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Gespräch über das Wichtigste

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»Es gab eine Zeit, wo ich extrem um das Schicksal meiner Heimat besorgt war, ganze Nächte nicht geschlafen habe, ständig in Gedanken, wie man sie befreien könnte.«

»Von wem?« Sascha verstand nicht.

»Die Russen sind Meister im Erfinden von Feinden. Das musste mir einfach irgendwann auf die Nerven gehen.«

»Schon wieder hat uns der Staat ausgeraubt!«, verkündete Sascha vergnügt.

»Nicht der Staat!«, sagte ich finster. »Sondern der, den wir suchen!«

»Wir werden uns rächen!«, schwor Sascha.

»Das zwischenmenschliche Klima in Russland ist schlimmer als wirtschaftlicher Zusammenbruch und aggressive Bettelei«, erklärte ich.

»Ich bringe diesen Scheißkerl um!«, brüllte Sascha los. »Geben Sie mir bitte Mineralwasser, ein Narsan

»Und ich naiver Idiot hatte gedacht, dieser ganze Sowjetwahnsinn ist bloß aus Versehen über uns hereingebrochen, aber jetzt ist mir klar geworden, dass die Russen andere Völker ›im Schlaf erdrücken‹ können wie ein Schwein seine Ferkel und sich am nächsten Morgen nicht die Bohne darum scheren.«

»Ein Schwein kann sich nicht selbst ›im Schlaf erdrücken‹«, wandte Sascha ein. »Aber bei uns klappt das hervorragend. Schlaf, Kindlein, schlaf«, sang er, sich kräftig auf die Schenkel klatschend.

»Dein Vater ist ein Schaf«, stimmte ich ein. »Die Naivität der neuen Generation, die es so eilig hat, in die Mittelklasse aufzusteigen, sich zu verwirklichen und zu behaupten, ruft bei mir nicht weniger Verachtung hervor als die Dummheit ihrer Väter und Mütter.«

»Verachtung ist ein heikles Gefühl«, lachte Sascha leicht beleidigt. »Die Jugend muss an die Macht.«

»Ich kann natürlich nicht behaupten, dass ich all dem gegenüber gleichgültig bin. Mich irritiert der gnostische Gedanke über die Ungleichheit der Seelen, aber wenn ich die Heldentaten des Volkes betrachte, muss ich zugeben, dass der primitive Zustand, in dem sich das Volk befindet, ein Derivat seiner geistigen Möglichkeiten ist.«

»Glückliche Völker, die unter einem glücklichen Himmel leben, wie zum Beispiel die Italiener, bringen uns ein wenig die Karten durcheinander«, seufzte Sascha. »Gründen wir einen Geheimbund!«

»Was für einen?«

»Zur Erschaffung eines neuen Gottes.«

»Lassen Sie mich erst meine Gedanken über Russland zu Ende bringen! Über Russland wird gewöhnlich mit Rücksicht geschrieben. Entweder wird es bedauert oder man versucht es zu verstehen. Doch das Verstehen wird nicht etwa durch extreme Komplexität des russischen Bewusstseins erschwert, sondern im Gegenteil durch übermäßige Schlichtheit der hiesigen Sitten.«

»Da reden und reden wir hier, und über Capri hängt der Mond wie ein saftiger Zitronenschnitz«, sagte Sascha.

»Ein Mensch, der seine eigenen Interessen nicht begreift und sich sein Leben lang selbst schadet, kommt einem in der Tat rätselhaft vor. Ein Volk, das, nachdem es den allerersten Sputnik gestartet und Atomwaffen hergestellt hat, ein archaisches Gebilde geblieben ist, ist gefährlich und gnadenlos.«

»Ich behalte meine Überzeugungen selbstverständlich für mich«, sagte Sascha.

»Äußerlich verfolge ich die Linie eines intelligenten Menschen«, fügte ich hinzu.

Enzyklopädie der russischen Seele

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