Читать книгу Helen Sterling und das Geheimnis der Lady Jane Grey - Victoria Lancaster - Страница 8
Kapitel 4
ОглавлениеAls Helen die Augen öffnete, sah sie die winterliche Sonne in ihrem Wohnzimmer. Das Geschehene von letzter Nacht wollte ihr einfach nicht mehr einfallen. Sie prüfte kurz ihre Umgebung. Es schien bereits das Tageslicht, das Feuer war erloschen und sie konnte Titanias Handtasche neben dem Sessel erkennen. Der Teekessel in der Küche pfiff in diesem Moment in einem hohen Ton in der Küche. Sie hielt sich mit ihrer rechten Hand ihr rechtes Ohr zu, das Linke war durch das Kissen, auf dem sie lag, geschützt. Allmählich fiel es ihr wieder ein: die Kugel, die Melodie, das gleißende Licht. Langsam nahm sie die Hand vom Ohr und starrte ungläubig auf ihr rechtes Handgelenk. Was dort prangte, war die Zeichnung eines Mistelzweiges. Filigran und gerankt zog sich die Pflanze in schwarzen Linien um das Gelenk. Sogar über ihren Pulsadern sah sie länglichen, gezackten Blätter, die sich in Zweigen verästelt. Unter einigen Blättern waren sogar die kleinen Beeren zu sehen.
Schlagartig richtete sie sich auf. »TITANIA, irgendwas stimmt hier nicht!« Hastig befeuchtete sie ihren linken Daumen an ihrer Zunge und rieb heftig über den schwarzen Mistelzweig. »Titania McAllister, komm´ sofort her!« Wenn sie ihre Bewusstlosigkeit ausgenutzt haben sollte, um sich mit einem Edding-Stift die Langeweile zu vertreiben, wäre das alles andere als lustig.
»Klopf, Klopf. Bist du schon wach?«, fragte Titania zaghaft durch die angelehnte Tür hindurch.
»Ja, sonst würde ich wohl kaum nach dir rufen, oder?«, entgegnete ihr Helen. »Wieso redest du mit mir überhaupt durch die Tür? Hast du mir etwas zu sagen?«, fragte Helen halb im Scherz und halb ernst.
»Also weißt du Helen, wenn du es schon ansprichst: ja. Aber du darfst dich jetzt nicht aufregen oder durchdrehen. Versprich mir das.«, kam es zögerlich von Titania von der anderen Seite der Tür. »Versprich es mir, hörst du?«, wiederholte sie.
Helen erhob sich von der Couch und ging zur Tür, im Gehen versuchte sie immer noch verzweifelt die Farbe von sich abzubekommen. »Titania, sei nicht albern. Welche Farbe hast du benutzt?« Sie zog die Tür zum Flur auf und blickte kurz von ihrem Handgelenk auf, nur um gleich wieder ihre Aufmerksamkeit auf diese hartnäckige Farbe zu richten. Sie hielt kurz inne. Irgendwas war anders an ihrer Freundin. Ihr Blick musterte sie von unten nach oben. »Wieso hast du spitze Ohren? Führst du in deiner Handtasche neuerdings Scherzartikel mit dir?«
Auf die Antwort war sie jetzt wirklich gespannt. Sie war ja schon so einiges gewohnt von ihr, aber auf Schabernack hatte sie wenig Lust. Titania folgte ihr ins Wohnzimmer.
»Helen, Darling«, sie klang seltsam angespannt, »die sind nicht künstlich, die sind echt.« Sie schaute ihr betreten in die Augen.
»Hör´ jetzt auf mit dem Unsinn.« Helen machte einen Schritt auf sie zu und zog an Titanias linkem Ohr. »Nimm diese verdammten Ohren endlich ab. Dein Verhalten ist einfach nur kindisch.«
Doch so sehr sie auch zog, sie wollten sich nicht lösen lassen. »Au au au, Helen bitte, du tust mir weh!« Helen erstarrte vor Schreck und ihr Mund stand offen, ihre Hand umfasste immer noch das Ohr. Titania sagte mit sanfter, aber bestimmter Stimme: »Flipp. Jetzt. Bloß. Nicht. Aus.«
Vorsichtig griff sie nach Helens Hand und löste sie von ihrem gerötetem Ohr. Ihre Freundin starrte sie weiterhin fassungslos an, unfähig, auch nur ein Wort heraus zu bringen.
»Ich kann dir fast alles erklären. Tee?« Eine Tasse Tee beruhigt immer. Unsicher, was sie jetzt machen sollte, zog Titania ihre Freundin auf die Couch und saß ihr zugewandt zu Helens Linken. »Jetzt glotz mir nicht mehr auf die Ohren, das ist unhöflich!« Erst jetzt löste sich Helen aus ihrer Starre und die Worte kamen zurück.
»Entschuldigung, das wollte ich nicht. Bist du krank? Wo kommen dir Ohren her? Oder bin ich noch bewusstlos? Ja, das muss es ein. Ich bin noch bewusstlos und träume.« Sie legte die Handfläche ihrer linken Hand um eine Teetasse. Ein überwältigender Schmerz durchfuhr ihre Hand. »Ahh, verdammt, heißheißheiß.« Helen zog ruckartig ihre Hand weg und pustete kühlend darauf.
»Jetzt lass den Blödsinn bleiben. Du träumst nicht. Ich muss dir jetzt wohl die Wahrheit sagen. Bist du bereit?«
»Habe ich eine Wahl?«
»Ich befürchte nicht.« Titania nahm sich ein Kissen vor dem Bauch und knetete es, als müsste es dringend massiert werden.
»Also, wo fang ich denn am besten an? Oh Gott, so muss das sein, wenn man seine Kinder aufklären muss.«
»Titania, bitte. Was ist hier los? Ich erinnere mich an die Kugel von gestern Abend. Da kam diese seltsame Melodie heraus, dann wurde ich ohnmächtig. Als ich heute Morgen aufgewacht bin, hattest du komische Ohren und ich DAS hier am Handgelenk!« Zum Beweis reckte sie ihren rechten Arm nach oben, die Hand zur Faust geballt. Titania betrachtete den Mistelzweig an dem Handgelenk und zog dabei eine Augenbraue argwöhnisch nach oben.
»Entschuldigung. Helen, erinnerst du dich an den Turmbau zu Babel?«, fragte sie, obwohl sie genau wusste, dass eine Historikerin wie Helen das selbstverständlich wusste.
»Natürlich. Laut Bibel versuchten die Menschen, einen Turm zu bauen, der bis zu Gott heranreichen würde. Erzürnt über diese Anmaßung bestrafte er sie mit verschiedenen Sprachen. So konnten sie sich nicht mehr verständigen und der Turmbau konnte nicht fortgeführt werden«, erzählte Helen mit geschlossenen Augen. Das tat sie meistens, wenn sie sich beim Erzählen konzentrieren musste.
»Ja, das stimmt soweit«, pflichtete ihr Titania bei. »Aber da ist noch nicht Schluss. Es wird sich weiterhin erzählt, dass eine gewisse Obrigkeit, nennen wir sie Gott, nicht nur die Sprachen auf die Welt schickte. Es gab damals großen Streit unter allen Lebewesen. Menschen, Elfen, Feen, Orks und noch viele mehr. Die Menschen maßten sich an, ungerecht über andere Spezies zu richten. Anstatt in Frieden zu leben, versuchten sie, alle anderen auszurotten. Der Turm zu Babel sollte nicht nur dazu dienen an Gott heran zu reichen, er sollte als riesige Kerkeranlage für alle dienen, die keine Menschen waren. Also entsandte Gott nicht nur die Sprachen, sondern auch die Blindheit. Seit dem Tag an war kein Mensch mehr in der Lage, andere Wesen wahrzunehmen, die nicht zu der Klasse der Menschen gehörte. Gott machte euch Menschen blind für uns. Zumindest erzählt man es sich so.«
»Titania, ehrlich, das klingt wahnsinnig. Ist dir das klar?« Helens Verstand spielte gerade verrückt. Am liebsten hätte sie ihre Freundin gefragt, ob Drogen mit im Spiel sind. Allerdings rückten dann wieder diese zierlichen, aber relativ langen Ohren in ihr Blickfeld und sie konnte die Existenz dieses Körperteils nicht abstreiten. »Mal angenommen ich glaube dir den Blödsinn für einen Augenblick. Was bist du dann?« Helen bereute diese Frage sogleich, denn das Wörtchen Was schien ihr politisch absolut inkorrekt. »Bist du die Königin der Feen?« In diesem Moment hätte sie gar nichts mehr überrascht. Innerlich bereitete Helen sich auf Titanias Antwort vor und kniete gedanklich schon vor dem Thron einer Königin, von der sie bislang nichts wusste. Obwohl es Titanias Wohlstand durchaus logisch erklären würde.
»Sei bitte nicht albern Helen.« Titania war erstaunt über Helens Frage. Obwohl ihr eine Krone schon außerordentlich gut stehen würde, wie sie fand. »Ich bin keine Königin. Meine Mutter ist eine Elfe und mein Vater ein Zwerg. Deshalb bin ich auch etwas petit. Verstehst du?«
Helen sah sie wortlos an, beide Augenbrauen nach oben gezogen. »Offensichtlich nicht. Gut, dann also die Langfassung. Meine Mutter, Eleonora, ist eine Elfe. Sie war Schauspielerin am Theater, als sie meinen Vater kennenlernte. Er ist ein Zwerg und baute damals die Bühnendeko für das Theater. Sie probte, er baute, so lernten sie sich kennen. Du musst wissen, dass Zwerge handwerklich äußerst begabt sind. Tja, und da das Stück, in dem Mutter mitspielte, Shakespeares Sommernachtstraum war, fanden sie den Namen Titania wohl naheliegend.«
»Elfen? Zwerge?« Helen schaute noch verwirrter drein.
»Oh man, ich hätte besser Lehrerin werden sollen. Also pass auf: Elfen sind zierliche Geschöpfe mit länglichen Ohren, wie du an mir siehst. Und bevor du fragst, wir können nicht besser damit hören. Viele Elfen besitzen die Fähigkeit zum Manipulieren. Böse Elfen machen sich das zunutze und verwenden es für ihre kriminellen Machenschaften. Das Gute an Elfen ist, dass sie künstlerisch sehr begabt sind. Viele, viele Elfen sind große Künstler. Ob Maler, Tänzer oder Schauspieler, wir lieben die Kunst. Mein Vater, der ein Zwerg ist, hat ganz andere Eigenschaften. Natürlich ist er klein, deswegen bin ich auch nicht so groß geraten. Allerdings haben Zwerge beeindruckende Handwerkskünste. Viele sind Ingenieure oder haben eigene Firmen. Entgegen allen Gerüchten sind Zwerge freundliche und großzügige Wesen. In den Medien werden sie leider immer anders dargestellt. Und was wirklich besonders ist, sie sagen immer die Wahrheit. Zwerge können nicht lügen. Das macht sie übrigens so attraktiv für Frauen. Viele Richter sind übrigens Zwerge.«
Helen musste erst langsam diese Informationsflut verarbeiten. »Und welche Besonderheiten hast du von deinen Eltern?«
»Naja ….«, Titania überlegte kurz, »… diese hübschen Ohren sind von meiner Mutter. Von meinem Vater habe ich die Großzügigkeit und die Unfähigkeit zum Lügen.«
»Beweise es.«, Helen kniff die Augen etwas zusammen. »Sag mir, was ich noch nicht von dir weiß. Was war auf der Weihnachtsfeier vor drei Jahren, als ich krank war und nicht dabei sein konnte? Ich weiß bis heute nicht, was auf der Feier passiert ist.«
»Helen, zwing mich nicht dazu.«
»Oh doch, was passierte an jenem Abend?«
»Ich war voll wie ein Schichtbus und hab auf dem Tisch getanzt. Anschließend habe ich mit zwei Typen rum geknutscht und hab dann aber die Nacht mit der Barfrau verbracht.«
»Du hast was?« Helen sah völlig entgeistert ihre Freundin an. »Du sagtest mir doch, du wolltest nicht auf diese Party gehen.«
»Hey, das war auch nicht gelogen! Ich wollte wirklich nicht. Aber Johnny rief an und fragte mich, ob ich nicht auch Lust hätte zu kommen. Eins ergab das andere …. Du kennst das. Könnten wir nicht zurück zum Thema kommen, bitte?« Die Spitzen ihrer Ohren verfärbten sich aus Scham rot.
Helen stand wortlos auf und ging zu ihrem Globus rechts neben dem Kamin. Obwohl neueren Datums, war er altmodisch gebaut. Edles Mahagoniholz wurde für das Gestell verwendet und die Erdkugel war ebenfalls aus edlem Holz, die Kontinente stellten sich braun dar. In verschnörkelter Schrift konnte der Betrachter die Bezeichnung der Länder und Städte lesen. Scheinbar gedankenversunken drehte sie sacht an der Erde. Sie stoppte und strich über die antike Weltkarte, ihre Finger blieben ungefähr auf der Höhe des Äquators hängen. Ein sanfter Druck ließ die Nordhalbkugel nach oben klappen. Titania konnte nicht erkennen, was Helen im Inneren der Erde suchte. Ihre Freundin drehte sich um, in ihren Händen hielt sie eine Flasche Champagner. Sie befreite die Flasche von ihrer Verpackung am Korken und setzte die Daumenkuppen direkt unter dem Verschluss an. Sie brauchte nur wenig Druck und der Korken flog unter einem lauten Knall quer durch das sonst stille Zimmer. Titania traute sich nicht, diese unheimliche Ruhe, die nur vom Entkorken unterbrochen wurde, zu stören. Helen schaute kurz auf die Flasche, die sie neulich entdeckt hatte, als Sherlock auf den Globus sprang und diesen mit seinen Pfoten versehentlich öffnete. Es war eine goldene Flasche der Marke Armand De Brignac, auf dem Etikett glänzte das Symbol eines Asses mit dem Buchstaben A. Sie setzte die 295 Pfund teure Flasche an und ließ das prickelnde Getränk in ihren Mund fließen. Als sie absetzte, wischte sie sich den Mund mit ihrem Handrücken ab und sagte trocken: »Alles klar, weiter geht’s. Demzufolge du bist eine Art Zwerlf? Halb Zwerg, halb Elf? Sonst noch was?«
»Also wenn du das so sagst, klingt das irgendwie unerotisch.« Titania ließ sich mit dem Rücken gegen die Couch fallen. »Und ja, ich glaube, dass Joshuas Tod irgendetwas mit der Kugel von gestern zu tun haben muss. Dafür fehlen mir aber die Beweise.« Helen nahm einen weiteren kräftigen Schluck aus der Flasche und ließ sich anschließend rechts neben ihre Elfen-Freundin auf die Couch fallen. Ohne sie anzuschauen reichte sie ihr die Flasche nach links. Wortlos nahm Titania diese und setzte sie an ihren Mund an, um einen mehr als kräftigen Schluck zu nehmen.
»Gutes Zeug«, sagte sie, als sie die Flasche wieder abstellte. »Ja«, entgegnete Helen, »die war anscheinend für einen besonderen Anlass gedacht. Ein höchst skurriler Anlass tut’s wohl auch, schätze ich. Was wusstest du über meinen Bruder?«
»Ich habe seinen Namen im Zusammenhang mit seltenen Gegenständen gehört. Er konnte alles finden und besorgen. Allerdings kannte niemand seinen Nachnamen. Mehr weiß ich nicht.«
Helen streckte Titania ihren rechten Arm entgegen. »Ich befürchte, dass das kein Edding ist und du nicht in irgendeinen Anfall von Kreativität an mir rum gemalt hast?«
Titania betrachtete eingehend den schwarzen Mistelzweig am Handgelenk.
»Nein, Honey, tut mir leid. Ich war das leider nicht.«
»Ein Versuch war es wert.«
»Aber ich weiß, wer uns das sagen könnte. Vorher sollten wir uns jedoch etwas aufhübschen. Der Typ ist nämlich echt heiß.«
Helen ging in ihr Schlafzimmer mit angeschlossenem Badezimmer und Titania in das Gästezimmer, ebenfalls mit Bad. Beide Zimmer lagen in der ersten Etage. Titanias Notfalltasche beinhaltete alles, was sie brauchte. Nach dem Duschen und Haare föhnen, entschied Helen sich für eine dunkelblaue Jeans und einem schwarzen Kaschmir-Pullover. Sie vermutete, dass sie praktische Kleidung heute der Eleganz vorziehen müsste. Hinter ihr ging die Tür auf und Titania betrat das Zimmer. Auch sie trug eine blaue Jeans, kombiniert mit einer knallroten, eng anliegenden Bluse. Ihre Füße steckten in schwarzen Pumps. Helen setzte sich gerade auf ihr Bett und schlüpfte in Lederstiefel.
»Du trägst aktuelle Kurt Geiger Stiefel zu Armani Jeans aus der letzten Saison? Mutig.« Titanias Markenbewusstsein beeindruckte Helen stets aufs Neue. Ebenso beeindruckt war sie von der Tatsache, dass ihre Freundin in fast jeder Situation hochhackige Schuhe tragen konnte. Die Tatsache, dass sie zur Hälfte Zwerg war und etwas kürzer ausfiel, gab dieser Angewohnheit jetzt allerdings einen tieferen Sinn, dachte Helen. Sie selbst zog den Reißverschluss ihrer Lederstiefel zu.
Als könnte sie ihre Gedanken lesen, feixte Titania: »Queen Victoria war auch nur 1,52 m groß. Ich liege im Bereich von Queen Elizabeth, 1,63 m.«
»Ich finde jedenfalls, die machen doch einen sehr schlanken Fuß.«, lachte Helen und reckte ihre Beine senkrecht in die Höhe.
»In Anbetracht der Tatsache, dass wir dringend losmüssen, verzeihe ich dir diesen Fauxpas. Bei nächster Gelegenheit brauchen wir aber die neue Kollektion für dich.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte Titania sich um und ging die Treppe hinunter zur Garderobe. Helen folgte ihr augenblicklich. Beide zogen sich ihre Mäntel über, schnürten sich jeweils den Schal fest um den Hals, griffen ihre Handtaschen und traten vor die Haustür. Als Helen sich umdrehte, um die Tür abzuschließen, fragte Titania: »Wo hast du die Kugel gelassen?«
Helen verstaute den Schlüssel in ihrer Handtasche und antwortete: »Da, wo ich sie gefunden habe.« Beide grinsten sich an. »Wo gehen wir denn jetzt hin, meine elfenohrige Freundin?«
»Oh Gott, das werde ich jetzt die nächsten Jahre hören, oder? Wir gehen zu Nick in das Naturhistorische Museum. Vielleicht erinnerst du dich an ihn, Nicholas Carter, Dr. Nicholas Carter. Er hat dich mal angebaggert auf einer Uni Party«
»Wie habe ich reagiert?«
»Du hast ihm leider aus unerfindlichen Gründen einen Korb gegeben.«
»Unerfindliche Gründe?«
»Du fandest ihn langweilig. Genaugenommen sagtest du staubtrocken. Du warst da in deiner Bad-Boy-Phase. Er ist übrigens auch anders.«
»Was auch sonst«, seufzte Helen in den kalten Wind.
Sie gingen die fünf Stufen der Treppe herunter und hielten sich links. Die beiden Frauen benötigten etwa eine halbe Stunde zu Fuß, indem sie den angrenzenden Hyde Park durchquerten, bis sie die ersten Bereiche des Museums erreichten. »Wusstest du, dass man circa drei Tage am Stück braucht, um das Museum ganz zu sehen?«, fragte Helen.
»Ja Helen, das hast du mir bereits gefühlte 494 Mal erzählt.« Sie bogen an der nächsten Kreuzung rechts ein und gingen die Straße entlang bis zum Haupteingang des Museums. Eine Gruppe von ungefähr Zehnjährigen stand vor dem Eingang. Helen erschrak. Ein Junge hatte genau wie Titania lange spitze Ohren. Ein Mädchen hatte eine grünliche Hautfarbe. Sie sah Helen direkt in die Augen und streckte ihr die Zunge heraus. »Mach dir keine Sorgen«, sagte Titania, »Sie ist ein Ork. Das sind oftmals temperamentvolle Kinder.«
»Orks? Es gibt Orks?«, fragte Helen besorgt. Bilder aus Herr der Ringe schossen durch ihren Kopf. Kein beruhigender Gedanke, wie sie feststellen musste.
»Yep. Als Kinder sind sie äußerst impulsiv und schwer zu kontrollieren. Im Erwachsenenalter wirken sie meist überaus bullig vom Erscheinungsbild her. Ihre Schmerzgrenze liegt extrem hoch. Du musst ihnen wirklich schon einen Stuhl über ihren Dickschädel ziehen, damit sie sich beruhigen. Ihr ungezügeltes Naturell bringt sie oftmals in schwierige Situationen. Konflikte mit der Polizei, Prügelein, Randale im Sport und vieles mehr.«
»Aber haben die auch gute Seiten? Ich mein, sind das tatsächlich nur gewaltbereite Grüne? Das Mädchen sieht doch sonst aus wie ein ….« Titania unterbrach sie mitten im Satz: »… wie ihr Menschen? Dass Orks dumpfe Fleischberge mit Hauer als Zähnen sind, ist ein reines Klischee. Genau wie diese höchst seltsame Idee, dass sie dumm sind. Das sind nichts weiter als Mythen und Legenden. Sie sind, nein, WIR sind halt nur anders. Wir sehen etwas anders aus und können andere Dinge. Menschen haben durch die Jahrhunderte viel Blödsinn erfunden und dazu gedichtet. Und ja, Orks haben auch ihre guten Seiten. Viele können ihr Temperament auch zügeln und ihr angeborener Mut macht sie zu unerschrockenen Kämpfern. Wahrscheinlicher ist es aber, dass du sie in Sportarten wie Rugby findest. Ihre Kraft und ihre Unempfindlichkeit gegenüber Schmerzen macht sie zu wahren Talenten im körperbetonten Sport. Außerdem sind sie äußerst sozial. Orks heiraten nur untereinander und sie würden für ihre Familie alles geben. Lass uns jetzt hinein gehen.«
Schweigend nahm Helen diese Erläuterung zur Kenntnis. Beide betraten das Gebäude, in dem sie von dem gigantischen Dinosaurierskelett in der Heintze-Halle empfangen wurden. Unwillkürlich blieben beide für einen kurzen Augenblick ehrfürchtig vor dem imposanten Skelett stehen.
Titania legte die Hand an Helens Arm und nickte nach rechts. Beide gingen am Skelett vorbei und kamen in einen langen Gang, in dem rechts und links an den Wänden lauter Fossilien hingen. Am Ende des Ganges bogen sie in einen weiteren länglichen Korridor ein, in dem Vögel aller Arten und Größen ausgestopft in Vitrinen präsentiert wurden. »Er muss hier irgendwo stecken«, sagte Titania mehr zu sich selbst als zu Helen. Sie folgte ihr wortlos durch die Gänge. Und da stand er. Sie erkannte Nick sofort, selbst von hinten. Breite Schulter, schmale Taille, sandfarbenes Haar, das sich wild bis zu seinen Ohren hinab wand. Er stand völlig versunken vor einer Vitrine.
»Hey Nick, schon wieder was Ausgestorbenes zum Leben erweckt?«, rief Titania aus fast fünf Metern Entfernung zu. Neben ein paar verwirrten Besuchern drehte sich auch Nicholas um. Sein Lächeln setzte Helen k. o.
Nicks braune Augen leuchteten auf, als er die Frauen sah. Obwohl selbst Helen diesen Gedanken gerade für äußerst klischeehaft hielt, gaben ihre Knie ein Stück nach, als Nick auf beide zuging. »Titania!«, er lächelte so charmant, dass jeder Eisblock geschmolzen wäre in diesem Moment. »Wen hast du mir da mitgebracht? Helen, bist du das? Helen Sterling?« Helen war unfähig zu antworten, geschweige denn sich an ihren eigenen Namen zu erinnern. Der Fakt, dass er auch noch gut roch, machte sie vollkommen benommen. Warum hatte sie ihm damals einen Korb gegeben?
»Ja Nick, das ist Helen. Sie hat scheinbar temporär ihr Sprachzentrum verloren. Ich entschuldige mich für ihr Benehmen. Normalerweise kann sie sehr gut sprechen, wirklich.«
Helen versuchte zu schlucken, aber ihr Hals war trocken wie die Sahara. Sie konzentrierte sich und konnte dann doch ihre Sprache wiederfinden. »Dodo«, sagte sie. Ihr wurde schlagartig bewusst, dass das die mit Abstand dämlichste Antwort war, die man dem attraktivsten aller Studienkollegen entgegenbringen konnte, den man ungefähr 8 Jahre nicht gesehen hat. Titania fuhr sich mit der Hand durch ihr Haar und knickte dabei kurz die Spitze ihres Ohres um. Nick starrte sie für ein paar Sekunden an und begann aus vollen Hals zu lachen. Es war ein tiefes und herzliches Lachen. »Ja, das stimmt. Ich stehe öfter hier vor den Dodos. Faszinierende Tiere nicht wahr?«
»Nein«, erwiderte Helen, »da, ein Dodo!«. Sie zeigte auf den Boden. Nick folgte ihrem Blick nach unten. »Adam! Du sollst doch nicht aus dem Büro raus kommen. Böser Dodo.« Ein etwas 40 Zentimeter hohes Dodo-Küken fiepte schuldbewusst neben seiner Wade. Er watschelte von einem Fuß auf den anderen. Nick bückte sich und hob zärtlich das Junge auf. Er hatte ein flauschiges dunkelweißes bis graues Daunenfell, wobei sein Bauch etwas heller war. Es sah aus, als trüge das Jungtier einen Latz. Er tätschelte ihm den Kopf und Adam plusterte sich vor Entzückung etwas auf.
»Ich schlage vor, wir gehen in mein Büro. Folgt mir.« Sie gingen in ein großzügig geschnittenes Büro. Überall standen präparierte Tiere und die Mittagssonne ließ sie beinahe lebendig aussehen. Einige der Lebewesen konnte Helen beim besten Willen nicht einordnen. Beide Frauen zogen ihre Mäntel aus und setzten sich auf die zwei Stühle, die vor Nicks Schreibtisch standen. Er setzte Adam in eine große Plastikbox, die er mit allerlei Stoffen ausgepolstert hatte. Adam reckte seinen großen und leicht krummen Schnabel über den Rand der Box. Erst als Nick ihm eine Handvoll Würmer in den Schnabel steckte, gab er Ruhe und zwackte Nick dabei kräftig in die Hand. »Adam ist aber groß geworden«, stellte Titania fest.
»Und kräftig«, fügte er hinzu und sah, dass er etwas an der Seite der Hand blutete. Helen starrte seine Hand an. Aus der Wunde kam kein rotes Blut, wie es schien, es sah vielmehr beige aus. »Oh, jetzt erfährst du es wohl auf diese Weise«, erklärte Nick. »Ich bin ein Sandmann.«
»Sandmann?«, entgegnete Helen ungläubig. »Der, der den Schlaf bringt?« Sie stellte sich vor, wie Nick des Nachts mit einem Beutel voll Sand von Schlafzimmer zu Schlafzimmer geht und Träume verbreitet. Der Gedanke an Nick in ihrem Schlafzimmer ließ sie leicht erröten. An Schlaf würde sie als letztes denken in dieser Fantasie.
Nick stand neben dem Wasserkocher und klebte sich ein Pflaster auf die Hand. »Oh Gott, immer diese Vorurteile. Sandmenschen brauchen keinen Schlaf. So einfach ist das. Viele kleine Sandjungen und Mädchen besuchen nachts ihre Freunde, weil sie spielen wollen. Sie müssen erst lernen, dass alle anderen zumeist nachts schlafen. Deswegen muss dieser Aberglaube entstanden sein. Die Farbe unseres Blutes erinnert an Sand, das verlieh uns unseren Namen.«
»Du schläfst nie?«
»Nein, niemals. Das gibt einem unheimlich viel Zeit zum Lesen und Studieren.«
Der Mann stellte drei Tassen Tee auf den Tisch. »Kekse sind leider aus, Adam ist ein Vielfraß.« Er blickte mit gespielter elterlicher Strenge zu dem schlafenden Vogel.
»Wie bist du unter die Sehenden geraten?« Nick schaute Helen interessiert an. Bevor diese etwas sagen konnte, begann Titania die Geschichte zu erzählen. Von Joshuas Tod, dem rätselhaften Hinweis, der Kugel, der Musik und der blauen Flamme. Er saß ganz ruhig da und brummte hin und wieder einfach nur. Sie beendete ihre Erzählung mit den Worten »…und da du der Fachmann bist, sitzen wir nun hier.«
Nick lehnte sich nach vorne und legte die Hände verschränkt vor sich ab. Er schaute Helen fest in die Augen. »Ich beschäftige mich schon sehr lange mit unserer Historie. Unvorstellbar alte Mächte fanden vor vielen, vielen Jahrhunderten einen Weg, die Blindheit rückgängig zu machen. Sie bauten diese Kugeln und Teile ihrer Macht flossen mit hinein. Nenn es Zauberei oder göttliche Allmacht, du wirst nie einen passenden Begriff dafür finden. Die Wissenschaftler streiten sich ebenso lange darüber, wie es existiert. Musik ist aber der einzige Weg, um diese Unfähigkeit zu beseitigen. Sie dringt tief in dein Unterbewusstsein ein und öffnet dieses für die Wahrheit. Zumindest habe ich noch nie von einem anderen Weg gehört. Fakt ist aber, dass dein Bruder in Besitz dieser Kugel kam und dementsprechend auch du. Es liegt jetzt an dir, wie du mit dem Wissen umgehst. Ich vermute, du musst jetzt damit leben. Hauptsache, du hast jetzt kein Tattoo oder so.«
Helen legte ihren Arm auf seinen Schreibtisch, die Handfläche nach oben geöffnet. »Meinst du das?«
Nicholas beugte sich sofort darüber. Sacht fuhr mit seinem Zeigefinger über die schwarzen Linien des Mistelzweiges an ihrem Handgelenk. »Aus der Nähe sieht es beeindruckend aus.« Er begutachtete jede einzelne Linie.
»Weißt du, was es bedeutet?« Aufregung schwang in seiner Stimme mit.
»Wenn ich es wüsste, wäre ich wohl kaum hier, oder? Ich weiß nur, dass es von den blauen Flammen kommt. Es ist weder Kugelschreiber noch Edding. Jetzt kommt dein Part.«
Er hatte ihr Handgelenk noch immer fest in seiner Hand. »Nun ja, ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht für dich. Die Gute vorweg: Du bist jetzt eine Druidin. Zumindest ist das die Bedeutung deiner Tätowierung. Das passiert nur sehr, sehr, sehr selten. Und da wären wir schon bei der schlechten Nachricht angelangt: Du bist Druidin.«
Helens Kinnlade kippte innerhalb von 24 Stunden ein weiteres Mal nach unten.
Der Sandmann fuhr fort: »Druiden sind so etwas wie die Beschützer der Anderen. Die Kugel erwählt nur den Menschen, der reinen Herzens ist und diese Macht nicht missbrauchen würde. Vermutlich hat die Kugel während der Musik gewisse Kräfte freigesetzt und auf dich übertragen. Druiden besitzen also Kräfte, die sonst kein Lebewesen hat. Das macht sie zu den Beschützern, ob sie wollen oder nicht.«
Titania drehte sich mit ihrem Oberkörper zu Helen, die immer noch unter Schock stand. »Famos, meine Freundin ist Harry Potter.«