Читать книгу Der Venezianische Löwe - Volker Jochim - Страница 9
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Robert Marek wachte an diesem Montagmorgen etwas verkatert auf. Am Vorabend hatten er und seine beiden Freunde aus Frankfurt, Paul Krüger und Jakob Jung, Abschied gefeiert. Sie würden heute zurückfahren, falls es ihr Zustand zuließ. Die beiden waren für ein verlängertes Wochenende nach Caorle gekommen, nachdem sie ihren geplanten Besuch im Sommer verschieben mussten. Nur Kurt „Doc“ Stängl fehlte. Er hatte Termingründe vorgeschoben, dabei fürchtete er nur in Italien nichts zu essen und kein Bier zu bekommen. Beim nächsten Mal würde er bestimmt mitkommen, hatte er versprochen.
***
Marek hatte sich im Oktober des Vorjahres pensionieren lassen und war nach Caorle gezogen.
Am Freitag hatte er mit seinen beiden Freunden einen Ausflug nach Venedig gemacht. Zuerst mit seiner Ente nach Punta Sabbioni – während der Fahrt hatten Paul und Jakob das Gefühl seekrank zu werden – und dann mit dem Schiff über den Lido nach San Marco. Obwohl es schon Oktober war, wimmelte es auf der Piazza von Touristen, vorwiegend Japaner. Ob Napoleon diesen Platz noch immer den schönsten Salon Europas nennen würde, wenn er das sehen könnte? Selbst die berühmten Tauben Venedigs hatten Probleme einen Platz zum Landen zu finden. Doch Paul und Jakob, die zum ersten Mal in der Serenissima weilten, wurden, so wie es vielen Besuchern ergeht, von den ersten Eindrücken überwältigt. Beide schworen sich unabhängig voneinander hierher zu übersiedeln, wenn sie denn einmal pensioniert waren.
Marek selbst, der die Stadt mittlerweile fast besser als ein Venezianer kannte, wollte nur diesem Trubel entkommen, und zog die beiden Freunde hinter sich her, bis sie über Schleichwege, auf denen ihnen fast kein Fremder über den Weg lief, die hölzerne Brücke an der Accademia erreichten.
Nach dem Museumsbesuch, bei dem Marek wieder eine halbe Stunde vor seinem Bild La Tempesta von Giorgione verbrachte, ging es jenseits der Touristentrampelpfade durch die Sestiere Dorsoduro und San Polo, wo sie dann in einer kleinen Trattoria in der Calle della Madonna ein vorzügliches risotto di pesce genossen.
So gestärkt machten sie sich dann anschließend auf den Weg durch den Trubel des nahegelegenen Rialto zurück zum Schiffsanleger.
Zurück in Caorle waren die Freunde selbst für einen Schlummertrunk zu müde und wollten nur noch schlafen. Den ganzen Samstag verbrachten sie dann an der Strandpromenade, wo sie die frische Seeluft genossen und abends entführte sie Marek zum Essen in sein Stammlokal, wo er ihnen dann seine Freundin Silvana vorstellte. Silvana Rafaeli war Journalistin beim Gazzettino. Sie und Marek lernten sich bei einem seiner zahlreichen Kurzbesuche kennen und sie war es auch, die ihn zu seiner frühzeitigen Pensionierung und zum Umzug nach Caorle überredete.
Es wurde ein langer und unterhaltsamer Abend. Und gestern Abend trafen sie sich in Mareks Wohnung, um den Abschluss ihres Besuchs zu feiern. Es war eine feuchtfröhliche Feier, bei der etliche Flaschen Wein und eine Flasche Grappa geleert wurden.
***
„Ich glaube, ich bin zu alt für so ‘nen Scheiß“, brummte Marek, als er seine rot umränderten Augen im Spiegel sah.
Sein Kopf fühlte sich an, als würde gerade ein Güterzug durchrattern und auch der Rest seines Körpers war schlapp wie ein nasser Schwamm und nicht wie der eines vitalen Mittfünfzigers.
Unter der Dusche biss er die Zähne zusammen und ließ kaltes Wasser über sich rieseln, in der Hoffnung durch diese Tortur wieder einen klaren Kopf zu bekommen. So fühlte er sich auch etwas besser, als er aus dem Bad in die Küche schlurfte um sich einen Caffè zu kochen. Er hatte gerade die Caffettiera auf den Herd gestellt und sich eine Zigarette angesteckt, als sein Telefon klingelte. Dieser Ton verursachte wieder ein ekelhaftes Stechen in seinem Kopf und er verfluchte denjenigen, der es wagte ihn in seinem Zustand zu stören.
„Pronto“, brummte er schlecht gelaunt in den Hörer.
„Buon giorno, commissario. Ich bin‘s, Michele. Was ist den los? Hast du schlechte Laune?“
„Verdammt Ghetti, du störst mich gerade beim Sterben. Kannst du nicht später anrufen?“
„Oh, war es gestern wieder spät? Na ja, dann bearbeite ich den Fall halt erst einmal alleine weiter. Ciao commissario.“
Marek vergaß auf der Stelle seine Kopfschmerzen.
„Halt, halt. Was für einen Fall?“
Ghetti musste schmunzeln.
„Dachte ich mir doch, dass dich das interessiert. Es gab gestern Morgen einen Toten am Wasserwerk zwischen Duna Verde und San Donà. Kennst du die Gegend?“
„Klar kenne ich die. Das ist doch kurz hinter Brian, oder?“
„Genau. Ein Techniker fand an der Zufahrt einen Toten. Er lag in einer betonierten Wasserrinne mit gebrochenem Genick. Oben am Weg lag ein verbogenes Fahrrad vor einem dicken Ast. Was sagst du?“
„Moment, mein Caffè kocht.“
Marek nahm die Caffettiera vom Herd, schenkte sich eine Tasse ein, löffelte ordentlich Zucker hinein und nippte dann an der Tasse.
„Scheiße.“
„Wie, scheiße?“, Ghetti verstand gar nichts mehr.
„Nichts. Ich habe mir nur den Mund verbrannt. Das hört sich nach einem blöden Unfall an. Was ist daran ein Fall?“
„Du hast mir vor ein paar Monaten beigebracht auf das zu achten, was man nicht sieht, das zu erkennen was man sehen soll und auf seinen Bauch zu hören. Und der sagte mir, dass da etwas nicht stimmt. Ich habe den Toten also zu Dottore Lovati geschickt und der will mich jetzt dringend sehen. Und da dachte ich …“
„Klar komme ich mit“, unterbrach ihn Marek, der jetzt seinen Kater endgültig vergessen hatte. „Holst du mich ab?“
„In fünfzehn Minuten bin ich da. Ciao.“
Er kleidete sich rasch an, zündete sich noch eine Zigarette an und trank seinen Caffè aus. Dann klingelte auch schon der Brigadiere an der Tür.
***
Während der Fahrt nach Portogruaro ließ sich Marek über die genauen Umstände des Leichenfundes und die bisherigen Ermittlungsergebnisse aufklären.
„… und im Moment versuchen wir gerade die letzte Arbeitsstätte des Toten zu ermitteln“, beendete Ghetti seine Erzählung, während sie gerade zum Ospedale einbogen.
„Ich glaube auch, dass dein Bauch recht hat“, meinte Marek auf dem Weg hinunter zur Pathologie, „ich hätte auch Bauchschmerzen wenn jemand, der in Triest wohnt, sich nachts mit dem Fahrrad in dieser gottverlassenen Gegend das Genick bricht.“
„Da hat ihm wohl jemand dabei geholfen“, ertönte hinter ihnen die wohlbekannte Stimme von Dottore Lovati.
„Müssen Sie mich immer so erschrecken Dottore?“, jammerte Ghetti, dem der Schreck sichtbar in die Glieder gefahren war.
„Buon giorno, commissario, ciao Michele. Stell dich nicht so an. Ich habe dir schon einmal gesagt, hier unten beißt dich niemand mehr.“
„Buon giorno, dottore. Schön Sie mal wieder zu sehen. Was haben Sie eben gesagt?“
„Sie haben richtig gehört. Das war niemals ein Unfall. Der Junge weist Hämatome an beiden Armen und Handgelenken sowie Druckstellen am Hals auf. Kommen Sie mit, ich zeige es Ihnen.“
Lovati eilte voraus in den Obduktionssaal, wo der Körper des jungen Mannes sich unter einem blassgrünen Tuch abzeichnete. Bevor er das Laken zurückzog, steckte er sich mit seinem Zigarettenstummel einen weiteren Glimmstängel an.
„Sehen Sie diese Flecken hier am Hals? Da hat jemand von hinten mit enormer Kraft zugedrückt. Und hier an den Handgelenken diese Hämatome. Beides eindeutig vor seinem Tod verursacht.“
„So wie es aussieht, wurde er an beiden Armen festgehalten und jemand hat ihm das Genick gebrochen.“
„Genau Commissario, so würde ich es auch sehen. Dafür würden auch die leichten Druckstellen am Kiefer sprechen. Da hat ihm jemand klassisch den Hals umgedreht.“
„Das würde auf einen Spezialisten hindeuten. Nahkampfausbildung beim Militär oder Kampfsportler.“
„Das könnten ja dann Millionen sein“, meinte der Brigadiere, der sich bis dahin, wie immer wenn er in diese Gefilde musste, diskret im Hintergrund gehalten hatte.
„Das schon, aber es könnte wichtig sein diese Merkmale zu kennen, wenn wir einen Verdächtigen haben sollten. Danke Dottore, Sie waren wie immer eine große Hilfe. Und du Michele kannst dir gratulieren, dass du den armen Kerl hierher geschickt hast und nicht auf die Unfallinszenierung reingefallen bist.“
„Danke. Du meinst also auch, dass es für uns inszeniert wurde?“
„Nach allem was du mir erzählt hast und was der Dottore gesagt hat, muss es so gewesen sein. Komm lass uns zum Tatort fahren.“
Ghetti setzte ein erleichtertes Lächeln auf.
„Heißt das, du machst mit?“
„Naturalmente, das wolltest du doch, oder?“
Marek und Ghetti verabschiedeten sich von Lovati und machten sich auf den Weg. Während der Fahrt sprach keiner ein Wort. Zu sehr waren beide in Gedanken vertieft. Das Ganze versprach, wieder ein ziemlich komplizierter Fall zu werden. Das spürte Marek.
Eine halbe Stunde später bogen sie in die Zufahrt zum Wasserwerk ein. Marek bat Ghetti, den Wagen am Anfang des Weges stehen zu lassen. Er wollte den Rest zu Fuß gehen, um sich ein umfassendes Bild vom Tatort machen zu können. Langsam gingen sie den leicht ansteigenden Weg hinauf. Marek suchte angestrengt nach irgendwelchen Hinweisen, die man übersehen haben könnte, inspizierte beinahe jeden Schotterstein.
„Hier war es“, sagte plötzlich Ghetti in die Stille hinein, als sie vor einem großen Ast standen, „hier lag das Fahrrad und er lag dort unten.“
Ghetti wies mit dem Finger in die Rinne, die parallel zum Weg verlief.
Marek sah sich um.
„Geschickter Ort für eine Unfallinszenierung. Alles von Bäumen umgeben, von der Straße aus nicht einsehbar, aber was zum Teufel macht einer mitten in der Nacht mit einem Fahrrad in dieser Einöde? Vor allem wenn man bedenkt, dass er in Triest gewohnt hat und das ist mit dem Auto schon über eine Stunde Fahrt. Und warum wurde er umgebracht? Hatte er etwas gesehen, was er nicht sehen durfte? Bis jetzt haben wir nur Fragen. Ihr habt auch nichts Brauchbares gefunden?“
Ghetti schüttelte resigniert den Kopf.
„Leider nichts. Reifenspuren auf diesem Schotter sind auch nicht zu gebrauchen.“
Marek holte die kleine Digitalkamera, deren stolzer Besitzer er seit ein paar Wochen war, aus seiner Tasche und fing an den gesamten Bereich zu fotografieren. Vielleicht würde ihm beim Studium der Bilder noch etwas auffallen. Man weiß ja nie. Plötzlich stutzte er und nahm die Kamera herunter. Auf seinem Display hatte er etwas entdeckt.
„Was ist das da hinten?“
„Das ist eine alte, verrostete Schranke.“
„So. Und was ist hinter dieser Schranke?“, fragte Marek ungeduldig.
„Da ist nur ein verwildertes Grundstück mit einem verfallenem Gebäude. Warum?“
„Habt ihr das Grundstück auch untersucht?“
Ghetti wurde sichtlich verlegen. Dem peinlichen Eingeständnis etwas Wichtiges übersehen, oder vergessen zu haben, wurde er jedoch gleich enthoben.
„Hol‘ sofort die Spurensicherung hierher. Das ganze Programm. Sùbito!“, herrschte Marek ihn an und der Brigadiere griff gleich zum Telefon.
Während sie langsam zur Straße zurückgingen um auf das Eintreffen der Kriminaltechniker zu warten, steckte sich Marek eine Zigarette an und inhalierte tief. Sein Puls hatte sich wieder normalisiert und so wurde sein Ton auch moderater, als er weiter sprach.
„Mensch Michele, so etwas darf nicht passieren. Wenn du schon den Verdacht hattest, dass da etwas nicht stimmt, reicht es nicht, nur diesen Weg hier zu untersuchen. Ihr hättet die ganze Umgebung systematisch absuchen müssen. Auch auf die Gefahr hin, eben einmal nichts zu finden.“
„Ja, du hast recht, aber es war Sonntag früh und die Leute hatten eigentlich alle frei. Der Dottore sagte, es wäre ein Unfall, hier auf dem Weg wurde auch kein Hinweis auf Dritte gefunden und die Leute waren dementsprechend genervt.“
„Das ist ihr verdammter Job! Bei der Polizei gibt es keinen Sonntag oder Feiertag. Seit dem Fall im Sommer weißt du ja, dass dies auch für einen kleinen Ort wie diesen hier gilt.“
„Wird nicht wieder vorkommen. Versprochen.“
Marek schlug Ghetti auf die Schulter.
„Schon gut. Ist jedem am Anfang einmal passiert. Du solltest nur daraus lernen.“
„Dir auch?“, fragte der Brigadiere verblüfft, für den der Commissario aus Deutschland so etwas wie Götterstatus hatte.
„Klar, jedem, also auch mir“, lachte Marek.
***
Etwa eine halbe Stunde später bog der Wagen der Spurensicherung in den Weg zum Wasserwerk ein. Ghetti lotste sie bis zu der Schranke, die Marek entdeckt hatte.
„Nach was genau sollen wir hier suchen?“, fragte einer der Männer.
Noch bevor der Brigadiere antworten konnte, fuhr Marek dazwischen: „Nach allem, von Reifenspuren über Zigarettenkippen bis zum gebrauchten Kondom. Alles kann wichtig sein. Wir brauchen von allem was ihr entdecken könnt eine fotografische Dokumentation und eine Lageskizze.“
„Wer ist das, Brigadiere? Was mischt der sich hier ein?“, begehrte der Mann auf, doch sein Kollege, der Marek noch von den Ermittlungen im Frühsommer her kannte, beruhigte ihn gleich wieder.
„Schon gut Lorenzo, das ist ein Commissario aus Deutschland. Der unterstützt den Brigadiere und hat vor ein paar Monaten hier den Mordfall aufgeklärt.“
Das genügte. Die Männer gingen an ihre Arbeit.
„Was machen wir jetzt?“, wollte Ghetti wissen.
„Du mein lieber Michele, fährst mich jetzt zu einer Pasticceria. Da besorge ich uns eine Tüte Cornetti und dann fahren wir zu mir frühstücken. Keine Widerrede. Ich habe einen Bärenhunger und ohne Frühstück kann ich nicht denken.“
***
Nachdem das letzte mit Vanillecreme gefüllte Cornetto verspeist war, zündete sich Marek eine Zigarette an, lehnte sich zufrieden auf seinem Stuhl zurück, blies blaue Ringe in die Luft und sah Ghetti erwartungsvoll an.
„Was denkst du?“
„Wenn ich ehrlich bin, ich habe keine Ahnung. Das Ganze ist so unsinnig.“
„Mord ist immer sinnlos, Michele. Was mich hier noch stört, ist, dass es so zufällig aussieht. Was aber nicht sein kann, wenn man bedenkt, mit welchem Aufwand ein Unfall inszeniert wurde. Und gestohlen wurde ja auch nichts.“
„Ich fahre zurück in die Caserma. Vielleicht liegen ja schon ein paar Ergebnisse auf meinem Tisch. Ich melde mich dann. Danke für das Frühstück.“
„Ciao Michele.“
Nachdem der Brigadiere gegangen war machte sich Marek einige Notizen und heftete die Zettel an die Wand über seinem Schreibtisch, an der die an einigen Stellen abgeplatzte Farbe noch immer an die Zettel aus dem Fall im Frühsommer erinnerte.
***
Gegen Mittag betraten zwei Männer ein kleines Lokal in einer der Gassen hinter der Placa Stradun in der Altstadt Dubrovniks und steuerten auf einen Tisch im hinteren Bereich des Gastraums zu, an dem schon ein älterer Mann mit vollem, grauen Haar und sehr gepflegten Äußeren saß.
„Hallo Vater, was gibt es denn so Dringendes?“
„Setzt euch!“, befahl der ältere Mann. „Wie oft soll ich euch Schwachköpfen noch erzählen, dass ihr in Triest ein anderes Domizil besorgen sollt?“
„Versuchen wir ja, es ist aber nicht so einfach etwas zu finden, was den Ansprüchen genügt.“
„Scheiß auf eure Ansprüche!“, fuhr der ältere Mann auf und schlug mit der flachen Hand so vehement auf die Tischplatte, dass der Caffè aus seiner Tasse schwappte. „Es muss nur unauffällig und sauber sein und sonst gar nichts. Ist das jetzt in eurem Spatzenhirn angekommen?“
Die beiden Brüder sahen sich an.
„Ja Vater, wir kümmern uns sofort darum, aber warum ist das denn auf einmal so brisant?“
„Ich habe Informationen erhalten, wonach einer unserer Kunden beim Betreten des Hauses in Triest beobachtet wurde und deshalb jetzt in Schwierigkeiten steckt. Ihr gefährdet die Organisation. So und nun verschwindet und nehmt euch der Sache sofort an.“