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»Sie machen ein Gesicht, als hätte ich Sie zu einer Beerdigung eingeladen und nicht in ein Nachtlokal, Lubeck.«

Heinz Borsig stopfte den leeren Ärmel in die linke Manteltasche, lehnte sich vor und klopfte auf die Rückenlehne des Beifahrersitzes.

»Zur Pagode, aber dalli!« rief er vergnügt.

Das Taxi, ein schwarzer Mercedes Benz 170 V, setzte sich in Bewegung.

»Lassen Sie mich raten«, schnatterte Borsig weiter, »Brunner hat Sie bis zum Hals mit Arbeit eingedeckt.«

Lubeck lächelte gequält. »Über mangelnde Beschäftigung kann ich nicht klagen, das stimmt wohl.«

»Das sieht dem Leuteschinder ähnlich. Es wird höchste Eisenbahn, dass Sie auf andere Gedanken kommen. Ich wette, Sie haben von Frankfurt noch nichts gesehen außer den verknöcherten Krankenschwestern in der Klinik.«

»Ich bin tatsächlich noch nicht dazu gekommen, mir die Stadt anzusehen.«

»Das holen wir alles nach.« Borsig schlug ungeduldig auf die Sitzlehne. »Tempo, mein Guter. Nicht, dass unser junger Freund einen Samenstau erleidet.«

Der Fahrer gab Gas. Lubeck fühlte sich peinlich berührt. Am liebsten hätte er die Berge von Meldebögen, die er ausfüllte, als Entschuldigung vorgebracht. Aber es war Brunner höchstpersönlich gewesen, der ihn in Borsigs Obhut übergeben hatte. Als er vor einer Woche im Vorzimmer von Brunners Büro gewartet hatte, um sich vorzustellen, hatte sich bestätigt, was er zuvor über den Leiter des Anstaltswesens von Hessen-Nassau in Erfahrung gebracht hatte. Brunners Gebrüll hatte selbst die gepolsterte Eichenholztür durchdrungen. Kurz darauf war ein schmächtiges Männlein mit käsigem Gesicht herausgekommen und eingeschüchtert durch das Vorzimmer gehuscht.

Obwohl Lubeck sich nicht für einen guten Menschenkenner hielt, hatte er gelernt, die gefährliche Sorte auf den ersten Blick zu erkennen. Bei Brunners Anblick schrillten sofort seine Alarmglocken. Er war ein herrschsüchtiger Despot, der keinen Widerspruch duldete. Eitel und empfindsam, was sein eigenes schwaches Ego anbetraf, dazu übermäßig hart zu Untergebenen mit einem Hang zur Grausamkeit. Gerüchten zufolge strickte er mit Vorliebe Intrigen. In einem Personalbericht der SS wurde er als ausgesprochener Willensmensch beschrieben, der selbst seinen Vorgesetzten oft zu weit ging.

Erleichtert hatte Lubeck zur Kenntnis genommen, dass er überwiegend im Frankfurter Universitätsklinikum arbeiten würde, und somit nicht unter der unmittelbaren Kontrolle Brunners stand. Allerdings hatte er ihm jeden Freitag Bericht zu erstatten. In der Zwischenzeit begutachtete er Patienten mit geistigen oder körperlichen Beeinträchtigungen und entschied, was mit ihnen zu geschehen hatte. Als er sein erstes rotes Kreuz in einem Meldebogen vermerkte, hatte seine Hand gezittert. Er fühlte sich als Herr über Leben und Tod, als Richter, der bewusst ein Todesurteil fällt, aber zu seiner Überraschung fand er keinen rechten Gefallen daran. Am Abend betrank er sich bis zur Besinnungslosigkeit und konnte zwei Tage lang nicht zum Dienst erscheinen. Er schob eine Magenverstimmung vor, doch Brunner ließ ihm die Meldebögen nachschicken, damit er zu Hause weiterarbeiten konnte. Unter den T4-Gutachtern hatte sich inzwischen eingebürgert, die Patienten gar nicht mehr persönlich in Augenschein zu nehmen.

Lubeck stellte fest, dass ihm die Entscheidung leichter fiel, Kranke ins Gas zu schicken, wenn er ihnen nicht ins Gesicht sehen musste. In den meisten Fällen entschied er nach den spärlichen Fakten auf den Meldebögen, die von niedergelassenen Ärzten und aus psychiatrischen Kliniken stammten. Als er sich verwundert über den ungeheuren organisatorischen Aufwand äußerte, zitierte Brunner: »All unsere Arbeit hat dem deutschen Volke zu dienen. Der Aufwand für Erbkranke und Asoziale ist so niedrig wie irgend möglich zu halten. Was wir jetzt tun, ist das einzig Richtige: lebensunwertes Leben zu beenden.«

Heyde hatte recht, ihm, Lubeck, fehlte die nötige Härte. Aber die anstrengende Arbeit half ihm, sich diese Eigenschaft anzutrainieren. Er wusste, dass er sich zum Mordgehilfen herabließ, doch der Gedanke an einen Fronteinsatz fegte die quälenden Einflüsterungen seines Gewissens hinweg. Es war ohnehin zu spät, um umzukehren.

Am frühen Nachmittag war er nach Wiesbaden gefahren, um seinen ersten wöchentlichen Rapport abzuliefern. Brunner bewohnte in Scheuerbach ein herrschaftliches Gutshaus. Immerhin war er mit dem Fortgang der Aktion T4 zufrieden und hatte ihm überraschend sein Faktotum Heinz Borsig vorgestellt.

Borsig war ein vierschrötiger Kerl mit rotem Stoppelhaar, Aknenarben und Stiernacken. Er war kriegsuntauglich, weil ihm 1918 eine französische Granate die linke Hand abgerissen hatte. Nun saß er neben Lubeck und sollte ihm auf Brunners Geheiß das Frankfurter Nachtleben zeigen. Stolz hatte er ihm erklärt, dass er Brunners Mädchen für alles sei. Trotz seiner Behinderung war er offenbar ein geschickter Chauffeur und brutal genug, um mit den meisten Gegnern spielend fertig zu werden, von denen Brunner mehr als genug hatte. Es war kein Geheimnis, dass SS-Obersturmbannführer Fritz Brunner Schlägertrupps einsetzte, wenn er nicht bekam, was er wollte. Das hatte ihm bereits mehr als einmal Schwierigkeiten eingebracht, aber über seinen Hang zur Grausamkeit sah man höheren Ortes stillschweigend hinweg. Brunner war für T4 zu wichtig, um auf ihn verzichten zu können.

»Kannst mal zusehen, wie ich den Gorillas aus der Pagode mit einer Hand die Fresse poliere!«, gab Borsig an. »He Fahrer, drücken Sie aufs Gas.« Er drehte sich zu Lubeck um. »Damit unser junger Freund hier endlich den richtigen Eindruck von Frankfurt bekommt.«

Die Pagode war ein Nachtlokal in der Nähe des Bahnhofs. Stufen führten in ein Souterrain hinab, neben der Eingangstür leuchteten billige, chinesisch anmutende Lampions. Lubeck war froh, das Lokal in Begleitung zu betreten. Selbst der kantige Borsig wirkte neben dem Türsteher wie ein Zwerg. Der Riese mit dem vernarbten Gesicht und der Schiebermütze musterte sie kritisch, nickte stumm und ließ sie ein.

Lubeck betrat hinter Borsig den niedrigen, schummerig beleuchteten Raum. Etwa zwei Dutzend Separees gruppierten sich um eine Tanzfläche, die aus einfachem Linoleum bestand. Die Sitzgruppen wurden von Stellwänden mit groben Schnitzereien getrennt, von denen ihr Schöpfer wohl angenommen hatte, sie entsprächen chinesischer Kunst.

Am anderen Ende des kleinen Saals erhob sich ein Holzpodest, das als Bühne diente. Tabakqualm hing zum Schneiden dick in der verbrauchten Luft, es roch nach Alkohol und Schweiß. Auf der Bühne tanzten vier spärlich bekleidete Mädchen, denen ein gewisser Reiz nicht abzusprechen war. Borsigs Bemerkung über die Krankenschwestern in der Klinik kam ihm in den Sinn. In Lubecks Fantasie verwandelte sich eins der Tanzmädchen, ein mageres Ding mit langem schwarzem Haar, in die Frau, die ihn am frühen Abend mit ihrer Tochter aufgesucht hatte.

Die meisten Frauen, denen er begegnete, weckten sein Interesse nur vorübergehend. Er hatte kaum Übung im Umgang mit dem anderen Geschlecht, und je älter er wurde, desto mehr hemmte ihn seine Unerfahrenheit. So hatte sich allmählich in seiner Vorstellung das Idealbild einer Partnerin herausgebildet, das er ständig mit seinen Bekanntschaften verglich. Keine der Frauen konnte diesem übersteigerten Ideal standhalten … bis auf das feenhafte Geschöpf, das vor wenigen Stunden sein Sprechzimmer betreten hatte.

Brunner hatte ihm am Morgen durch Borsig einen Meldebogen zukommen lassen, den er vorrangig behandeln sollte. Ein Volksschullehrer hatte die vierzehnjährige Hannah Bloch gemeldet. Das Mädchen war durch einen epileptischen Anfall ebenso aufgefallen wie durch aufsässiges Verhalten. Es sollte Reichsminister Goebbels beleidigt und mit einem Ziegenbock verglichen haben. Es stand zu befürchten, dass das Mädchen andere Kinder verdarb. Da er neben seiner Tätigkeit als Gutachterarzt auch Politischer Leiter der NSDAP war, fiel die Angelegenheit in sein Ressort. Er war zuständig für die weltanschauliche Schulung und sollte die Bevölkerung politisch überwachen, wo er konnte. Die Verunglimpfung von Goebbels war eine ernste Sache, die nicht ungestraft bleiben durfte.

Dr. Paul Rademann, der ursprünglich für Lubecks Arbeit vorgesehen gewesen war, hatte sich geweigert, bei T4 mitzumachen, und war kurzerhand seines Postens enthoben worden. So war es zu der verhängnisvollen Begegnung mit Malisha Bloch gekommen.

Er wusste, dass er sie angestarrt hatte wie einen Engel, der vom Himmel herabgestiegen war. Diese Frau war die vollkommene Verkörperung seines Idealbildes: Die schlanke, hochgewachsene Gestalt, die aristokratischen, anmutigen Bewegungen, das volle Haar von der Farbe eines Rabenflügels und der unmerkliche, leicht aufwärts gerichtete Schwung der Augenbrauen. Intelligent musste sie noch dazu sein, denn sie hatte sofort gespürt, dass seine Anwesenheit für ihre Tochter nichts Gutes verhieß, und sich mit ihr aus dem Staub gemacht.

Lubeck hatte sich unmittelbar nach ihrer Flucht ihre Adresse besorgt und Erkundigungen eingeholt. Malisha – welch wunderbarer Name – war Jüdin. Das Balg stammte von einem Engländer und war somit ein Mischling ersten Grades. Ob die Erkrankung von ihm oder der Mutter rührte, ließ sich nicht feststellen.

Er hatte bereits die Vermittlung angewiesen, ihn mit der Polizei zu verbinden, um Malisha Bloch festsetzen zu lassen, dann aber den Hörer auf die Gabel gelegt und gründlich nachgedacht. Hätte er sie denunziert und beschuldigt, ihrem Kind die notwendige medizinische Versorgung vorzuenthalten, hätte man sie ohne viel Federlesens eingesperrt. Selbst wenn Malisha Bloch die Lagerhaft überstehen würde, büßte er jede Aussicht ein, sie wiederzusehen. Und er musste diese Frau wiedersehen.

Borsig brüllte nach einem Kellner. Ober und weibliche Bedienungen flitzten zwischen den Tischen hin und her. Lubeck beobachtete zwei blutjunge Mädchen, die als Geishas verkleidet in einem Separee verschwanden. Kurz darauf hörte er sie kichern. Ihm wurde heiß, weil er nicht wusste, was Brunner Borsig aufgetragen hatte. Es war mehr als unklug, dessen Anweisungen nicht zu befolgen, schon gar nicht, wenn er sich so spendabel zeigte. Er hatte keine Ahnung, wie er reagieren sollte, wenn Borsig eins der Mädchen bezahlen würde, um mit ihm …

Lubeck schüttelte die Vorstellung von Nacktheit und Sex ab, weil er befürchtete, sich in seiner Unbeholfenheit schrecklich zu blamieren.

Ein Kellner nahm die Bestellung auf – eine Flasche Champagner. »Für den Anfang«, beeilte sich Borsig mitzuteilen.

Lubeck sah verkrampft der Darbietung der Mädchen zu, die zur Musik der Kapelle tanzten. Er verglich sie mit Malisha und fand sie billig und ohne Klasse.

Eine üppige Blondine, die mit Strapsen und einem knallengen Oberteil bekleidet war, näherte sich ihrem abgetrennten Bereich und setzte sich ungefragt auf Borsigs Schoss. Der gab ihr einen Klaps auf den Po. Ihre großen Brüste wackelten in dem knappen Mieder, was Borsig ungemein amüsierte. Lubeck wandte sich ab und gab vor, ganz von dem Treiben im Lokal gefangen zu sein.

Die ausgelassene, frivole Stimmung erregte und hemmte ihn zugleich. In der Pagode hatte man das Gefühl, auf einem Vulkan zu tanzen. Die Gäste schienen sich zu vergnügen, als gäbe es kein Morgen.

Ein neuer Schwall Besucher quoll in das Lokal. Eine Kellnerin balancierte geschickt ein Tablett mit einer Champagnerflasche in einem Eiskübel und zwei Gläsern durch die Menge. Sie bewegte sich elegant durch die Lücken und steuerte auf Lubecks Tisch zu. Ihr blauschwarz glänzendes Haar trug sie im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Lubecks Herzschlag setzte aus. Die Frau war Malisha Bloch.

Noch hatte sie ihn in dem Schummerlicht nicht erkannt. In seinen Tagträumereien nach ihrer Begegnung am späten Nachmittag hatte er sich ausgemalt, wie er seinen Einfluss gelten machen würde, um sie zu beeindrucken und für sich zu gewinnen. Nun, da er ihr in wenigen Sekunden in die Augen blicken würde, war sein Kopf so leer wie ein Blankomeldebogen.

Sie stellte das Tablett auf dem runden Tischchen ab, verteilte die Sektkelche und schenkte den Schampus ein. Von der drallen Blondine auf Borsigs Schoss schien sie keine Notiz zu nehmen.

Lubeck betrachtete Malisha Bloch verstohlen. Sie trug eine weiße, hochgeschlossene Bluse und einen schwarzen Rock. Damit unterschied sie sich deutlich von den Animiermädchen. Offenbar arbeitete sie hier nur als Bedienung.

»Lassen Sie es sich schmecken.«

Sie stellte die Flasche ins Eis zurück und griff nach dem Tablett. Borsig kniff dem blonden Mädchen in den Bauch, es quiekte wie ein rosiges Ferkel.

Malisha hob für einen Wimpernschlag den Kopf und sah Lubeck an. In ihrem Augenwinkel zuckte ein Nerv. Sie kniff die Lippen zusammen und erbleichte. Sie hatte ihn erkannt. Bevor ihm etwas einfiel, mit dem er ihr Vertrauen gewinnen konnte, hatte sie sich abgewandt und war in der Menge verschwunden. Mit wild schlagendem Herzen sah er ihr nach.

Liebe war es nicht, die ihn überflutete. Malisha erregte ihn auf eine rein körperliche Weise, und zwar so heftig, wie er es nie zuvor erlebt hatte. Diese Frau repräsentierte alles, was er sich je erträumt hatte.

Borsig schien seine Verwirrung zu bemerken und folgte seinem Blick.

»Wo hab ich nur meine Manieren?«, sagte er kopfschüttelnd und prostete dem Mädchen zu. »Die Schwarzhaarige gefällt Ihnen, was? Normalerweise bieten die Kellnerinnen in der Pagode keine Extradienste an. Aber für SS-Obersturmbannführer Brunner sollen sie in dem Laden gefälligst eine Ausnahme machen. Mein Chef verlangt schließlich, dass ich Sie mit allem versorge, was Frankfurt zu bieten hat.«

Er pfiff durchdringend auf den Fingern und winkte dem Barkeeper.

»Den alten Gaston kenne ich gut«, erklärte er augenzwinkernd. »Er versorgt mich mit Frischfleisch, außerdem ist er mir einen Gefallen schuldig.« Er machte eine eindeutige Handbewegung und deutete auf Malisha, die das leere Tablett auf dem Bartresen abstellte.

Sie drehte sich um. Durch das Lokal hinweg trafen sich ihre Blicke. Mein Gott, wie er diese Frau begehrte, sie besitzen und beherrschen wollte. Bei der Vorstellung, dass sie ihm gehorchen musste, weil ihr keine andere Wahl blieb, bekam er eine Erektion.

Der Barkeeper sagte etwas zu ihr, daraufhin nickte sie und überquerte die Tanzfläche.

»Na bitte, geht doch!«

Borsig beschäftigte sich wieder mit seiner Blondine und goss Schampus nach. Lubeck wollte verlegen den Blick abwenden, aber diese Frau hatte ihn verhext. Er konnte nichts anderes tun, als sie anzustarren. Sie blieb vor dem Tisch stehen. Wie einen Schild hielt sie schützend das Tablett vor den Bauch.

»Sie haben einen Wunsch?«, fragte sie.

Seine Kehle war trocken wie Sandpapier. Er räusperte sich umständlich.

»Wir sind nur zu dritt«, dröhnte Borsig, »zu viert wird’s lustiger.« Er zog ein Bündel Geldscheine aus seiner Hosentasche und warf es auf den Tisch. »Kümmere dich ein bisschen um meinen jungen Freund hier. Er ist neu in der Stadt und will was erleben.« Er klatschte der Blondine auf den Hintern. »Wie wär’s mit Gastons Spezialprogramm?« Das Mädchen kicherte.

»Ich arbeite hier als Kellnerin. Für Ihre Wünsche haben wir … anderes Personal.«

Borsig zog die buschigen Brauen zusammen. »Hab dich nicht so. Es soll dein Schaden nicht sein.«

Lubeck überlegte fieberhaft, was er tun sollte. Bisher war er passiv geblieben, aber eine bessere Gelegenheit würde er nicht bekommen.

»Ich bin sicher, dass es nur eine Frage des Preises ist.« Borsig lachte und fischte einen Zwanziger aus dem Bündel. »Mit den besten Grüßen von Obersturmbannführer Brunner. Heil!«

Malisha kehrte ihnen den Rücken zu und ging zur Bar zurück.

»Man kann nicht nur mit Geld bezahlen«, rief Lubeck. Er spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss.

Sie blieb kurz stehen, ging dann aber weiter.

Borsig schob grob das Mädchen von seinem Schoß. »Arrogantes Luder. Der werd ich Manieren beibringen.« Er stand auf und ballte seine Fäuste.

Lubeck war dankbar für das Rotlicht, das durch die Lampions sickerte. Es verbarg die Schamesröte in seinem Gesicht. Ich muss härter werden, dachte er. Viel härter.

Borsig hatte keine Chance, das Separee zu verlassen. Der Rausschmeißer mit dem Narbengesicht vertrat ihm den Weg.

Wie auf Kommando stimmte die Band einen hektischen Ragtime an. Lubeck konnte der Auseinandersetzung zwischen Borsig und dem Rausschmeißer nicht folgen. Plötzlich holte Brunners Adjutant mit dem verbliebenen Arm aus, aber sein Gegner blockte ihn mühelos ab. Der Türsteher umfasste mit einer Hand Borsigs Faust und zwang ihn in die Knie.

Lubeck schob seinen Stuhl zurück, entschlossen, seine Macht als politischer Leiter und SS-Untersturmführer einzusetzen. Bevor er eingreifen konnte, erloschen unvermittelt die Lichter im Lokal. Die Kapelle verstummte, Menschen schrien durcheinander, kreischten und riefen Warnungen. Nach einer Minute wurde der Strom wieder eingeschaltet und das Lokal wimmelte von Braunhemden der SA. Mit Knüppeln und Holzlatten begannen sie, systematisch das Inventar zu zerschlagen. Unter den Gästen brach Panik aus. Ein Schlägertrupp blockierte den Ausgang zur Straße, am Notausgang im hinteren Teil bildete sich eine Menschentraube. Die Braunhemden droschen wahllos auf alles ein, was sich bewegte. Ein bulliger Mann mit kurzgeschorenem blondem Haar brüllte Befehle und heizte seine Leute zu brutaler Gewalt an. Lubeck identifizierte ihn an seinen Rangabzeichen als Rottenführer. Innerhalb von fünf Minuten verwandelte sich die Pagode in ein Trümmerfeld.

Lubeck hielt Ausschau nach Malisha, konnte sie aber nirgends entdecken. Borsig wehrte sich verbissen gegen den Rausschmeißer und steckte einen Schlag nach dem anderen ein. Lubeck erschrak, ihm wurde klar, dass die SA in dem Durcheinander keinen Unterschied zwischen ihm und den restlichen Gästen machen würde.

Langsam arbeitete er sich im Schutz der Separeeabtrennungen zum Eingang vor. Der Rottenführer stand auf einem Stuhl, gestikulierte mit den Armen und dirigierte seinen Trupp. Die Tür flog auf und weitere Männer stürmten in das Lokal, an ihren schwarzen Ledermänteln unschwer als Gestapo zu erkennen. Lubeck fiel dem Anführer in den Arm.

»Was geht hier vor?«, blaffte er den SA-Mann an.

»Halten Sie die Schnauze. Rothbauer, überprüfen Sie seine Papiere!«

»Ich bin Dr. Joachim Lubeck, Politischer Leiter der NSDAP. Ich besuche dieses Etablissement im Auftrag von SS-Obersturmbannführer Fritz Brunner, dem Leiter des Anstaltswesens Hessen-Nassau«, brüllte Lubeck, so laut er konnte. »Ich verlange eine Erklärung!«

Der Rottenführer stieg von dem Stuhl und knallte die Hacken zusammen. »Haben den Auftrag, dieses Widerstandsnest hochzunehmen. Alles Kommunisten und Volksverräter hier.«

»Nicht so laut, Mann. Ich bin ja nicht schwerhörig.« Lubeck blickte sich suchend um. Mit dem Bürschchen von der SA wurde er fertig, aber nicht mit der Gestapo. Wenn die Geheime Staatspolizei Malisha erst verhaftet hatte, würde er nichts mehr für sie tun können.

»Woher wissen Sie denn, was hier im Hinterzimmer passiert?«, wollte Lubeck wissen.

»Aktion ist sorgfältig vorbereitet«, schnauzte der Rottenführer. »Haben verlässliche Informationen, dass das Lokal Treffpunkt für subversive Elemente ist, Juden und anderes kriminelles Pack. Ausräuchern den Laden.«

Lubeck wandte sich angewidert ab. Er mochte die Nazis nicht, dennoch würde er es niemals wagen, sich gegen sie zu stellen. Schließlich war er dem Haufen selbst beigetreten. Das war eben die Zeit, in der er lebte.

»Danke für die Auskunft.«

Er bahnte sich einen Weg durch das zerstörte Mobiliar. Borsig lag besinnungslos auf dem Boden, von dem Rausschmeißer fehlte jede Spur. Die Gestapo hatte ein Dutzend Männer von den Gästen abgesondert und ihnen befohlen, sich an einer Wand aufzustellen. Wenn es stimmte, was der Rottenführer behauptete, schwebten Malisha und ihr Balg in höchster Gefahr. Da fiel ihm ein, was er tun konnte.

Er fand Malisha und ihre Tochter im hinteren Treppenhaus. Der Barkeeper hielt einen Verschlag offen und trieb mehrere Leute zur Eile an, darunter ein waschechter Chinese. Malisha drehte sich um und blickte Lubeck an.

»Bleiben Sie bei mir und lassen Sie die anderen gehen«, befahl er.

»Glauben Sie wirklich, ich würde meine Freunde im Stich lassen?«, erwiderte sie.

Er machte einen schnellen Schritt auf sie zu. Sie wollte vor ihm zurückweichen, doch er hielt sie am Arm fest.

»Es geht hier nicht um Freundschaft, sondern um Ihren Kopf … und um den Ihrer Tochter. Ich kann Sie beschützen, aber Sie müssen tun, was ich sage.«

Sie versuchte, seinen Griff abzuschütteln. »Ich habe Freunde, die …«

»Nichts haben Sie mehr. Das Lokal ist längst umstellt. Hier kommt keiner mehr raus.«

Bevor sie antworten konnte, zerbarst die Außentür zum Treppenhaus unter einem gewaltigen Schlag. Fünf Braunhemden stürmten in den Flur, der vorderste Mann hielt eine Pistole in der Hand.

»Keiner rührt sich. Alle an die Wand!«

Lubeck schob Malisha hinter sich und bedeutete dem Mädchen, es ihr gleich zu tun.

Der SA-Mann fuchtelte mit der Pistole und stierte Lubeck an. »Sie da! Pfoten hoch!«

»Wissen Sie überhaupt, mit wem Sie reden?«, brüllte Lubeck. Er stellte sich vor und drohte wiederum mit Brunner. Der Mann ließ die Waffe sinken.

»Ich wusste nicht, dass …«

»Jetzt wissen Sie es. Diese Frau und ihr Kind stehen unter meinem persönlichen Schutz. Setzen Sie die übrigen Elemente fest, bis sich die Geheime Staatspolizei ihrer annimmt.«

Der Mann beeilte sich, der Aufforderung zu folgen. Lubeck zog Malisha ins Freie. Hinter ihm brüllte der Anführer der Braunhemden: »Steckt das Rattennest an!«

Rasch entfernten sie sich Richtung Bahnhof. Er entdeckte ein Taxi und signalisierte dem Fahrer anzuhalten.

»Welchen Preis gedenken Sie denn zu fordern?«, fragte Malisha. In ihrer Stimme schwang bittere Ironie mit.

»Fürs Erste … möchte ich Sie bitten, mit mir auszugehen.« Lubeck gewann an Selbstsicherheit. Er hatte die Lage unter Kontrolle. Er hatte Macht über diese Frau.

»Ich muss Sie enttäuschen. Als Jüdin darf ich nach Einbruch der Dunkelheit das Haus nicht mehr verlassen. Kennen Sie die Verordnung Ihrer Parteifreunde etwa nicht?«

»Das sind nicht meine Freunde. Ich mag die Nazis genauso wenig wie Sie, aber man muss sich mit den Mächtigen arrangieren, wenn man weiterkommen will. Wenn Sie mit mir ausgehen, wird Sie niemand nach einer Erlaubnis fragen. Hört sich das nicht verlockend an?«

»Sie gehen damit ein großes Risiko ein«, sagte sie.

Lubecks Herz schlug schneller. Ja, das tat er. Aber das war es wert. Er könnte behaupten, dass er nicht gewusst hatte, dass Malisha Jüdin war. Wenn er weiterhin so gute Arbeit ablieferte, würde Brunner ihn vielleicht sogar decken. Er konnte jetzt nicht mehr zurück, so kurz vor dem Ziel. Er würde sie besitzen, jeden Zentimeter ihres wunderbaren Körpers.

»Sie sind es mir wert«, antwortete er.

»Und wenn ich ablehne?«

»Das werden Sie nicht.«

»Was macht Sie so sicher?«

Er beugte sich vor und streifte mit den Lippen ihre Ohrmuschel. »Weil ich so ein netter Mensch bin und Sie mich nicht verärgern wollen. Und weil auf meinem Schreibtisch ein Meldebogen liegt, der darüber entscheidet, was mit Ihrer behinderten Tochter geschieht. Dass Sie das Original gestohlen haben, nutzt Ihnen gar nichts. Selbstverständlich gibt es einen Durchschlag.«

»Hannah ist nicht behindert.«

»Nach dem Gesetz ist sie krank, und nur das zählt in diesen Tagen.«

»Sie lassen mir also keine Wahl«, antwortete sie ebenso leise.

»Nein«, bestätigte Lubeck. »Das ist Ihre einzige Chance. Wie passt es Ihnen übermorgen?«

Malisha deutete ein Nicken an. Es war eine ergebene Geste, die Lubeck bis ins Mark erregte.

Die Unwerten

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