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Das ästhetische Feindbild

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Nach dem Fall der Berliner Mauer, der in vielerlei Hinsicht durch russische Bemühungen zustande kam, um nicht zu sagen mithilfe russischer Großzügigkeit, ungeachtet eines gewissen Widerstands einiger Verbündeter Westdeutschlands, hätte man meinen können, nun würde eine Epoche beiderseits erfreulicher Nachbarschaft anbrechen. Und in der Tat gab es einen Moment, da der Geist der Verbrüderung in der Luft hing. All das endete unerfreulich schnell.

Wir enttäuschten den Westen und in gewisser Weise auch uns selbst, da wir uns als »anders« erwiesen, jedenfalls als nicht so, wie uns die Europäer gerne sehen wollten. Und obwohl sogar in den anspruchslosesten amerikanischen Filmen die Liebe zum »anderen«, der einem selbst nicht ähnlich ist, propagiert wird, sei er auch ein Außerirdischer oder ein Schwarzer, hat niemand die Russen in ihrer »Andersartigkeit« ins Herz geschlossen. Der Westen hat eher die »anderen« Chinesen vorgezogen, ungeachtet dessen, dass wir bezüglich gesellschaftlicher Standards weitaus freier sind als der geschickt repressive moderne chinesische Kommunismus. Letzten Endes hat sich herausgestellt, dass es im europäischen Haus nicht einmal ein Eckchen für uns gibt, wie es den Rumänen und Balten gewährt wurde, ganz zu schweigen von den Polen und Tschechen.

Vieles erklärt sich aus der gesellschaftlichen Barbarei unserer sich hinziehenden Übergangsperiode. Jedoch nicht alles. Die westliche ästhetische Lebensnorm diktiert nicht nur den Stil, sondern auch die politischen Präferenzen. Die Russen wurden gerade aus ästhetischen Erwägungen nicht in die NATO aufgenommen; sie haben die face control nicht bestanden.

Nicht einmal Leute, die Russland feindlich gesonnen sind, sein Chaos hassen und denen ich in Europa und den USA oft begegnet bin, bestreiten, dass die Russen Talent besitzen. Unter den Russen gibt es in der Tat Talente. Selbst höchst widerliche Individuen sind bisweilen mit interessanten Eigenschaften gesegnet. Wären die Russen eine mittelmäßige Nation, würde es sie gar nicht geben.

Die Idee eines Nationalcharakters, in Europa nach Hitler ein heikles Thema, ist die einzige Möglichkeit, Russland zu verstehen. Die Russen sind eine blamable Nation. Ein ganzes Heft voller Stereotype. Sie können nicht systematisch arbeiten und nicht systematisch denken. Sie sind eher fähig zu sporadischen, einmaligen Handlungen. Mit ihrer pathetischen Emotionalität, vorsintflutlichen Naivität, ihrer dicken Wampe, ihrem plumpen Verhalten waren die Russen lange Zeit dem ästhetischen Stil des Westens diametral entgegengesetzt – denn der hieß cool sein. Streng genommen hatten die Russen nicht die geringste Ahnung, dass so etwas wie cool-Sein existiert. Inzwischen hat sich dieser Begriff von einer elitären Mode in einen Zustand verwandelt, der in letzter Zeit die westliche Kultur bestimmt. Diese hat die Grenzen von Literatur und Filmkunst überschritten, indem sie mit gleichem Recht »schöne Nägel« im höheren Puschkin’schen Sinne eingeschlossen hat. Das heißt, die Kultur hat sich im Alltag aufgelöst und der Alltag in der Kultur. In Berlin oder Paris kann man Ihnen genau sagen: Diese Zigarettenmarke rauchen nur Lesben, und dieses Auto fahren nur Pastoren. Auf russischer Seite hat aus verständlichen Gründen weder die offizielle noch die private »Küchen«-Kultur nicht nur mit der westlichen Entwicklung der Ereignisse nicht Schritt halten können, sondern sie ist scharf ausgeschert. Wir haben westliche Filme geguckt, in westlichen Zeitschriften geblättert und westliche Bücher gelesen, wenn wir Gelegenheit dazu hatten, aber wir haben das ganz anders getan als westliche Kulturkonsumenten. Jedenfalls haben wir in dieser ganzen Produktion keine verbindende Idee gesehen, jenseits der Konfrontation zwischen Konservativen und Liberalen, Archaikern und Neuerern. Wir haben uns in den existenziellen Sinn vertieft, ohne die Entstehung einer neuen Form zu bemerken. Wir haben verschlafen, was das ästhetische Wesen des Westens der letzten fünfzig Jahre ausmacht. Darüber wurde schon vor Jahrzehnten in zwei richtungsweisenden Artikeln in den Zeitschriften Time und Life geschrieben, auf welche junge Leute von Los Angeles bis Kapstadt, von Tokyo sogar bis zum sozialistischen Warschau reagierten.

Der Begriff cool (was »kühl« bedeutet) entstand in den USA Ende der Vierziger und in den fünfziger Jahren mit den Büchern von Jack Kerouac und dem Erscheinen von Miles Davis’ Album The Birth of the Cool. Den Ersteren darf man als Ideologen des »cool« betrachten; er schrieb 1950 über den Unterschied zwischen dem »rohen« und »coolen« Bewusstsein als entgegengesetzte Formen des Selbstbewusstseins. Das »coole« Bewusstsein, das bis heute im Russischen kein Äquivalent hat, belässt beim Menschen keine unreflektierten, »dunklen« Seiten. Typisch dafür sind Offenheit, Transparenz, innere Erotik, Ironie, betontes Stilbewusstsein, was sich auch in seinen Wurzeln, im Jazz findet. Bei Weitem nicht alle westlichen Idole waren »cool«. Weder Elvis Presley noch Marilyn Monroe passen in diese Kategorie. Dafür sind das Beste, was die Beatles zu bieten hatten, das Musical West Side Story von Leonard Bernstein, Bob Dylans Lieder einerseits und das Lächeln, der Haarschnitt, der Kleidungsstil von Präsident John F. Kennedy andererseits (besonders wenn man ihn auf Fotos mit Chruschtschow vergleicht) – wahrhaft »cool«.

Allmählich wurde »cool« zur Krönung des globalen amerikanisch-europäischen Spiels der Gesichtsmuskeln, der Stimme, der Mode, der Werbung, des Verhaltenskodex. Die Manieren sowjetischer Diplomaten und unsere einheimische Kulturproduktion gingen im Westen nicht ohne einen kräftigen Schuss Ironie durch. Die Kluft zwischen westlicher Mode und »russischem Stil« führte dazu, dass sich die Russen nach dem Zusammenbruch der UdSSR im Bewusstsein des Westens erneut zum Feindbild entwickelten, diesmal jedoch nicht ideologisch, sondern ästhetisch, weniger gefährlich und eher komisch. Besonders im Vergleich zu »Cool Britannia«, exzentrisch und moderat stotternd in der Interpretation des britischen Premierministers, sind wir eine nervöse, zappelnde, schüchtern-draufgängerische Masse. Es gibt unter den Weißen dieser Welt niemanden, der »uncooler« wäre (einschließlich der Rumänen) als die Russen.

Nichtsdestoweniger bemüht sich Moskau seit den neunziger Jahren verstärkt darum, »cool« zu werden, nolens volens dem Westen nacheifernd, der diese Mode in Ermangelung einer neuen Mode bis zum Verschleiß trägt. Sogar den Milizionären hat man eine prowestliche Uniform angemustert. Doch das russische Neophytentum (beispielsweise Jugendzeitschriften, die mit »coolem« Titelblatt auftreten) ruft keinerlei Europabegeisterung hervor, da es sich lediglich um eine blasse Imitation handelt.

Indes … Puschkin! – Wir haben unser fundamentales »cool«. Und Lermontows Ein Held unserer Zeit? – genau. Und Gogols Revisor? Nabokovs Lolita ist vielleicht eines der coolsten Werke des 20. Jahrhunderts. Who’s cool in Russia? Ilja Kabakow, Brodskys beste Werke, irgendwo Sorokin, irgendwie Pelewin, ein Dutzend Fotografen, ein gefragtes jakutisches Model entsprechen dem »coolen« Genre, obwohl sie sich darauf natürlich nicht reduzieren lassen. Wir haben auch das klassische sowjetische »cool«, etwa den Film Entführung im Kaukasus. Schließlich Stalin, der »coole« Regisseur des krassesten politischen Welttheaters.

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