wochen nicht mal kannte, liegt begraben unter der Erde. Dieser Seargent King denkt sich ständig neue Verschwörungstheorien aus und ich habe Angst vor dem leeren Haus. So, jetzt weißt du es.« Mit verschränkten Armen schaute sie ihre Freundin trotzig an.
Titania legte seufzend den Arm um ihre beste Freundin. »Honey, welche neue Theorie hatte denn Sergeant Sexy?«, dabei warf sie ihre langen blonden Haare gekonnt zurück. Selbst Titanias Haare dufteten nach kostbaren Pflegeprodukten, an dieser Frau war alles luxuriös.
Helen atmete ein paar Mal tief ein und aus. Das Letzte was sie wollte, war ein Heulanfall mitten im Pub. »Er zeigte mir einen angeblichen Zettel von Joshua. Auf dem stand, dass alle Geschichten wahr wären, man Joshua holen kommen würde und man da suchen soll, was er hasst. Ach ja, und das die Melodie der Schlüssel wäre.«
»Was willst du mit dieser schwachsinnigen Theorie anfangen?«, fragte sie Helen und stellte ihr Bierglas ab.
»Keine Ahnung. Ich solle an dem Ort suchen, den er am meisten hasst.« Obsessiv kratzte sie mit dem Fingernagel an der Oberfläche des Bierdeckels.
Titania legte den Kopf schief und überlegte. »In meinem Fall wäre das Primark.« Helen musste unwillkürlich lachen. »Du würdest nicht mal für Geld eine Filiale von Primark betreten.«
»Ein T-Shirt für drei Pfund muss vom Teufel hergestellt sein. Das sollte man nicht als Kleidung bezeichnen dürfen, ich fordere offiziell ein Verbot. Apropos, Süße, was hältst du davon, wenn wir in den Urlaub fahren? Nur du und ich. Weit weg, vielleicht Marbella? Da gibt es tolle Partys und das Wetter ist sicher besser als hier. Wir könnten doch gleich los. Paddington ist doch gleich um die Ecke.«
»Danke, das ist lieb von dir. Aber ich kann Sherlock nicht alleine lassen. Er gewöhnt sich gerade an mich. Im Übrigen würde ich mich schäbig fühlen. Heute begrabe ich ihn und morgen liege ich am Strand. Nein, wirklich nicht. King kann sich seine Theorien sonst wohin stecken.« Helen strich sich die Haare hinter die Ohren und fühlte sich immer mehr von dem zunehmenden Lärm im Pub genervt. »Ich habe mir jetzt genug Mut angetrunken und werde nach Hause gehen.«
»Halt!«, rief Titania und sprang auf. Helen schaute sie mit großen rehbraunen Augen an. So nervös kannte sie ihre Freundin nicht.
»Weißt du was, Darling? Ich komme mit. Du solltest nicht alleine da rein gehen. Das ist doch das Mindeste. Außerdem kann ich jetzt eh nicht mehr fahren.« Wie zum Beweis tippte sie mit ihren perfekt manikürten Nägeln an ihr leeres Glas.
Helen lächelte matt. Der Gedanke, dass sie nicht allein sein musste, war tröstlich. Titania ging an ihren Kofferraum und nahm ihre Notfalltasche heraus, in der sie für unvorhersehbare Ereignisse Kosmetik und Kleidung dabei hatte. Sie hakte sich bei ihrer Freundin unter und schritten langsam die belebte Straße entlang. Aus den Pubs drang laute Musik. Laute Stimmen, die wild durcheinanderredeten und lachten, vermittelten eine ausgelassene Stimmung. Obwohl es erst gegen 19 Uhr war, umgab sie eine beginnende Dunkelheit. Die Kälte biss erbarmungslos im Gesicht und sie beschleunigten ihre Schritte allmählich.
Helen fühlte sich überfordert. Einerseits wollte sie endlich nach Hause. In die Umgebung, in der sie sich ihrem Bruder nahe fühlte. Zum andern hatte sie Angst vor dem Unbekannten. Joshua war noch überall in dem Haus präsent. Seit seinem Tod hat sie sich noch nicht in sein Arbeitszimmer getraut. Allein wenn sie die Hand auf den Türknauf legte, überfiel sie die Trauer. Obwohl sie ihn kaum kannte, war er für sie der Bruder, den sie sich immer wünschte.
Am Haus angekommen, zog Helen den Schlüssel aus ihrer Manteltasche. Ihre Finger fühlten sich so klamm an vor Kälte, dass sie das Metall kaum spürte. Mit einem leisen Knarren gab die Eingangstür Helens Druck nach und öffnete sich. Wie in einen dunklen Schlund starrte sie in den Eingangsbereich des Hauses, das aus heiterem Himmel ihr Zuhause war. Das Gefühl von Endgültigkeit überkam sie schlagartig und sie bekam keine Luft mehr. Wie ein Fisch an Land schnappte sie nach Luft und hielt sich am Türrahmen fest. Titania legte von hinten wortlos ihre Hand auf Helens Schulter. Mit dieser Geste brach Helens letzter Schutzdamm. Die Tränen liefen ihr unkontrolliert über das Gesicht, aus ihrem Mund stieß sie einen nicht hörbaren Schrei aus. Die Trauer schlug mit voller Wucht zu. Titania zog instinktiv Helens Arm um ihren eigenen Hals und half ihr dabei, nicht auf den kalten Boden zu sinken.
»Ssschhhsch, ist schon in Ordnung. Lass es ruhig raus.« Sie half ihrer trauernden Freundin in das Haus und stieß mit einem Fuß die schwere Tür hinter sich zu. Unter großer Kraftanstrengung zog sie Helen über den schmalen Flur in das Wohnzimmer und ließ sie und sich selbst auf die große dunkelbraune Ledercouch sinken. Dort saßen sie beide in fast völliger Dunkelheit, die nur ab und an von den Scheinwerfern der vorbei fahrenden Autos unterbrochen wurde. Titania konnte in ihrer Hilflosigkeit nichts anderes machen, als Helen wie bei einem Kind über den Kopf zu streicheln und beschwichtigende Worte zu sagen.