Читать книгу Enzyklopädie der russischen Seele - Viktor Jerofejew - Страница 38

Abblendlicht

Оглавление

Wenn es in Russland die russische Sprache nicht gäbe, sondern die Leute, sagen wir mal, Deutsch sprächen, dann gäbe es hier überhaupt nichts. Aber so haben wir wenigstens die russische Sprache.

Wollte ein mit temperamentvoller Lebenseinstellung gesegneter Kaukasier im sowjetischen Moskau in einem Restaurant zu Abend essen, fand er immer die richtigen Worte, um ein gutes Essen zu bekommen.

»Hör mal«, sagte der Kaukasier, wobei er seinen kaukasischen Akzent absichtlich dick auftrug, bedeutsam die Nase krauszog und dabei die Finger nah an die Nase führte, wodurch er sich in seiner Körpersprache von jenen mit korrekter Aussprache unterschied, sodass die Kellnerin sofort freundlich mit dem Kugelschreiber wedelte. Manche reichen Juden aus der Bohème waren ebenfalls fähig, sich etwas Gutes zu bestellen; an ihrem Schaschlikspieß gab es kein Stück ungenießbares Fett, wohingegen sich an meinem Spieß immer welches fand. Die Sache ist nicht einfach nur die, dass die Kellnerin auf die georgisch-jüdischen Trinkgelder vertraute. Sie vertraute dem sprachlichen Nachdruck, der Stimmlage. Der Russe hingegen, wenn er auch noch von auswärts kam, auf Dienstreise war oder einfach eine aufgedonnerte Geliebte im Schlepptau hatte, konnte auf keine Weise sprachlich Zugang zur Kellnerin finden, nicht einmal dann, wenn er Geld hatte. Er verhedderte sich in seinem lahmen Wortschatz. Darum aß der Russe immer nur Scheiße.

Manche meinen, die russische Sprache sei von einer großen Anzahl scheußlicher Wörter verunreinigt. Dazu zählt der »Mat«, die Vulgärsprache. Obendrein die postsowjetische Sprache. Aber die sowjetische Sprache ist wie das Tragen einer blau-roten Milizionärsuniform mit Mütze: Sie zwickt, ist zu eng, schlabbert, drückt. Egal welchem Russen man eine Milizionärsmütze aufsetzt, die Mütze ist stärker als der Russe. So war es. Alle sahen aus wie Milizionäre. Ich kannte so gut wie keine Ausnahmen.

Ich liebe den »Mat« wegen seiner magnetischen Anziehungskraft. Aber mir gefällt auch der feine Verfall der Sitten, das sanfte Korrektiv in den Beziehungen, wenn sich »Scheiße« fließend in »Scheibenkleister« verwandelt. Ich liebe verbales »Tohuwabohu«, die Mixtur aus unterschiedlichem Wortmüll. Als die Witze am Ende, als Redestil ausgetrocknet waren, weil die Wirklichkeit mit einem Witz nicht mehr zur Vernunft zu bringen war, kapitulierte das Wort, und man ging über zu flotten Sprüchen. Alles nicht so wild, denen geb ich eins auf den Deckel, Kindern gehören die Löffel langgezogen, bei mir ist alles paletti, wenn ich auch ein totaler Chaot bin.

Zu Sowjetzeiten fuhren die Autos nachts mit Standlicht. Standlicht – das ist bescheiden. Als der Kommunismus am Ende war, ging man ganz von selbst zum Abblendlicht über. Eben damit machte man auf sich aufmerksam. Aktiv. Wie bei der postsowjetischen Sprache. Man fuhr mit Abblendlicht. Und manch einer mit Fernlicht.

Aber diejenigen, die mit Fernlicht fuhren, waren so schnell, dass die Hälfte von ihnen in der Moskwa landete. Dort wurden sie ständig wieder herausgefischt. Und darum wählte die Sprache trotz allem das Abblendlicht.

Es beleuchtet das, was existiert: Frauenbeine, Müllcontainer, die Sehnsucht nach Hoffnung, allen möglichen Mist. Das Standlicht beleuchtete nur sich selbst. Abblendlicht hingegen – das ist schon Licht.

Enzyklopädie der russischen Seele

Подняться наверх