Читать книгу Helen Sterling und das Geheimnis der Lady Jane Grey - Victoria Lancaster - Страница 8

Kapitel 4

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Als He­len die Augen öff­ne­te, sah sie die win­ter­li­che Son­ne in ih­rem Wohn­zim­mer. Das Ge­sche­he­ne von letz­ter Nacht woll­te ihr ein­fach nicht mehr ein­fal­len. Sie prüf­te kurz ih­re Um­ge­bung. Es schien be­reits das Tages­licht, das Feu­er war er­lo­schen und sie konn­te Ti­ta­ni­as Hand­ta­sche ne­ben dem Ses­sel er­ken­nen. Der Tee­kes­sel in der Kü­che pfiff in die­sem Mo­ment in ei­nem ho­hen Ton in der Kü­che. Sie hielt sich mit ih­rer rech­ten Hand ihr rech­tes Ohr zu, das Lin­ke war durch das Kis­sen, auf dem sie lag, ge­schützt. All­mäh­lich fiel es ihr wie­der ein: die Kugel, die Me­lo­die, das glei­ßen­de Licht. Lang­sam nahm sie die Hand vom Ohr und starr­te un­gläu­big auf ihr rech­tes Hand­ge­lenk. Was dort prang­te, war die Zeich­nung ei­nes Mis­tel­zwei­ges. Fili­gran und ge­rankt zog sich die Pflan­ze in schwar­zen Li­ni­en um das Ge­lenk. So­gar über ih­ren Puls­adern sah sie läng­li­chen, ge­zack­ten Blät­ter, die sich in Zwei­gen ver­äs­telt. Un­ter ei­ni­gen Blät­tern waren so­gar die klei­nen Bee­ren zu se­hen.

Schlag­ar­tig rich­te­te sie sich auf. »TI­TA­NIA, ir­gend­was stimmt hier nicht!« Has­tig be­feuch­te­te sie ih­ren lin­ken Dau­men an ih­rer Zun­ge und rieb hef­tig über den schwar­zen Mis­tel­zweig. »Ti­ta­nia McAl­lis­ter, komm´ so­fort her!« Wenn sie ih­re Be­wusst­lo­sig­keit aus­ge­nutzt ha­ben soll­te, um sich mit ei­nem Ed­ding-Stift die Lang­ewei­le zu ver­trei­ben, wä­re das alles an­de­re als lus­tig.

»Klopf, Klopf. Bist du schon wach?«, frag­te Ti­ta­nia zag­haft durch die an­ge­lehn­te Tür hin­durch.

»Ja, sonst wür­de ich wohl kaum nach dir ru­fen, oder?«, ent­geg­ne­te ihr He­len. »Wie­so re­dest du mit mir über­haupt durch die Tür? Hast du mir et­was zu sa­gen?«, frag­te He­len halb im Scherz und halb ernst.

»Al­so weißt du He­len, wenn du es schon an­sprichst: ja. Aber du darfst dich jetzt nicht auf­re­gen oder durch­dre­hen. Ver­sprich mir das.«, kam es zö­ger­lich von Ti­ta­nia von der an­de­ren Sei­te der Tür. »Ver­sprich es mir, hörst du?«, wie­der­hol­te sie.

He­len er­hob sich von der Couch und ging zur Tür, im Ge­hen ver­such­te sie immer noch ver­zwei­felt die Far­be von sich ab­zu­be­kom­men. »Ti­ta­nia, sei nicht al­bern. Wel­che Far­be hast du be­nutzt?« Sie zog die Tür zum Flur auf und blick­te kurz von ih­rem Hand­ge­lenk auf, nur um gleich wie­der ih­re Auf­merk­sam­keit auf die­se hart­nä­cki­ge Far­be zu rich­ten. Sie hielt kurz in­ne. Ir­gend­was war an­ders an ih­rer Freun­din. Ihr Blick mus­ter­te sie von un­ten nach oben. »Wie­so hast du spit­ze Oh­ren? Führst du in dei­ner Hand­ta­sche neu­er­dings Scherz­ar­ti­kel mit dir?«

Auf die Ant­wort war sie jetzt wirk­lich ge­spannt. Sie war ja schon so ei­ni­ges ge­wohnt von ihr, aber auf Scha­ber­nack hat­te sie we­nig Lust. Ti­ta­nia folg­te ihr ins Wohn­zim­mer.

»He­len, Dar­ling«, sie klang selt­sam an­ge­spannt, »die sind nicht künst­lich, die sind echt.« Sie schau­te ihr be­tre­ten in die Augen.

»Hör´ jetzt auf mit dem Un­sinn.« He­len mach­te ei­nen Schritt auf sie zu und zog an Ti­ta­ni­as lin­kem Ohr. »Nimm die­se ver­damm­ten Oh­ren end­lich ab. Dein Ver­hal­ten ist ein­fach nur kin­disch.«

Doch so sehr sie auch zog, sie woll­ten sich nicht lö­sen las­sen. »Au au au, He­len bit­te, du tust mir weh!« He­len er­starr­te vor Schreck und ihr Mund stand of­fen, ih­re Hand um­fass­te immer noch das Ohr. Ti­ta­nia sag­te mit sanf­ter, aber be­stimm­ter Stim­me: »Flipp. Jetzt. Bloß. Nicht. Aus.«

Vor­sich­tig griff sie nach He­lens Hand und lös­te sie von ih­rem ge­rö­te­tem Ohr. Ih­re Freun­din starr­te sie weiter­hin fas­sungs­los an, un­fä­hig, auch nur ein Wort her­aus zu brin­gen.

»Ich kann dir fast alles er­klä­ren. Tee?« Ei­ne Tas­se Tee be­ru­higt immer. Un­si­cher, was sie jetzt ma­chen soll­te, zog Ti­ta­nia ih­re Freun­din auf die Couch und saß ihr zu­ge­wandt zu He­lens Lin­ken. »Jetzt glotz mir nicht mehr auf die Oh­ren, das ist un­höf­lich!« Erst jetzt lös­te sich He­len aus ih­rer Star­re und die Wor­te ka­men zurück.

»Ent­schul­di­gung, das woll­te ich nicht. Bist du krank? Wo kom­men dir Oh­ren her? Oder bin ich noch be­wusst­los? Ja, das muss es ein. Ich bin noch be­wusst­los und träu­me.« Sie leg­te die Hand­flä­che ih­rer lin­ken Hand um ei­ne Tee­tas­se. Ein über­wäl­ti­gen­der Schmerz durch­fuhr ih­re Hand. »Ahh, ver­dammt, heiß­heiß­heiß.« He­len zog ruck­ar­tig ih­re Hand weg und pus­te­te küh­lend da­rauf.

»Jetzt lass den Blöd­sinn blei­ben. Du träumst nicht. Ich muss dir jetzt wohl die Wahr­heit sa­gen. Bist du be­reit?«

»Ha­be ich ei­ne Wahl?«

»Ich be­fürch­te nicht.« Ti­ta­nia nahm sich ein Kis­sen vor dem Bauch und kne­te­te es, als müss­te es drin­gend mas­siert wer­den.

»Al­so, wo fang ich denn am be­sten an? Oh Gott, so muss das sein, wenn man sei­ne Kin­der auf­klä­ren muss.«

»Ti­ta­nia, bit­te. Was ist hier los? Ich er­in­ne­re mich an die Kugel von ge­stern Abend. Da kam die­se selt­sa­me Me­lo­die her­aus, dann wur­de ich ohn­mäch­tig. Als ich heu­te Mor­gen auf­ge­wacht bin, hat­test du ko­mi­sche Oh­ren und ich DAS hier am Hand­ge­lenk!« Zum Be­weis reck­te sie ih­ren rech­ten Arm nach oben, die Hand zur Faust ge­ballt. Ti­ta­nia be­trach­te­te den Mis­tel­zweig an dem Hand­ge­lenk und zog da­bei ei­ne Augen­braue arg­wöh­nisch nach oben.

»Ent­schul­di­gung. He­len, er­in­nerst du dich an den Turm­bau zu Ba­bel?«, frag­te sie, ob­wohl sie ge­nau wuss­te, dass ei­ne His­to­ri­ke­rin wie He­len das selbst­ver­ständ­lich wuss­te.

»Na­tür­lich. Laut Bi­bel ver­such­ten die Men­schen, ei­nen Turm zu bauen, der bis zu Gott her­an­rei­chen wür­de. Er­zürnt über die­se An­ma­ßung be­straf­te er sie mit ver­schie­de­nen Spra­chen. So konn­ten sie sich nicht mehr ver­stän­di­gen und der Turm­bau konn­te nicht fort­ge­führt wer­den«, er­zähl­te He­len mit ge­schloss­enen Augen. Das tat sie meis­tens, wenn sie sich beim Er­zäh­len kon­zen­trie­ren muss­te.

»Ja, das stimmt so­weit«, pflich­te­te ihr Ti­ta­nia bei. »Aber da ist noch nicht Schluss. Es wird sich weiter­hin er­zählt, dass ei­ne ge­wis­se Obrig­keit, nen­nen wir sie Gott, nicht nur die Spra­chen auf die Welt schick­te. Es gab da­mals gro­ßen Streit un­ter allen Le­be­we­sen. Men­schen, El­fen, Feen, Orks und noch viele mehr. Die Men­schen maß­ten sich an, un­ge­recht über an­de­re Spe­zi­es zu rich­ten. An­statt in Frie­den zu le­ben, ver­such­ten sie, alle an­de­ren aus­zu­rot­ten. Der Turm zu Ba­bel soll­te nicht nur da­zu die­nen an Gott he­ran zu rei­chen, er soll­te als rie­si­ge Ker­ke­ran­la­ge für alle die­nen, die kei­ne Men­schen waren. Al­so ent­sand­te Gott nicht nur die Spra­chen, son­dern auch die Blind­heit. Seit dem Tag an war kein Mensch mehr in der La­ge, an­de­re We­sen wahr­zu­neh­men, die nicht zu der Klas­se der Men­schen ge­hör­te. Gott mach­te euch Men­schen blind für uns. Zu­min­dest er­zählt man es sich so.«

»Ti­ta­nia, ehr­lich, das klingt wahn­sin­nig. Ist dir das klar?« He­lens Ver­stand spiel­te ge­ra­de ver­rückt. Am liebs­ten hät­te sie ih­re Freun­din ge­fragt, ob Dro­gen mit im Spiel sind. Aller­dings rück­ten dann wie­der die­se zier­li­chen, aber re­la­tiv lan­gen Oh­ren in ihr Blick­feld und sie konn­te die Exis­tenz die­ses Körper­teils nicht ab­strei­ten. »Mal an­ge­nom­men ich glau­be dir den Blöd­sinn für ei­nen Augen­blick. Was bist du dann?« He­len be­reu­te die­se Fra­ge sog­leich, denn das Wört­chen Was schien ihr po­li­tisch ab­so­lut in­kor­rekt. »Bist du die Kö­ni­gin der Feen?« In die­sem Mo­ment hät­te sie gar nichts mehr über­rascht. In­ner­lich be­rei­te­te He­len sich auf Ti­ta­ni­as Ant­wort vor und knie­te ge­dank­lich schon vor dem Thron ei­ner Kö­ni­gin, von der sie bis­lang nichts wuss­te. Ob­wohl es Ti­ta­ni­as Wohl­stand durch­aus lo­gisch er­klä­ren wür­de.

»Sei bit­te nicht al­bern He­len.« Ti­ta­nia war er­staunt über He­lens Fra­ge. Ob­wohl ihr ei­ne Kro­ne schon außer­or­dent­lich gut ste­hen wür­de, wie sie fand. »Ich bin kei­ne Kö­ni­gin. Mei­ne Mutter ist ei­ne El­fe und mein Vater ein Zwerg. Des­halb bin ich auch et­was pe­tit. Ver­stehst du?«

He­len sah sie wort­los an, bei­de Augen­brau­en nach oben ge­zo­gen. »Of­fen­sicht­lich nicht. Gut, dann al­so die Lang­fas­sung. Mei­ne Mutter, Eleo­no­ra, ist ei­ne El­fe. Sie war Schau­spie­le­rin am Theater, als sie mei­nen Vater ken­nen­lern­te. Er ist ein Zwerg und bau­te da­mals die Büh­nen­de­ko für das Theater. Sie prob­te, er bau­te, so lern­ten sie sich ken­nen. Du musst wis­sen, dass Zwer­ge hand­werk­lich äu­ßerst be­gabt sind. Tja, und da das Stück, in dem Mutter mit­spiel­te, Sha­ke­spea­res Som­mer­nachts­traum war, fan­den sie den Na­men Ti­ta­nia wohl na­he­lie­gend.«

»El­fen? Zwer­ge?« He­len schau­te noch ver­wirr­ter drein.

»Oh man, ich hät­te bes­ser Leh­re­rin wer­den sol­len. Al­so pass auf: El­fen sind zier­li­che Ge­schöp­fe mit läng­li­chen Oh­ren, wie du an mir siehst. Und be­vor du fragst, wir kön­nen nicht bes­ser da­mit hö­ren. Viele El­fen be­sit­zen die Fä­hig­keit zum Ma­ni­pu­lie­ren. Bö­se El­fen ma­chen sich das zu­nut­ze und ver­wen­den es für ih­re kri­mi­nel­len Ma­chen­schaf­ten. Das Gu­te an El­fen ist, dass sie künst­lerisch sehr be­gabt sind. Viele, viele El­fen sind gro­ße Künst­ler. Ob Ma­ler, Tän­zer oder Schau­spie­ler, wir lie­ben die Kunst. Mein Vater, der ein Zwerg ist, hat ganz an­de­re Eigen­schaf­ten. Na­tür­lich ist er klein, des­we­gen bin ich auch nicht so groß ge­ra­ten. Aller­dings ha­ben Zwer­ge be­ein­drucken­de Hand­werks­kün­ste. Viele sind In­ge­ni­eu­re oder ha­ben eige­ne Fir­men. Ent­ge­gen allen Ge­rüch­ten sind Zwer­ge freund­li­che und groß­zü­gi­ge We­sen. In den Me­dien wer­den sie lei­der immer an­ders dar­ge­stellt. Und was wirk­lich be­son­ders ist, sie sa­gen immer die Wahr­heit. Zwer­ge kön­nen nicht lü­gen. Das macht sie üb­ri­gens so at­trak­tiv für Frau­en. Viele Rich­ter sind üb­ri­gens Zwer­ge.«

He­len muss­te erst lang­sam die­se In­for­ma­tions­flut ver­ar­bei­ten. »Und wel­che Be­son­der­hei­ten hast du von dei­nen Eltern?«

»Na­ja ….«, Ti­ta­nia über­leg­te kurz, »… die­se hüb­schen Oh­ren sind von mei­ner Mutter. Von mei­nem Vater ha­be ich die Groß­zü­gig­keit und die Un­fä­hig­keit zum Lü­gen.«

»Be­wei­se es.«, He­len kniff die Augen et­was zu­sam­men. »Sag mir, was ich noch nicht von dir weiß. Was war auf der Weih­nachts­fei­er vor drei Jah­ren, als ich krank war und nicht da­bei sein konn­te? Ich weiß bis heu­te nicht, was auf der Fei­er pas­siert ist.«

»He­len, zwing mich nicht da­zu.«

»Oh doch, was pas­sier­te an je­nem Abend?«

»Ich war voll wie ein Schicht­bus und hab auf dem Tisch ge­tanzt. An­schlie­ßend ha­be ich mit zwei Ty­pen rum ge­knutscht und hab dann aber die Nacht mit der Bar­frau ver­bracht.«

»Du hast was?« He­len sah völ­lig ent­geis­tert ih­re Freun­din an. »Du sag­test mir doch, du woll­test nicht auf die­se Par­ty ge­hen.«

»Hey, das war auch nicht ge­lo­gen! Ich woll­te wirk­lich nicht. Aber John­ny rief an und frag­te mich, ob ich nicht auch Lust hät­te zu kom­men. Eins er­gab das an­de­re …. Du kennst das. Könn­ten wir nicht zurück zum The­ma kom­men, bit­te?« Die Spit­zen ih­rer Oh­ren ver­färb­ten sich aus Scham rot.

He­len stand wort­los auf und ging zu ih­rem Glo­bus rechts ne­ben dem Ka­min. Ob­wohl neue­ren Datums, war er alt­mo­disch ge­baut. Ed­les Ma­ha­go­ni­holz wur­de für das Ge­stell ver­wen­det und die Erd­kugel war eben­falls aus ed­lem Holz, die Kon­ti­nen­te stell­ten sich braun dar. In ver­schnör­kel­ter Schrift konn­te der Be­trach­ter die Be­zeich­nung der Län­der und Städ­te le­sen. Schein­bar ge­dan­ken­ver­sun­ken dreh­te sie sacht an der Er­de. Sie stopp­te und strich über die an­ti­ke Welt­kar­te, ih­re Fin­ger blie­ben un­ge­fähr auf der Hö­he des Äqua­tors hän­gen. Ein sanf­ter Druck ließ die Nord­halb­kugel nach oben klap­pen. Ti­ta­nia konn­te nicht er­ken­nen, was He­len im In­ne­ren der Er­de such­te. Ih­re Freun­din dreh­te sich um, in ih­ren Hän­den hielt sie ei­ne Fla­sche Cham­pa­gner. Sie be­frei­te die Fla­sche von ih­rer Ver­pa­ckung am Kor­ken und setz­te die Dau­men­kup­pen direkt un­ter dem Ver­schluss an. Sie brauch­te nur we­nig Druck und der Kor­ken flog un­ter ei­nem lau­ten Knall quer durch das sonst stil­le Zim­mer. Ti­ta­nia trau­te sich nicht, die­se un­heim­li­che Ru­he, die nur vom Ent­kor­ken un­ter­bro­chen wur­de, zu stö­ren. He­len schau­te kurz auf die Fla­sche, die sie neu­lich ent­deckt hat­te, als Sher­lock auf den Glo­bus sprang und die­sen mit sei­nen Pfo­ten ver­se­hent­lich öff­ne­te. Es war ei­ne gold­ene Fla­sche der Mar­ke Arm­and De Brig­nac, auf dem Eti­kett glänz­te das Sym­bol ei­nes As­ses mit dem Buch­sta­ben A. Sie setz­te die 295 Pfund teu­re Fla­sche an und ließ das pri­ckeln­de Ge­tränk in ih­ren Mund flie­ßen. Als sie ab­setz­te, wisch­te sie sich den Mund mit ih­rem Hand­rü­cken ab und sag­te tro­cken: »Alles klar, weiter geht’s. Dem­zu­fol­ge du bist ei­ne Art Zwerlf? Halb Zwerg, halb Elf? Sonst noch was?«

»Al­so wenn du das so sagst, klingt das ir­gend­wie un­er­otisch.« Ti­ta­nia ließ sich mit dem Rü­cken ge­gen die Couch fal­len. »Und ja, ich glau­be, dass Jos­hu­as Tod ir­gend­et­was mit der Kugel von ge­stern zu tun ha­ben muss. Da­für feh­len mir aber die Be­wei­se.« He­len nahm ei­nen wei­te­ren kräf­ti­gen Schluck aus der Fla­sche und ließ sich an­schlie­ßend rechts ne­ben ih­re El­fen-Freun­din auf die Couch fal­len. Oh­ne sie an­zu­schau­en reich­te sie ihr die Fla­sche nach links. Wort­los nahm Ti­ta­nia die­se und setz­te sie an ih­ren Mund an, um ei­nen mehr als kräf­ti­gen Schluck zu neh­men.

»Gu­tes Zeug«, sag­te sie, als sie die Fla­sche wie­der ab­stell­te. »Ja«, ent­geg­ne­te He­len, »die war an­schei­nend für ei­nen be­son­de­ren An­lass ge­dacht. Ein höchst skur­ri­ler An­lass tut’s wohl auch, schät­ze ich. Was wuss­test du über mei­nen Bru­der?«

»Ich ha­be sei­nen Na­men im Zu­sam­men­hang mit sel­te­nen Ge­gen­stän­den ge­hört. Er konn­te alles fin­den und be­sor­gen. Aller­dings kann­te nie­mand sei­nen Nach­na­men. Mehr weiß ich nicht.«

He­len streck­te Ti­ta­nia ih­ren rech­ten Arm ent­ge­gen. »Ich be­fürch­te, dass das kein Ed­ding ist und du nicht in ir­gend­ei­nen An­fall von Krea­ti­vi­tät an mir rum ge­malt hast?«

Ti­ta­nia be­trach­te­te ein­ge­hend den schwar­zen Mis­tel­zweig am Hand­ge­lenk.

»Nein, Ho­ney, tut mir leid. Ich war das lei­der nicht.«

»Ein Ver­such war es wert.«

»Aber ich weiß, wer uns das sa­gen könn­te. Vor­her soll­ten wir uns je­doch et­was auf­hüb­schen. Der Typ ist näm­lich echt heiß.«

He­len ging in ihr Schlaf­zim­mer mit an­ge­schloss­enem Ba­de­zim­mer und Ti­ta­nia in das Gäs­te­zim­mer, eben­falls mit Bad. Bei­de Zim­mer lagen in der er­sten Eta­ge. Ti­ta­ni­as Not­fall­ta­sche be­inhal­te­te alles, was sie brauch­te. Nach dem Du­schen und Haa­re föh­nen, ent­schied He­len sich für ei­ne dun­kel­blaue Je­ans und ei­nem schwar­zen Kasch­mir-Pull­over. Sie ver­mu­te­te, dass sie prak­ti­sche Klei­dung heu­te der Ele­ganz vor­zie­hen müss­te. Hin­ter ihr ging die Tür auf und Ti­ta­nia be­trat das Zim­mer. Auch sie trug ei­ne blaue Je­ans, kom­bi­niert mit ei­ner knall­ro­ten, eng an­lie­gen­den Blu­se. Ih­re Fü­ße steck­ten in schwar­zen Pumps. He­len setz­te sich ge­ra­de auf ihr Bett und schlüpf­te in Leder­stie­fel.

»Du trägst ak­tu­el­le Kurt Gei­ger Stie­fel zu Arm­ani Je­ans aus der letz­ten Saison? Mu­tig.« Ti­ta­ni­as Marken­be­wusst­sein be­ein­druck­te He­len stets aufs Neue. Eben­so be­ein­druckt war sie von der Tat­sa­che, dass ih­re Freun­din in fast je­der Si­tua­tion hoch­ha­cki­ge Schu­he tra­gen konn­te. Die Tat­sa­che, dass sie zur Hälf­te Zwerg war und et­was kür­zer aus­fiel, gab die­ser An­ge­wohn­heit jetzt aller­dings ei­nen tief­eren Sinn, dach­te He­len. Sie selbst zog den Reiß­ver­schluss ih­rer Leder­stie­fel zu.

Als könn­te sie ih­re Ge­dan­ken le­sen, feix­te Ti­ta­nia: »Queen Vic­to­ria war auch nur 1,52 m groß. Ich lie­ge im Be­reich von Queen Eli­za­beth, 1,63 m.«

»Ich fin­de je­den­falls, die ma­chen doch ei­nen sehr schlan­ken Fuß.«, lach­te He­len und reck­te ih­re Bei­ne sen­krecht in die Hö­he.

»In An­be­tracht der Tat­sa­che, dass wir drin­gend los­müs­sen, ver­zei­he ich dir die­sen Faux­pas. Bei näch­ster Ge­le­gen­heit brau­chen wir aber die neue Kol­lek­tion für dich.«

Oh­ne ei­ne Ant­wort ab­zu­war­ten, dreh­te Ti­ta­nia sich um und ging die Trep­pe hin­un­ter zur Gar­de­ro­be. He­len folg­te ihr augen­bli­cklich. Bei­de zo­gen sich ih­re Män­tel über, schnür­ten sich je­weils den Schal fest um den Hals, grif­fen ih­re Hand­taschen und tra­ten vor die Haus­tür. Als He­len sich um­dreh­te, um die Tür ab­zu­schlie­ßen, frag­te Ti­ta­nia: »Wo hast du die Kugel ge­las­sen?«

He­len ver­stau­te den Schlüs­sel in ih­rer Hand­ta­sche und ant­wort­ete: »Da, wo ich sie ge­fun­den ha­be.« Bei­de grins­ten sich an. »Wo ge­hen wir denn jetzt hin, mei­ne el­fe­noh­ri­ge Freun­din?«

»Oh Gott, das wer­de ich jetzt die näch­sten Jah­re hö­ren, oder? Wir ge­hen zu Nick in das Natur­his­to­ri­sche Mu­se­um. Viel­leicht er­in­nerst du dich an ihn, Ni­cho­las Car­ter, Dr. Ni­cho­las Car­ter. Er hat dich mal an­ge­bag­gert auf ei­ner Uni Par­ty«

»Wie ha­be ich rea­giert?«

»Du hast ihm lei­der aus un­er­find­li­chen Grün­den ei­nen Korb ge­ge­ben.«

»Un­er­find­li­che Grün­de?«

»Du fan­dest ihn lang­wei­lig. Ge­nau­ge­nom­men sag­test du staub­tro­cken. Du warst da in dei­ner Bad-Boy-Pha­se. Er ist üb­ri­gens auch an­ders

»Was auch sonst«, seufzte He­len in den kal­ten Wind.

Sie gin­gen die fünf Stufen der Trep­pe her­un­ter und hiel­ten sich links. Die bei­den Frau­en be­nö­tig­ten et­wa ei­ne hal­be Stun­de zu Fuß, in­dem sie den an­gren­zen­den Hy­de Park durch­quer­ten, bis sie die er­sten Be­rei­che des Mu­se­ums er­reich­ten. »Wuss­test du, dass man cir­ca drei Ta­ge am Stück braucht, um das Mu­se­um ganz zu se­hen?«, frag­te He­len.

»Ja He­len, das hast du mir be­reits ge­fühl­te 494 Mal er­zählt.« Sie bogen an der näch­sten Kreu­zung rechts ein und gin­gen die Stra­ße ent­lang bis zum Haupt­ein­gang des Mu­se­ums. Ei­ne Grup­pe von un­ge­fähr Zehn­jäh­ri­gen stand vor dem Ein­gang. He­len er­schrak. Ein Jun­ge hat­te ge­nau wie Ti­ta­nia lan­ge spit­ze Oh­ren. Ein Mäd­chen hat­te ei­ne grün­li­che Haut­far­be. Sie sah He­len direkt in die Augen und streck­te ihr die Zun­ge her­aus. »Mach dir kei­ne Sor­gen«, sag­te Ti­ta­nia, »Sie ist ein Ork. Das sind oft­mals tem­pe­ra­ment­vol­le Kin­der.«

»Orks? Es gibt Orks?«, frag­te He­len be­sorgt. Bil­der aus Herr der Rin­ge schos­sen durch ih­ren Kopf. Kein be­ru­hi­gen­der Ge­dan­ke, wie sie fests­tel­len muss­te.

»Yep. Als Kin­der sind sie äu­ßerst im­pul­siv und schwer zu kon­trol­lie­ren. Im Er­wachs­ene­nal­ter wir­ken sie meist über­aus bul­lig vom Er­schei­nungs­bild her. Ih­re Schmerz­gren­ze liegt ex­trem hoch. Du musst ih­nen wirk­lich schon ei­nen Stuhl über ih­ren Dick­schä­del zie­hen, da­mit sie sich be­ru­hi­gen. Ihr un­ge­zü­gel­tes Natur­ell bringt sie oft­mals in schwie­ri­ge Si­tua­tio­nen. Kon­flik­te mit der Poli­zei, Prü­ge­lein, Ran­da­le im Sport und vieles mehr.«

»Aber ha­ben die auch gu­te Sei­ten? Ich mein, sind das tat­säch­lich nur ge­walt­be­rei­te Grü­ne? Das Mäd­chen sieht doch sonst aus wie ein ….« Ti­ta­nia un­ter­brach sie mit­ten im Satz: »… wie ihr Men­schen? Dass Orks dump­fe Fleisch­ber­ge mit Hau­er als Zäh­nen sind, ist ein rei­nes Kli­schee. Ge­nau wie die­se höchst selt­sa­me Idee, dass sie dumm sind. Das sind nichts weiter als Myt­hen und Le­gen­den. Sie sind, nein, WIR sind halt nur an­ders. Wir se­hen et­was an­ders aus und kön­nen an­de­re Din­ge. Men­schen ha­ben durch die Jahr­hun­der­te viel Blöd­sinn er­fun­den und da­zu ge­dich­tet. Und ja, Orks ha­ben auch ih­re gu­ten Sei­ten. Viele kön­nen ihr Tem­pe­ra­ment auch zü­geln und ihr an­ge­bo­re­ner Mut macht sie zu un­er­schro­cke­nen Kämp­fern. Wahr­schein­li­cher ist es aber, dass du sie in Sport­ar­ten wie Rug­by fin­dest. Ih­re Kraft und ih­re Un­emp­find­lich­keit ge­gen­über Schmer­zen macht sie zu wah­ren Ta­len­ten im körper­be­ton­ten Sport. Außer­dem sind sie äu­ßerst so­zi­al. Orks hei­ra­ten nur un­ter­ein­an­der und sie wür­den für ih­re Fa­mi­lie alles ge­ben. Lass uns jetzt hin­ein ge­hen.«

Schwei­gend nahm He­len die­se Er­läu­te­rung zur Kennt­nis. Bei­de be­tra­ten das Ge­bäu­de, in dem sie von dem gi­gan­ti­schen Di­no­sau­ri­er­ske­lett in der Heint­ze-Hal­le emp­fan­gen wur­den. Un­will­kür­lich blie­ben bei­de für ei­nen kur­zen Augen­blick ehr­fürch­tig vor dem im­po­san­ten Ske­lett ste­hen.

Ti­ta­nia leg­te die Hand an He­lens Arm und nick­te nach rechts. Bei­de gin­gen am Ske­lett vor­bei und ka­men in ei­nen lan­gen Gang, in dem rechts und links an den Wän­den lau­ter Fos­si­lien hin­gen. Am En­de des Gan­ges bogen sie in ei­nen wei­te­ren läng­li­chen Kor­ri­dor ein, in dem Vögel aller Ar­ten und Grö­ßen aus­ge­stopft in Vi­tri­nen prä­sen­tiert wur­den. »Er muss hier ir­gend­wo ste­cken«, sag­te Ti­ta­nia mehr zu sich selbst als zu He­len. Sie folg­te ihr wort­los durch die Gän­ge. Und da stand er. Sie er­kann­te Nick so­fort, selbst von hin­ten. Brei­te Schul­ter, schma­le Tail­le, sand­far­be­nes Haar, das sich wild bis zu sei­nen Oh­ren hi­nab wand. Er stand völ­lig ver­sun­ken vor ei­ner Vi­tri­ne.

»Hey Nick, schon wie­der was Aus­ge­stor­be­nes zum Le­ben er­weckt?«, rief Ti­ta­nia aus fast fünf Me­tern Ent­fer­nung zu. Ne­ben ein paar ver­wirr­ten Be­su­chern dreh­te sich auch Ni­cho­las um. Sein Lä­cheln setz­te He­len k. o.

Nicks brau­ne Augen leuch­te­ten auf, als er die Frau­en sah. Ob­wohl selbst He­len die­sen Ge­dan­ken ge­ra­de für äu­ßerst kli­schee­haft hielt, ga­ben ih­re Knie ein Stück nach, als Nick auf bei­de zu­ging. »Ti­ta­nia!«, er lä­chel­te so char­mant, dass je­der Eis­block ge­schmol­zen wä­re in die­sem Mo­ment. »Wen hast du mir da mit­ge­bracht? He­len, bist du das? He­len Ster­ling?« He­len war un­fä­hig zu ant­wor­ten, ge­schwei­ge denn sich an ih­ren ei­ge­nen Na­men zu er­in­nern. Der Fakt, dass er auch noch gut roch, mach­te sie voll­kom­men be­nom­men. Wa­rum hat­te sie ihm da­mals ei­nen Korb ge­ge­ben?

»Ja Nick, das ist He­len. Sie hat schein­bar tem­po­rär ihr Sprach­zentrum ver­lo­ren. Ich ent­schul­di­ge mich für ihr Be­neh­men. Nor­mal­er­wei­se kann sie sehr gut spre­chen, wirk­lich.«

He­len ver­such­te zu schlu­cken, aber ihr Hals war tro­cken wie die Sa­ha­ra. Sie kon­zen­trier­te sich und konn­te dann doch ih­re Spra­che wie­der­fin­den. »Do­do«, sag­te sie. Ihr wur­de schlag­ar­tig be­wusst, dass das die mit Ab­stand däm­lich­ste Ant­wort war, die man dem at­trak­tivs­ten aller Stu­dien­kol­le­gen ent­ge­gen­brin­gen konn­te, den man un­ge­fähr 8 Jah­re nicht ge­se­hen hat. Ti­ta­nia fuhr sich mit der Hand durch ihr Haar und knick­te da­bei kurz die Spit­ze ih­res Oh­res um. Nick starr­te sie für ein paar Se­kun­den an und be­gann aus vol­len Hals zu la­chen. Es war ein tie­fes und herz­li­ches La­chen. »Ja, das stimmt. Ich ste­he öf­ter hier vor den Do­dos. Fas­zi­nie­ren­de Tie­re nicht wahr?«

»Nein«, er­wi­der­te He­len, »da, ein Do­do!«. Sie zeig­te auf den Boden. Nick folg­te ih­rem Blick nach un­ten. »Adam! Du sollst doch nicht aus dem Büro raus kom­men. Bö­ser Do­do.« Ein et­was 40 Zen­ti­me­ter ho­hes Do­do-Kü­ken fiep­te schuld­be­wusst ne­ben sei­ner Wa­de. Er wat­schel­te von ei­nem Fuß auf den an­de­ren. Nick bück­te sich und hob zärt­lich das Jun­ge auf. Er hat­te ein flau­schi­ges dun­kel­wei­ßes bis grau­es Dau­nen­fell, wo­bei sein Bauch et­was hel­ler war. Es sah aus, als trü­ge das Jung­tier ei­nen Latz. Er tät­schel­te ihm den Kopf und Adam plus­ter­te sich vor Ent­zü­ckung et­was auf.

»Ich schla­ge vor, wir ge­hen in mein Büro. Folgt mir.« Sie gin­gen in ein groß­zü­gig ge­schnitt­enes Büro. Über­all stan­den prä­pa­rier­te Tie­re und die Mit­tags­son­ne ließ sie bei­nahe le­ben­dig aus­se­hen. Ei­ni­ge der Le­be­we­sen konn­te He­len beim be­sten Wil­len nicht ein­ord­nen. Bei­de Frau­en zo­gen ih­re Män­tel aus und setz­ten sich auf die zwei Stüh­le, die vor Nicks Schreib­tisch stan­den. Er setz­te Adam in ei­ne gro­ße Plas­tik­box, die er mit aller­lei Stof­fen aus­ge­pol­stert hat­te. Adam reck­te sei­nen gro­ßen und leicht krum­men Schna­bel über den Rand der Box. Erst als Nick ihm ei­ne Hand­voll Wür­mer in den Schna­bel steck­te, gab er Ru­he und zwack­te Nick da­bei kräf­tig in die Hand. »Adam ist aber groß ge­wor­den«, stell­te Ti­ta­nia fest.

»Und kräf­tig«, füg­te er hin­zu und sah, dass er et­was an der Sei­te der Hand blu­te­te. He­len starr­te sei­ne Hand an. Aus der Wun­de kam kein ro­tes Blut, wie es schien, es sah viel­mehr beige aus. »Oh, jetzt er­fährst du es wohl auf die­se Wei­se«, er­klär­te Nick. »Ich bin ein Sand­mann.«

»Sand­mann?«, ent­geg­ne­te He­len un­gläu­big. »Der, der den Schlaf bringt?« Sie stell­te sich vor, wie Nick des Nachts mit ei­nem Beu­tel voll Sand von Schlaf­zim­mer zu Schlaf­zim­mer geht und Träu­me ver­brei­tet. Der Ge­dan­ke an Nick in ih­rem Schlaf­zim­mer ließ sie leicht er­rö­ten. An Schlaf wür­de sie als letz­tes den­ken in die­ser Fan­ta­sie.

Nick stand ne­ben dem Was­ser­ko­cher und kleb­te sich ein Pflas­ter auf die Hand. »Oh Gott, immer die­se Vor­ur­tei­le. Sand­men­schen brau­chen kei­nen Schlaf. So ein­fach ist das. Viele klei­ne Sand­jun­gen und Mäd­chen be­su­chen nachts ih­re Freun­de, weil sie spie­len wol­len. Sie müs­sen erst ler­nen, dass alle an­de­ren zu­meist nachts schla­fen. Des­we­gen muss die­ser Ab­er­glau­be ent­stan­den sein. Die Far­be un­se­res Blu­tes er­in­nert an Sand, das ver­lieh uns un­se­ren Na­men.«

»Du schläfst nie?«

»Nein, nie­mals. Das gibt ei­nem un­heim­lich viel Zeit zum Le­sen und Stu­die­ren.«

Der Mann stell­te drei Tas­sen Tee auf den Tisch. »Kek­se sind lei­der aus, Adam ist ein Viel­fraß.« Er blick­te mit ge­spiel­ter el­ter­li­cher Stren­ge zu dem schla­fen­den Vogel.

»Wie bist du un­ter die Se­hen­den ge­ra­ten?« Nick schau­te He­len in­te­res­siert an. Be­vor die­se et­was sa­gen konn­te, be­gann Ti­ta­nia die Ge­schich­te zu er­zäh­len. Von Jos­hu­as Tod, dem rät­sel­haf­ten Hin­weis, der Kugel, der Musik und der blau­en Flam­me. Er saß ganz ru­hig da und brumm­te hin und wie­der ein­fach nur. Sie be­en­de­te ih­re Er­zäh­lung mit den Wor­ten »…und da du der Fach­mann bist, sit­zen wir nun hier.«

Nick lehn­te sich nach vor­ne und leg­te die Hän­de ver­schränkt vor sich ab. Er schau­te He­len fest in die Augen. »Ich be­schäf­ti­ge mich schon sehr lan­ge mit un­se­rer His­to­rie. Un­vor­stell­bar al­te Mäch­te fan­den vor vielen, vielen Jahr­hun­der­ten ei­nen Weg, die Blind­heit rück­gän­gig zu ma­chen. Sie bau­ten die­se Kugeln und Tei­le ih­rer Macht flos­sen mit hin­ein. Nenn es Zau­be­rei oder gött­li­che All­macht, du wirst nie ei­nen pas­sen­den Be­griff da­für fin­den. Die Wis­sen­schaft­ler strei­ten sich eben­so lan­ge da­rüber, wie es exis­tiert. Musik ist aber der ein­zi­ge Weg, um die­se Un­fä­hig­keit zu be­sei­ti­gen. Sie dringt tief in dein Un­ter­be­wusst­sein ein und öff­net die­ses für die Wahr­heit. Zu­min­dest ha­be ich noch nie von ei­nem an­de­ren Weg ge­hört. Fakt ist aber, dass dein Bru­der in Be­sitz die­ser Kugel kam und dem­ent­spre­chend auch du. Es liegt jetzt an dir, wie du mit dem Wis­sen um­gehst. Ich ver­mu­te, du musst jetzt da­mit le­ben. Haupt­sa­che, du hast jetzt kein Tat­too oder so.«

He­len leg­te ih­ren Arm auf sei­nen Schreib­tisch, die Hand­flä­che nach oben ge­öff­net. »Meinst du das?«

Ni­cho­las beug­te sich so­fort da­rüber. Sacht fuhr mit sei­nem Zei­ge­fin­ger über die schwar­zen Li­ni­en des Mis­tel­zwei­ges an ih­rem Hand­ge­lenk. »Aus der Nä­he sieht es be­ein­druckend aus.« Er be­gut­ach­te­te je­de ein­zel­ne Li­nie.

»Weißt du, was es be­deu­tet?« Auf­re­gung schwang in sei­ner Stim­me mit.

»Wenn ich es wüss­te, wä­re ich wohl kaum hier, oder? Ich weiß nur, dass es von den blau­en Flam­men kommt. Es ist we­der Kugel­schrei­ber noch Ed­ding. Jetzt kommt dein Part.«

Er hat­te ihr Hand­ge­lenk noch immer fest in sei­ner Hand. »Nun ja, ich ha­be ei­ne gu­te und ei­ne schlech­te Nach­richt für dich. Die Gu­te vor­weg: Du bist jetzt ei­ne Drui­din. Zu­min­dest ist das die Be­deu­tung dei­ner Tä­to­wie­rung. Das pas­siert nur sehr, sehr, sehr sel­ten. Und da wä­ren wir schon bei der schlech­ten Nach­richt an­ge­langt: Du bist Drui­din.«

He­lens Kinn­la­de kipp­te in­ner­halb von 24 Stun­den ein wei­te­res Mal nach un­ten.

Der Sand­mann fuhr fort: »Drui­den sind so et­was wie die Be­schüt­zer der An­de­ren. Die Kugel er­wählt nur den Men­schen, der rei­nen Her­zens ist und die­se Macht nicht miss­brau­chen wür­de. Ver­mut­lich hat die Kugel wäh­rend der Musik ge­wis­se Kräf­te frei­ge­setzt und auf dich über­tra­gen. Drui­den be­sit­zen al­so Kräf­te, die sonst kein Le­be­we­sen hat. Das macht sie zu den Be­schütz­ern, ob sie wol­len oder nicht.«

Ti­ta­nia dreh­te sich mit ih­rem Ober­körper zu He­len, die immer noch un­ter Schock stand. »Fa­mos, mei­ne Freun­din ist Har­ry Pot­ter.«

Helen Sterling und das Geheimnis der Lady Jane Grey

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