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Nachdem Marek vergeblich versucht hatte Silvana zu Hause zu erreichen, probierte er es in der Redaktion des Gazzettino und hatte Glück. Er berichtete kurz was sich ereignet hatte und versprach ihr alles zu erzählen, wenn sie sich am Abend in ihrer Trattoria zum Essen treffen würden. Erfolglos versuchte Silvana noch mehr Informationen aus ihm heraus zu locken. Er blieb stur.

***

Wie immer wenn er einen klaren Kopf brauchte, so ging er auch jetzt auf dem Damm spazieren, zu dem es am Ende der Via Gramsci, in der er wohnte, einen Aufgang gab. Nur diesmal wandte er sich nicht wie gewohnt nach Osten Richtung Stadt, sondern nach Westen, wo der Canale dell‘ Orologio in den Fiume Livenza mündet. Er hatte gerade den traghetto Anleger an der Via Livenza passiert, als sein Handy klingelte.

Pronto!“

„Ciao Roberto“, meldete sich die vertraute Stimme von Brigadiere Ghetti, „wir haben herausgefunden, wo der Tote zuletzt beschäftigt war.“

„Und wo? Machs nicht so spannend.“

„In der Trattoria Da Nardi in Eraclea. Ziemlich nobler Laden. Ich wollte mal hinfahren und den Eigentümer nach Zorzi befragen. Kommst du mit.“

„Klar komme ich mit. Wann holst du mich ab?“

„Ich bin so gegen vier Uhr bei dir.“

„Gut, dann bin ich rechtzeitig wieder zurück. Ich gehe heute Abend mit Silvana essen. Da darf ich mich nicht verspäten, sonst ist der Abend gelaufen. Bis dann.“

Zurück in seiner Wohnung hatte er gerade noch Zeit für einen Caffè und eine Zigarette, dann kam auch schon Ghetti, um ihn abzuholen.

„Ist Nardi auch der Besitzer von diesem Laden?“, fragte Marek, als sie gegen die tief stehende Nachmittagssonne in Richtung Eraclea fuhren.

„Ja, Marco Nardi.“

„Habt ihr etwas über ihn oder ist er bisher unauffällig gewesen?“

„Außer seiner Trattoria ist nichts bekannt. Der Laden soll sehr gut und sehr teuer sein.“

Knapp fünfzehn Minuten später fuhren sie auf den Parkplatz des Restaurants.

„Sieht auch nobel aus“, meinte Marek, als sie den Gastraum betraten.

Sofort kam ein livrierter Kellner auf sie zugewieselt und wollte sie zu einem Tisch geleiten. Als er Ghettis Uniform wahrnahm, blieb er abrupt stehen. Er musterte die beiden Eindringlinge und sein Gesicht nahm einen herablassenden Ausdruck an.

„Sie wünschen?“

Die beiden Worte zerschnitten die Stille des noch leeren Raums wie ein Rasiermesser.

„Den Chef sprechen“, raunzte Marek ihn an. Solche Auftritte schätzte er überhaupt nicht.

„Signor Nardi ist nicht zugegen. Wer sind Sie und was möchten Sie von ihm?“

„Ich bin Brigadiere Ghetti und das ist Commissario Marek. Wann können wir mit Signor Nardi sprechen?“

„Es steht mir nicht zu, darüber Auskunft zu geben. Wenn Sie jetzt bitte gehen würden, es kommen gleich Gäste.“

Mit einer ausladenden Geste wies der Kellner in Richtung Tür. Marek jedoch hatte bei einem Blick aus einem der hinteren Fenster eine schwarze Nobelkarosse gesehen, die bestimmt keinem der Angestellten gehörte. Er sah sich kurz um und entdeckte neben dem Tresen eine Tür mit der Aufschrift Privato. Er gab Ghetti ein Zeichen ihm zu folgen und wollte sich gerade in Bewegung setzen, als der Kellner sich ihm in den Weg stellte.

„Wo wollen Sie hin? Dort vorne geht es hinaus.“

„Wir wollen Ihren Gästen nicht über den Weg laufen und nehmen lieber den Hinterausgang“, grinste Marek ihn an und schob ihn dann beiseite, als würde er eine lästige Fliege von seinem Revers schütteln.

„Das können wir ohne amtliche Erlaubnis nicht machen“, flüsterte Ghetti ihm zu.

„Du nicht, aber ich. Ich bin Privatmann und suche die Toilette. Die können mich ja dann verklagen.“

Vor ihnen öffnete sich ein schmaler Gang, von dem wiederum vier Türen abgingen. Eine führte nach außen in den Hinterhof, die zweite war die Türe zu den WC’s, auf der dritten stand Cantina. Marek steuerte auf die vierte Türe am Ende des Ganges zu, auf der ein Messingschild mit der Aufschrift Ufficio befestigt war. Ghetti und der aufgeregte und wild fuchtelnde Kellner folgten ihm. Er klopfte kurz an.

Avanti“, vernahm er fast augenblicklich eine Stimme von innen und öffnete die Tür.

Permesso?“, fragte er höflich um die Erlaubnis eintreten zu dürfen.

Der Mann, der dort an seinem Schreibtisch saß, sah verwundert auf.

„Wer sind Sie? Was machen Sie hier? Wer hat Sie überhaupt hier hereingelassen?“

Sein Blick wanderte an Marek vorbei und blieb auf Ghetti und dem immer noch hinter ihm zappelnden Kellner haften.

„Es tut mir leid, Signor Nardi, aber sie ließen sich nicht abweisen.“

„Schon gut, Sie können gehen“, entließ er den Kellner und zu Ghetti gewandt, „Was kann ich für Sie tun, meine Herren? Habe ich irgendwo falsch geparkt?“

„Signor Nardi?“, fragte der Brigadiere vorsichtshalber noch einmal.

Sì, Marco Nardi.“

„Ich bin Brigadiere Ghetti und dies ist Commissario Marek, ein Kollege aus Deutschland, der hier lebt. Wir hätten ein paar Fragen an Sie.“

„Bitte, nur zu, aber machen Sie es kurz, denn ich habe wenig Zeit.“

Ghetti hatte mittlerweile auch den Raum betreten und die Türe hinter sich geschlossen.

„Kennen Sie einen gewissen Alfredo Zorzi?“

Nardi lehnte sich in seinen Sessel zurück und zog die Stirn in Falten.

„Zorzi, Zorzi. Nein, der Name sagt mir nichts. Sollte ich ihn kennen?“

Marek, dem das leichte Zucken in Nardis Gesicht nicht entgangen war, hakte sofort nach.

„Sind Sie sicher, Signor Nardi? Überlegen Sie doch noch einmal.“

„Was soll die Fragerei? Ich sagte doch schon, dass mir dieser Name nicht geläufig ist. Und jetzt entschuldigen Sie mich, ich habe zu tun.“

Damit wandte er sich wieder den Papieren zu, die vor ihm auf dem Schreibtisch ausgebreitet lagen. Ghetti wollte gehen und sah Marek fragend an, doch der dachte nicht im Traum daran das Feld zu räumen. Nardi, der bemerkte, dass der deutsche Commissario ihn unvermittelt ansah, hob leicht seinen Blick und fixierte Marek.

„Ist noch irgendetwas? Ich dachte ich hätte mich klar ausgedrückt.“

Marek ließ sich nicht aus der Fassung bringen. Seine Ruhe wirkte schon fast provozierend.

„Signor Nardi, wären Sie so nett und würden noch einmal darüber nachdenken, ob Sie den Namen vielleicht nicht doch schon einmal gehört haben.“

Nardi stand auf, stützte sich mit beiden Fäusten auf der Schreibtischplatte ab und funkelte Marek wütend an.

„Treiben Sie es nicht zu weit. Ich …“

Weiter kam er nicht. Marek fuhr ihm dazwischen und seine Stimme klang nicht mehr so freundlich.

„Finden Sie es nicht seltsam, dass Sie den Namen einer Ihrer Mitarbeiter nicht kennen wollen, der bis vor drei Wochen keine zehn Meter von diesem Büro entfernt täglich in der Küche stand?“

Ein paar Sekunden standen sie sich noch Auge in Auge gegenüber, dann lies sich Nardi schwer in seinen Sessel zurückfallen.

„Also?“, bohrte Marek weiter.

„Na schön. Wie war noch gleich der Name?“

„Zorzi, Alfredo Zorzi“, beeilte sich Ghetti zu sagen, der die Befürchtung hatte, dass sein Freund kurz vor einer Explosion stand, was für alle Beteiligten sehr ungesund geworden wäre.

„Lassen Sie mich überlegen“, mimte Nardi den Nachdenklichen, „Zorzi … doch jetzt erinnere ich mich. Mein Geschäftsführer musste ihn entlassen.“

„Und warum?“, hakte Ghetti nach.

„Wegen Unregelmäßigkeiten, Sie verstehen?“

Sie verstanden.

***

Eine halbe Stunde später saßen sie in Mareks Küche, tranken Caffè und analysierten ihre bisherigen Ergebnisse.

„Ich hätte diesem aalglatten Schleimer am liebsten den Hals umgedreht“, brummte Marek.

„Und ich hatte die Befürchtung, dass du es jeden Moment tun würdest.“

„Ich war so kurz davor“, dabei hielt er Daumen und Zeigefinger in die Höhe, um zu demonstrieren wie kurz.

„Warum hat er gelogen, Michele? Er hätte doch einfach sagen können ich musste ihn entlassen weil … Ich habe das Gefühl der hat etwas zu verbergen. Vielleicht weiß er ja auch, dass Zorzi tot ist. Er hat ja nicht einmal gefragt, warum wir uns für ihn interessieren.“

„Stimmt. Und was schlägst du vor?“

„Wir müssen zuerst einmal mehr über diesen Zorzi in Erfahrung bringen. Lass am besten sein Zimmer in Triest genau untersuchen. Oder noch besser, du machst das selbst und beantragst Amtshilfe bei den Kollegen dort.“

Marek sah auf die Uhr.

„Oh verdammt, ich bin doch mit Silvana zum Essen verabredet. Ich muss mich beeilen.“

***

Nachdem Ghetti sich verabschiedet hatte, nahm er noch schnell eine Dusche und zog sich um. Da er schon zu spät dran war, kletterte er in seine Ente und fuhr das Stück bis in die Via Roma. Dort ließ er das Auto stehen und ging über die Piazza Vescovado in die Altstadt, wo Silvana schon in der Trattoria auf ihn wartete.

„Ich hoffe, du hast mir etwas zu erzählen, sonst werde ich dir die Verspätung nicht verzeihen“, empfing sie ihn.

„Mea culpa“, tat er zerknirscht und küsste sie auf die Stirn. „Lass uns erst einmal bestellen. Beim Essen erzähle ich dir alles.“

Als primi piatti wählten sie canneloni di pasta fresca alla sogliola. Dazu einen leicht gekühlten Bianco di Custoza. Danach orata brasata e capesante in padella mit gemischtem Salat. Somit konnten sie bei ihrem Wein bleiben, der auch mit dem Hauptgericht harmonierte.

Während sie genüsslich aßen, erzählte Marek die ganze Geschichte, beginnend mit dem Anruf Ghettis. Seinen Kater von der Feier mit seinen Freunden erwähnte er natürlich nicht.

„Was hältst du davon?“

„Es könnte sich tatsächlich um einen Unfall gehandelt haben.“

„Und wie kommt der Tote dann zu diesen Hämatomen? Hat er sich die selbst beigebracht?“, regte er sich auf.

„Ist ja schon gut. Du hast ja recht“, beruhigte sie ihn wieder, „und was ist mit diesem Nardi? Warum hat er gelogen? Was glaubst du?“

„Ehrlich gesagt kann ich mir noch keinen Reim darauf machen, aber mein Gefühl sagt mir, dass er etwas mit dieser Geschichte zu tun hat. Ich kann nur nicht sagen ob direkt, oder indirekt.“

Zum Nachtisch nahmen sie noch einen Kuchen aus Orangencreme in Blätterteig mit einem Schuss Cointreau und als sie nach Caffè und Grappa dann auf der Piazza standen, zog Silvana ihn mit sich.

„Komm, wir gehen noch zu mir. Ich habe noch eine Überraschung für dich.“

Das duldete natürlich keine Widerrede.

„Willst du mir nicht verraten, was es für eine Überraschung ist?“, fragte er von Neugier geplagt, als sie Silvanas Wohnung betraten.

„Gleich. Ich hole uns nur noch etwas Wein. Geh schon mal vor.“

Marek schritt, wie immer wenn er hier war, fasziniert die Bücherregale in Silvanas Wohnzimmer ab und hörte sie dabei in der Küche hantieren. Als sie sich dann neben ihn stellte, in der Hand eine Flasche gut gekühlten Rosé und zwei Gläser, strahlte sie, in freudiger Erwartung auf seine Reaktion, über das ganze Gesicht.

„Würdest du uns bitte einschenken“, bat sie und reichte ihm Flasche und Gläser, „und nicht umdrehen.“

Marek platzte nun vor Neugier, tat aber wie ihm geheißen. Dann spürte er wieder ihre Gegenwart hinter sich.

„Du kannst dich rumdrehen“, sagte sie und hielt ihm ein Päckchen in hübschem Geschenkpapier mit passender Schleife vor die Nase.

„Habe ich heute nochmal Geburtstag?“

„Nein, aber vergangene Woche war der erste Jahrestag deines Umzugs nach Caorle. Nun mach schon auf. Ich bin gespannt, was du sagst.“

Vorsichtig löste Marek die Schleife und sah dann fassungslos auf das, was er gerade ausgepackt hatte.

„Du bist verrückt“, entfuhr es ihm, „die deutsche Erstausgabe von d‘Annunzio‘s Feuer in der Übersetzung von Gagliardi. Wie bist du denn daran gekommen?“

„Freust du dich?“

„Und wie. Danke.“

„Ich kenne einen Buchhändler in Padova, der Verbindungen nach Deutschland hat. Der konnte mir das Buch besorgen.“

Bis spät in die Nacht hinein diskutierten sie über Literatur im Allgemeinen und die Werke d’Annunzio‘s im Besonderen. Dabei leerten sie noch einige Gläser Wein, bis eine bleierne Müdigkeit sie übermannte.

Der Venezianische Löwe

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