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Installation des Pessimismus

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Das irre Gefühl, dass alle teilweise Recht haben. Recht hatte Iwan der Schreckliche, der Kurbski zürnte. Recht hatte Nikolai, der den Dekabristen zürnte. Recht hatte Kurbski, der die russische Renaissance nicht ertrug. Recht hatte der Durchschnittsbürger, der niemandem glaubte. Recht hatte Jessenin, der Kneipengänger. Recht hatte die Welt der Kunst, deren Anhänger sich vom stinkenden Russland abwandten. Recht haben jene, die den Westen imitieren und Russland dessen Energie einhauchen wollen. Keiner hat Recht.

»Sie können sich wohl schlecht mit dem Staat versöhnen und irgendetwas ›Liebenswertes‹ an ihm finden?«, fragte mich Sascha.

Ein zweifelhafter Versuch, qualifizierbar als Verrat, Obskurantismus oder Erschöpfung. Etwas »Liebenswertes« findet sich nicht, es gibt nichts »Liebenswertes«. Verzweifelte Beschwörung ewiger Werte inmitten der Scheiße. Die dreiste Arroganz einer ewig mit sich selbst beschäftigten Staatsmacht, die keine Zeit hat, sich den Menschen verständlich zu machen. Neue Beleidigungen. Die Macht der russischen Intelligenzija ist das Denken außerhalb der Regierung. Dies ist aber auch eine ewige Schwäche. Der ewige Brief Belinskis an Gogol.

Jetzt, angesichts dessen, was passiert ist, scheint mir, dass das nicht mit mir geschehen ist. In Russland bist du am besten Pessimist, nichts leichter als das. Nichts akzeptieren, niemanden anerkennen. Du stehst da, spuckst aus. Wenn es besser kommt, als du gesagt hast, vergessen sie es. Wenn es sich als schlimmer herausstellt, machen sie dich verantwortlich: »Du hast was Anderes versprochen!«

Die seltenen Fälle von edlem Dienst am Vaterland, von argwöhnischen Zeitgenossen niemals anerkannt. Kein Vertrauen in Eigentum, das unehrlich erworben wurde. Der Kitzel der Neuverteilung. Bitterkeit im Mund – das ist der wichtigste Beigeschmack der Heimat. Die Unfähigkeit, das Land dazu zu bringen, für sich selbst zu arbeiten. Die Unfähigkeit, die ewige Entfremdung des Staates vom Menschen zu überwinden. Das endlose Gejammere. Das Dissidentengeschwätz. Das Martyrologium. Die endlose Schurkerei des russischen Lebens. Wenn das Leben dem Leben zuwiderläuft. Die Verklärung von Verzweiflung zu Heldentum und letzter nationaler Wahrheit. Die Enttäuschung mündet in Abscheu gegenüber dem Land.

»Der Geist Lermontows«, fasste Sascha zusammen.

Wir konnten nicht genug reden. Wir redeten und verallgemeinerten. Nächtelang. Unsere Worte flossen ekstatisch ineinander.

Das Erwachen eines primitiven Russlands. Mit seinen Ideen von Verrat und Verführung des Landes durch den Westen, die Juden, die Intelligenzler. Alles wird vergessen. Und alles wiederholt sich. Die lange Nacht der politischen Auseinandersetzungen, ausreichend für eine ganze Generation.

Worin besteht das Wunder Russlands? In der russischen Pathologie gibt es eine zusätzliche Dimension des Lebens. Das ist der wichtigste Wert. Ja, aber wer gehört zu dieser Dimension? Das Fußvolk ist verantwortungslos, abstoßend. Die Intelligenzija als Schicht hysterisch. Es gibt niemanden, aber es gibt Menschen.

»Sie öffnen sich ein wenig und verschwinden«, vermutete Sascha.

Die Beziehungen zwischen den Menschen in Russland sind angeblich einzigartig. Ein Gespräch kann wirklich weit gehen. Tief. In der zusätzlichen Dimension zwischen Sascha und mir blitzt ein Funke auf. Er lässt uns erstrahlen, und da scheint uns etwas, doch das, was uns scheint, wird es niemals geben. Aber für eine Sekunde, als wir in der Dunkelheit erstrahlen, ist dieses »scheint« voll von reinigender Energie. Sie führt das zufällige Gespräch in einen Zustand existenzieller Entblößung.

Enzyklopädie der russischen Seele

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