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Hannah wickelte sich tiefer in die kratzige Wolldecke. Ihr Atem kondensierte in der kalten Luft und bildete kleine Wölkchen. Malisha schlief und atmete ruhig und gleichmäßig. Durch das winzige Fenster sickerte graues Zwielicht und enthüllte nach und nach die Konturen der spartanischen Einrichtungsgegenstände: Zwei schmale Betten, die eher Pritschen ähnelten, ein wuchtiger Kleiderschrank, ein Tisch und zwei Stühle. Oben auf dem Schrank lag der rote Lederkoffer. Die wenigen Dinge, die sie in der Eile hatten mitnehmen können, hatte Hannah in den Schrankfächern verstaut.

In der Ferne krähte ein Hahn, leiser Gesang erhob sich, dem sie eine Weile lauschte. Es war ein Kirchenlied, angestimmt von hellen Frauenstimmen. Hannah kannte die Melodie, wusste aber nicht, wie es hieß. Sie war noch nie in einer Kirche gewesen, selten in der Synagoge. Da Religion jedoch zum Stundenplan gehörte, war ihr nichts anderes übrig geblieben, als sich damit auseinanderzusetzen. Es hatte nicht lange gedauert, bis sie die entlarvenden Fragen gestellt hatte, die für sie typisch waren. Die Widersprüche in Bibel und Talmud waren so offensichtlich, dass sie nicht begreifen konnte, warum außer ihr niemand darüber stolperte.

Im Religionsunterricht hatte sie ein einziges Mal eine Frage zum Neuen Testament gestellt. Sie hatte wissen wollen, warum Jesus nicht verheiratet gewesen war. Von einem Rabbiner wurde damals wie heute verlangt, dass er eine Familie gründete. Der weißhaarige Pfarrer, der schwer hörte und mit dem Kopf wackelte, war tiefrot angelaufen und hatte sie eine unverschämte Judengöre genannt. Danach hatte sie nie wieder etwas gefragt.

Sich in Schwierigkeiten zu bringen, rang ihr keine Mühe ab. Es geschah von selbst, sie tat nichts, um den Ärger herauszufordern. Malisha behauptete, sie besäße ein rebellisches Wesen. Hannah sah es anders. Ihr Talent bestand darin, auf die leisen Zwischentöne zu hören, auf die Worte zwischen den Zeilen zu achten, die sie geradezu ansprangen. Sie schenkte ihre Aufmerksamkeit den kleinen Dingen, über welche die meisten Menschen hinwegtrampelten. So kam sie auf Gedanken, die in eine ganz neue Welt führten, wenn man sich still verhielt und den flüsternden Stimmen lauschte. Es erforderte die gleiche Geduld, die man brauchte, um ein Eichhörnchen mit einer Nuss anzulocken, aber es lohnte sich.

Hannah dehnte ihre verspannten Muskeln. Die Kopfschmerzen und der Schwindel der vergangenen Nacht waren verschwunden. Die Ruhe und Langsamkeit, die von diesem Ort ausgingen, schienen einen heilenden Einfluss auf ihren kranken Kopf zu nehmen.

Eine Weile genoss sie die Stille, unterbrochen nur vom fernen Gesang der Nonnen. Spät in der Nacht war der kleine Lieferwagen, der zur Pfarrei von Claudius Brendel gehörte, durch ein steinernes Tor gerollt. Joschi hatte sie zur Mutter Oberin gebracht und war zurück nach Frankfurt gefahren. Er war der Einzige aus Malishas Freundeskreis, der noch auf freiem Fuß war. Alle anderen waren nach der Razzia in der Pagode verhaftet worden.

Da war sie also in einem Kloster gelandet. Malisha regte sich unter der Decke, blinzelte und öffnete verschlafen die Augen. Sie lächelte. Alles wird gut.

Sie blieben noch eine kurze Zeit in ihren Betten liegen, ließen die Stille auf sich wirken und begaben sich dann in einen Waschraum am Ende des Gästetraktes. Das Kloster der Schwestern der barmherzigen Maria bestand aus mehreren Gebäuden, die durch Korridore und Treppenhäuser miteinander verbunden waren und sich um einen Kreuzgang gruppierten.

Nach einer flüchtigen Morgentoilette holte sie eine Nonne ab, die vergeblich versuchte, ihre schwarzen Locken unter der strengen Ordenstracht zu verbergen. Hannah schätzte, dass sie etwa fünfundzwanzig Jahre alt war. Auf dem Weg zum Speisesaal plapperte sie lebhaft. Sie hatte den Ordensnamen Katharina angenommen und lebte seit zwei Jahren bei den Schwestern der barmherzigen Maria in der Nähe des kleinen Ortes Seck. Katharina erzählte von Dörfern in der Umgebung, von denen Hannah nie zuvor gehört hatte. Die nächtliche Fahrt hierher hatte sie verschlafen, doch aus den Worten der Nonne hörte sie heraus, dass sie etwa hundert Kilometer nördlich von Frankfurt waren, tief im windigen Westerwald.

Durch die gotischen Bogenfenster fiel helles Morgenlicht in den Speisesaal. Das Frühstück der Nonnen war längst vorüber, für sie beide stand eine einfache Mahlzeit bereit.

»Die Mutter Oberin will euch sprechen«, sagte Schwester Katharina. »Ich hole euch in einer halben Stunde ab.«

Verschwommen erinnerte sich Hannah an die große schlanke Frau mit der strengen Miene, die sie bei ihrer Ankunft begrüßt hatte.

Das Frühstück bestand aus steinhartem Brot, das Hannah in einer Schale mit Milch aufweichte, Butter und hart gekochten Eiern. Dazu gab es schwarzen Kaffee. Kaum hatte sie den letzten Bissen heruntergeschluckt, betrat Katharina wieder das Refektorium und bat sie, sie in das Büro der Oberin zu begleiten.

Das Zimmer war ebenso zweckmäßig und schlicht eingerichtet wie die anderen Räume, die Hannah bisher gesehen hatte. Die Priorin saß hinter einem Schreibtisch, der fast so alt sein musste wie das Kloster selbst, und bedeutete ihnen, Platz zu nehmen. Schüchtern setzte Hannah sich auf einen Stuhl.

»Claudius Brendel hat sich gemeldet«, sagte Schwester Agnes. »Die Polizei sucht Sie überall. Sie dürfen bis auf Weiteres das Kloster nicht verlassen.«

»Er versprach, dass Sie uns zur belgischen Grenze bringen würden«, antwortete Malisha.

»So war es geplant. Claudius schickt uns häufig Verzweifelte, die Deutschland verlassen müssen. Juden, Kommunisten oder einfach nur Andersdenkende, denen Verhaftung, Folter und Schlimmeres droht. Es reicht, ein falsches Wort zur falschen Zeit zu äußern oder auch nur Mitleid mit anderen Opfern zu zeigen, um als Staatsfeind verfolgt zu werden. Wir helfen, wo wir können. Die Menschen, die Joschi uns bringt, bleiben meist nur einige Tage hier im Kloster, bis sich die erste Aufregung gelegt hat und die Fahndung nach ihnen nachlässiger wird. Ihr Fall jedoch ist durch Hannahs Angriff auf Lubeck komplizierter.«

»Dann gehen wir nach England?«, fragte Hannah hoffungsvoll.

Die Oberin blickte sie an. Ihre hellblauen Augen passten nicht so recht zu den asketischen Zügen und den scharfen Falten entlang ihrer Mundwinkel. Sie besaß ein altersloses Gesicht, sie mochte fünfzig, ebenso gut hundert Jahre alt sein.

»Das kann ich dir nicht sagen, denn ich weiß es nicht. Wir stehen mit Gleichgesinnten in Frankreich, Belgien und den Niederlanden in Verbindung, die euch an der Grenze abholen werden, aber wir wissen so gut wie nichts voneinander. Wer nichts weiß, kann nichts verraten.«

»Wie lange müssen wir bleiben?«, fragte Malisha.

»Mehrere Wochen wahrscheinlich. Es wird immer schwieriger, Deutschland zu verlassen, selbst abgelegene Grenzübergänge werden inzwischen überwacht. Die Zahl der illegalen Emigranten steigt von Tag zu Tag, und damit das Risiko, dass unsere Fluchtroute entdeckt wird. Wir müssen sehr vorsichtig sein.«

»Warum tun Sie das?«, fragte Malisha, »warum begeben Sie sich in solch große Gefahr?«

»Warum sollten wir es nicht tun? Es ist unsere Christenpflicht, Menschen in Not zu helfen. Viele führenden Kirchenvertreter haben sich mit den Nazis arrangiert. Sie glaubten, dass der Spuk rasch vorbei sein würde, aber sie irrten sich – wie so viele. Pfarrer Claudius handelt, wie es ihm sein Gewissen und sein Glaube vorgeben, und das tue ich auch. Wir können nicht anders.«

»Haben Sie Dank für alles«, sagte Malisha.

Die Oberin verzog die Lippen zu einem schmalen Lächeln. »Ganz so selbstlos geht es bei uns hier nicht zu. Wir erwarten als Gegenleistung, dass Sie sich in das Klosterleben einbringen. Wir betreuen hier eine Gruppe von Behinderten und psychisch kranken Menschen. Jede helfende Hand wird gebraucht.«

»Wir helfen gerne, nicht wahr, Hannah?«

Hannah nickte abwesend. Mehrere Wochen! Sehnsuchtsvoll blickte sie aus dem Fenster. Hinter dem Bergrücken stieg eine blasse Wintersonne auf. Hannah liebte die Natur. Wie gerne streifte sie auf Wiesen und in Wäldern umher. Ob sie es aushalten würde, auf unabsehbare Zeit eingesperrt zu sein? Auch wenn die Mauern dazu dienten, sie zu schützen, würde das Warten eine harte Prüfung bedeuten.

»Schwester Katharina wird euch in unseren Tagesablauf einweisen«, erklärte Schwester Agnes.

Die Nonne mit den vorwitzigen schwarzen Locken trat genau im richtigen Moment ein. Ob sie gelauscht hatte? Bevor sie das Büro verließen, hielt sie die Stimme der Oberin zurück.

»Mir wurde berichtet, dass Sie den jüdischen Glauben nicht praktizieren«, sagte sie zu Malisha. »Es würde uns freuen, wenn Sie Ihrer Tochter Gelegenheit geben würden, den unseren kennenzulernen. Sie sind uns selbstverständlich während der Andachten ebenso willkommen.«

Malisha deutete ein Nicken an. Hannah kannte die Geste und wusste sie zu deuten: Ich werde es mir überlegen.

Katharina erklärte ihnen das Klosterleben – sofern sie davon betroffen waren. Sie hatten sich an die Mahlzeiten zu halten und mussten den Nonnen bei der Pflege ihrer Schützlinge zur Hand gehen. Ansonsten waren sie sich selbst überlassen und wohnten in der Zelle im Gästetrakt. Hannah fügte sich in das neue Leben und hoffte, dass sie das Kloster schneller verlassen würden, als die Oberin befürchtete.

Die Wochen verstrichen quälend langsam, eintönige Tage reihten sich endlos aneinander. Dreimal kam Joschi aus Frankfurt und wurde von Hannah stürmisch begrüßt. Bei seinem letzten Besuch brachte er schlechte Neuigkeiten. Claudius Brendel war verhaftet und zu sieben Monaten Gefängnis verurteilt worden, weil er gegen das Reichsflaggengesetz verstoßen hatte. Ein wichtiges Bindeglied der Hilfsorganisation war damit ausgefallen.

Joschi sorgte sich um die Verbissenheit, mit der die Polizei sie suchte. Er stimmte mit der Oberin überein, dass es im Augenblick zu gefährlich war, ohne neue Papiere das Kloster zu verlassen.

Schwester Agnes meinte dazu geheimnisvoll: »Ich kümmere mich darum.«

Der Winter wollte nicht weichen und entpuppte sich als kältester seit Menschengedenken, bis tief in den März hinein lag Schnee. Die Nonnen diskutierten aufgeregt die ungewöhnliche, lang anhaltende Kälteperiode.

Am 7. März feierte Hannah ihren fünfzehnten Geburtstag. Malisha hatte in der Klosterküche einen kleinen Kuchen gebacken. Hannah blies die Kerze aus.

»Du hast einen Wunsch frei«, sagte Malisha.

Hannah schloss die Augen und stellte sich den unendlich weiten blauen Himmel vor, einen Himmel mit schneeweißen Wolken wie Wattebäusche, in denen geheimnisvolle Bilder versteckt waren. Suchte man lange genug, entdeckte man immer mehr von ihnen. Oft hatte sie im Gras gelegen und hinaufgeblickt, um die Rätsel der Wolkenbilder zu lösen. Sie stellte sich vor, wie sie mit einem silbernen Flugzeug ihre Bahn durch den Himmel zog. Tief unter ihr schrumpften Städte, Straßen und Wälder zu einem bunten Flickenteppich. Über ihr strahlte die gleißende Sonne und überzog die Flügel des blitzenden Flugzeugs mit silbernem Licht. Eines Tages würde der Traum Wirklichkeit werden.

»Ich möchte meinen Vater kennenlernen«, sagte sie.

Malisha seufzte. »Ich habe dir doch erklärt, dass es nicht geht. Wünsch dir etwas anderes.«

»Ein Stück Himmel«, versuchte sie weiter. »Nur für mich.«

»Eines Tages wird er dir gehören«, antwortete Malisha, »bis zum Horizont, das verspreche ich.«

Dem Geburtstagsmorgen folgte der gewohnte Tagesablauf. Nach dem Frühstück begaben sie sich in den nördlichen Trakt, in dem zwei Dutzend Kranke und Behinderte untergebracht waren. Schnell verlor Hannah die anfängliche Scheu und fand Gefallen an der zuweilen anstrengenden Arbeit. Die meisten Pfleglinge waren in ihrem Alter. Manche litten unter geistigen Beeinträchtigungen, andere verhielten sich autistisch und lebten in ihrer eigenen, nach außen abgeschotteten Welt. Ein Junge, der drei Jahre jünger war als Hannah, teilte ihr Schicksal. Seine epileptischen Anfälle jagten ihr Angst ein, denn sie waren schlimmer als alle, die sie selbst durchlebt hatte.

Allen Patienten war eines gemeinsam: Obwohl sie unter teils erheblichen geistigen Beeinträchtigungen litten, erwiesen sie sich als überaus wertvoll für das Klosterleben. Jeder von ihnen besaß eine Eigenschaft, die ihn unverwechselbar machte. Gerade die Autisten unter den Erkrankten verblüfften Hannah mit schier übermenschlichen Leistungen. Oft schaute sie einem achtjährigen Mädchen zu, das immer dasselbe Motiv malte: die Stadt, in der sie gelebt hatte. Es erinnerte sich an die Positionen der Häuser und Straßen, an jedes einzelne Fenster und jedes Verkehrszeichen, an Busse, Züge und Gesichter. Oft saßen sie stundenlang zusammen und zeichneten. Hannah malte Karikaturen der Nonnen, die das Mädchen zum Lachen brachten. Als Malisha die Zeichnungen entdeckte, hielt sie ihr eine Strafpredigt, die sich gewaschen hatte. Sie argwöhnte, dass Schwester Agnes davon erfahren könnte und sie das Kloster würden verlassen müssen. Aber dann musste auch sie lachen.

Ein anderer Junge sprach nie ein Wort, aber er kannte alle Kirchenlieder auswendig. Er schien das perfekte Gehör zu besitzen und konnte jedes Musikinstrument spielen, ohne zuvor üben zu müssen. Jeder von ihnen besaß ein verborgenes, einzigartiges Talent. Hannah machte es sich bald zur Aufgabe, die Kranken zu ermutigen, ihre Begabungen zu entwickeln, mochten sie zuerst noch so nutzlos erscheinen.

Unter den Pfleglingen war ein Junge, der ihr im Lauf der Zeit besonders ans Herz wuchs: der kleine Ralfi. Er drückte sich auf eine komplizierte Weise aus und schrieb stundenlang Zahlenkolonnen auf jeden Papierfetzen, der ihm in die Finger geriet. Hannah hatte lange gebraucht, um hinter deren Sinn zu kommen, und ihr mathematisches Talent hatte das Rätsel schließlich geknackt. Verblüfft hatte sie festgestellt, dass Ralfi eine enorme – wenn auch andersartige – Intelligenz besaß. Neugierig geworden, hatte sie ihm Rechenaufgaben gestellt, die für sein Alter viel zu schwer gewesen waren, und er hatte sie in Windeseile gelöst. Mathematik war die Sprache, in der er redete und die er verstand. Darüber hinaus fand er sich im Leben nicht zurecht. So scheiterte er an simplen, alltäglichen Dingen wie Zähneputzen. Allmählich bauten sie ein stilles, inniges Verhältnis auf und verstanden sich ohne Worte auf einer tieferen Ebene ihrer Seelen. Hannah stellte dem Jungen immer kompliziertere Aufgaben, die er begeistert löste und als eine Art Sprache benutzte, mit der er ihr seine Zuneigung zeigte.

Die Abende waren lang und dunkel. Hannah wanderte durch die Korridore des Klosters, betrachtete die Bilder der Heiligen und sehnte sich nach Freiheit. An einem Nachmittag Ende April blieb sie auf einem ihrer Rundgänge neugierig vor einer halb offenen Tür stehen. Ringsum versank die Welt in Finsternis, Regen trommelte auf das Pultdach des Kreuzgangs.

Zaghaft schob sie die Tür auf. Der Raum dahinter wurde von warmem Licht erhellt.

»Hannah, du bist es! Komm nur herein!«

Schwester Katharina trug einen Stapel Bücher zu einem Tisch. Ihre Locken quollen unter der Haube hervor.

Neugierig blickte Hannah sich um. An den Wänden des großen Zimmers standen raumhohe Regale, selbst die Fensterwand war nur von zwei Nischen unterbrochen, um Tageslicht hereinzulassen. Unzählige Bücher waren teils in geordneten Reihen aufgebaut, teils in chaotischen Haufen aufeinandergestapelt. Dünne Bändchen mit schmalen Rücken wechselten sich mit mächtigen alten Folianten ab. Dies musste die Bibliothek des Klosters sein.

Sie ging an den Regalen entlang, legte den Kopf schief und versuchte, die Titel zu entziffern. Viele Bücher waren auf Latein geschrieben, es gab eine Sammlung medizinischer Werke und Abhandlungen über Kräuter- und Heilkunde. Andere wiederum beschäftigten sich mit der Kirchengeschichte. Erbauliche Traktate standen zwischen Biografien von Päpsten und Heiligenlegenden.

»Ich habe noch nie so viele Bücher auf einmal gesehen.« Ehrfürchtig strich sie an den Buchrücken entlang. Es roch nach altem Papier und Bücherleim, ein Geruch, den sie mochte.

»Oh, für ein Kloster haben wir nur eine kleine Auswahl«, sagte die Nonne. »Hilfst du mir beim Einsortieren?«

Katharina zeigte ihr, wo die Bände ihren Platz hatten. Hannah erkannte nach und nach die Ordnung in dem scheinbaren Durcheinander. Sehnsüchtig betrachtete sie die ungeheure Zahl von Büchern.

»Liest du gerne?«, fragte Katharina.

»Wir haben kein Geld, um es für Bücher auszugeben. Darum denke ich mir Geschichten aus.«

Katharinas Augen leuchteten. »Du magst Geschichten? Dann wird dir das hier gefallen.«

Sie ging an den Regalreihen entlang, blieb vor dem letzten Regal an der Fensterseite stehen und zog eine Bibel hervor, die in schlichtes Leder gebunden war. Im Einband steckte ein Schlüssel, mit dem die junge Nonne einen wuchtigen Schrank aufschloss. Er war vollgestopft mit weiteren Büchern. Hannah überflog die Titel und Namen auf den Buchrücken – Remarque, Lion Feuchtwanger, Thomas Mann und jüdische Autoren, von denen sie gehört hatte.

»Warum sind diese Bücher eingeschlossen?«, wollte sie wissen.

»Manchmal bekommen wir Besuch von Leuten, die mit den Nazis sympathisieren. Einmal war ein hoher Funktionär der Partei hier. Er machte mit seiner Frau Urlaub in der Nähe und wollte sich die Bibliothek anschauen. Viele dieser Bücher stehen auf der schwarzen Liste und dürfen nicht mehr verkauft werden. Wir kämen in Teufels Küche, wenn der Falsche diese Sammlung entdeckt.«

Sie nahm ein Buch von Kurt Tucholsky heraus. Es hieß Schloss Gripsholm.

»Wir haben so viele Exemplare gerettet, wie wir konnten. Du musst wissen, dass die Mutter Oberin Bücher über alles schätzt. Sie sagt, es sei eine Sünde, sie zu verbrennen.«

Hannah blätterte in dem Buch und sog den Duft der abertausend Seiten ein, der sie aus dem Schrank anwehte.

»Das ist eine Liebesgeschichte«, sagte Schwester Katharina augenzwinkernd. »Ich wette, du magst lieber Abenteuergeschichten.«

Sie ging an den Regalen entlang, nahm mehrere Bücher heraus und legte sie auf ein Lesepult. Sie überlegte einen Moment und drückte Hannah eins in die Hand. Oliver Twist.

»Du wirst Dickens lieben«, prophezeite Katharina. »Wenn du es ausgelesen hast, bringst du es mir zurück, und ich gebe dir ein anderes.«

Hannah drückte das Buch an sich wie einen kostbaren Schatz. Endlich füllten sich die endlosen, kalten Vorfrühlingsabende mit einem sinnvollen Inhalt. Sie versprach, auf das Buch zu achten, und lief auf den Gang hinaus, in der Absicht, augenblicklich mit dem Lesen zu beginnen. An der Biegung des Korridors stieß sie mit einer anderen Nonne zusammen. Hannah ließ das Buch fallen, der Einband riss an der Bindung ein.

»Ungeschicktes Kind! Sieh, was du angerichtet hast!«

Die Nonne war etwa so alt wie Schwester Katharina, aber damit endete die Ähnlichkeit. Sie war klein und pummelig, hatte blassgrüne Augen und kniff die blutleeren Lippen zu einem harten Strich zusammen.

»Wo hast du das Buch her? Ah, ich weiß, du hast es gestohlen. Juden stehlen dauernd, wenn man sie eine Sekunde aus den Augen lässt.«

»Ich bin keine Jüdin.«

Ihr Herz pochte heftig gegen die Rippen, zum ersten Mal seit Wochen stellte sich der vertraute Schwindel ein. Hastig bückte sie sich nach dem Buch und betrachtete den Schaden.

»Kann man es reparieren?«, fragte sie leise.

Die Nonne ging nicht auf ihre Frage ein. »Deine Mutter ist Jüdin«, stellte sie fest.

»Aber ich nicht.«

»Ah, du bist ein Bastard. Das wird ja immer schöner. Du kommst sofort mit zur Mutter Oberin.«

»Ich habe das Buch nicht gestohlen.«

»Widersprich mir nicht.«

»Ich habe ihr das Buch gegeben.«

Aus der Tür zur Bibliothek fiel Lichtschein auf den Boden, Katharina stand auf dem Gang.

»Schwester Katharina, ich wusste nicht, dass …«

»Nun weißt du es. Hannah hat mir geholfen, die ausgeliehenen Bücher zurückzustellen. Sie ist fleißig und hat ein bisschen Abwechslung verdient.«

Die dicke Nonne zog die Mundwinkel nach unten. »Wenn du meinst.« Sie drehte sich um und lief mit eiligen Schritten den Korridor entlang.

»Schwester Gertrud hat immer etwas zu meckern«, bemerkte Katharina leise. »Sie arbeitet mit mir in der Bibliothek. Sicher ist sie eifersüchtig, weil du vorübergehend ihren Platz eingenommen hast. Mach dir nichts draus. Geh jetzt zu deiner Mutter.«

»Aber das Buch?«

»Um den Einband kümmern wir uns morgen. Ich zeige dir, wie man ihn flickt.«

Hannah presste das Buch an sich und lief in den Gästetrakt hinüber. Die dicke Nonne hasste sie, sie und Malisha, genauso wie es die Nazis taten. Gleich einem Virus, der in ihr schlief und unerwartet ausbrach, kehrte die Angst zurück.

Die Unwerten

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