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Giovanni Toso hatte an diesem Sonntag Frühdienst. Seit über zehn Jahren arbeitete er schon als Techniker im Wasserwerk. Der Job machte ihm Spaß, obwohl er keine großen Anforderungen an ihn stellte. Es war eben nur ein kleines, provinzielles Werk. Aber er hatte ein relativ gutes Einkommen und von seinem Haus in Caorle waren es nur ein paar Minuten.

Leise schlich er aus dem Schlafzimmer. Er wollte seine Frau nicht aufwecken. Sie arbeitete in einem Supermarkt und hatte am Samstag Spätdienst. Sie brauchte den Schlaf.

In der Küche öffnete er das Fenster, klappte den Laden auf und sog tief die kühle Morgenluft ein. Es war neblig. Die ersten Vorboten des Herbstes. Fröstelnd schloss er das Fenster, füllte Caffè und Wasser in die Caffettiera und stellte sie mit kleinster Flamme auf den Herd. Bis der Caffè fertig war, konnte er eine schnelle Dusche nehmen.

Ein paar Minuten später saß er in der Küche, rauchte eine Zigarette, sah aus dem Fenster und dachte über sein Leben nach. Eigentlich lief ja alles in geordneten Bahnen. Er hatte einen guten Job, ein hübsches Häuschen, eine Frau, die er liebte und einen kleinen Sohn, den er vergötterte. Andererseits, dachte er, war sein Leben doch ziemlich ereignislos. Aber was sollte hier schon Aufregendes passieren? Da hatte es im Frühsommer diese Mordserie gegeben, welche die Stadt erschütterte und er hoffte, dass so etwas nie wieder vorkommen möge, aber daran nahm er auch nur über die Zeitungsberichte teil. Er selbst, in persona Giovanni Toso, erlebte nie etwas Aufregendes.

Er sah auf die Uhr. Es war höchste Zeit zu gehen. Vorsichtig schlich er noch ins Schlafzimmer und hauchte seiner Frau einen Kuss auf die Stirn, darauf bedacht sie nicht aufzuwecken. Dann sah er noch kurz im Kinderzimmer nach seinem Sohn, der friedlich schlafend in seinem Bettchen lag, und verließ das Haus.

Sonntags morgens um diese Zeit wirkte die ganze Stadt noch wie ausgestorben. Die Straßen waren menschenleer. Der Bodennebel hielt die Felder mit einem weißen Tuch bedeckt. Erst hinter Porto Santa Margherita begegnete Toso einigen älteren Männern, die mit ihren Motorrollern in der Morgendämmerung auf dem Weg zu ihren Angelplätzen waren. Nachdem er das kleine Örtchen Brian passiert hatte, konnte er in der Ferne schon die Baumgruppe ausmachen, hinter der das Wasserwerk lag.

Er reduzierte die Geschwindigkeit und bog langsam in den Schotterweg ein. Hier war der Nebel noch dichter, sodass sich das Licht der Scheinwerfer darin verlor. Plötzlich trat er auf die Bremse. Irgendetwas hatte er in dieser Suppe gesehen, konnte aber nicht mit Bestimmtheit sagen was es war. Langsam rollte er zurück, doch er konnte nichts ausmachen. Er nahm den Gang heraus, zog die Handbremse an und wollte aussteigen. Dabei schlug die Wagentüre gegen etwas Metallisches. Er ließ den Wagen noch etwas weiter zurückrollen und stieg aus.

Der Gegenstand, den er im Scheinwerferlicht gesehen hatte, stellte sich als Fahrrad heraus. Das Vorderrad war ziemlich verbogen. Wahrscheinlich war der Fahrer gegen den dicken Ast geprallt der dort lag und hatte dann das Rad einfach liegen lassen. Toso drehte sich um und wollte zu seinem Auto zurück. Als sein Blick die Betonrinne streifte, die parallel zum Weg verlief, stockte ihm der Atem. In der Rinne lag ein verkrümmter Körper. Ein lebloser Körper wie es den Anschein hatte.

„Scheiße, wieso muss das jetzt ausgerechnet mir passieren?“

Aber hatte er nicht vor gerade einmal einer halben Stunde darüber sinniert, dass ihm auch einmal etwas Aufregendes widerfahren könne? Aber doch nicht so etwas. So war das nicht gemeint. Diese Gedanken schossen ihm durch den Kopf, während er überlegte, was nun zu tun sei.

„Die Polizei. Ich muss die Polizei anrufen.“

Er ging zur Straße zurück, während er sein Handy aus der Tasche zog.

Polizia?“

, hier ist die Caserma der Carabinieri in Caorle. Was wünschen Sie?“

„Kommen Sie schnell. Ich glaube hier liegt ein Toter. Ich bin hier am Wasserwerk bei Brian.“

„Sind Sie sicher?“

„Sicher was?“

„Sind Sie sicher, dass er tot ist? Woher wissen Sie überhaupt, dass es sich um einen Mann handelt?“

„Ich weiß es ja nicht.“

„Was wissen Sie nicht? Dass es sich um einen Mann handelt?“

„Nein, dass er tot ist. Er sieht zumindest so aus.“

„Ah, und warum rufen Sie dann Sonntags um diese Uhrzeit an, wenn Sie nichts wissen?“

Toso platzte langsam der Kragen.

„Verdammt nochmal. Schicken Sie endlich jemanden hierher und auch einen Arzt.“

„Also nicht in diesem Ton. Sie haben wohl getrunken. Ich werde …“

„Soll ich die Polizia di Stato anrufen? Vielleicht nehmen die Ihren Job etwas ernster als Sie?“

Es entstand eine kurze Pause. Der Mann in der Telefonzentrale überlegte wahrscheinlich gerade welche Konsequenzen es hätte, wenn sich der Anruf als wahr erweisen würde. Das wäre bestimmt nicht sonderlich gut für ihn.

„Na gut“, meinte er gönnerhaft, „ich hoffe für Sie, dass es kein Scherz ist.“

Toso gab den genauen Fundort durch. Dann ging er zu seinem Wagen und schaltete den Motor aus. Jetzt konnte er nur noch warten. Er blieb vorne an der Straße stehen, da ihm die Nähe dieses leblosen Körpers zu unheimlich war.

Etwa fünfzehn Minuten später, für Toso eine gefühlte Ewigkeit, konnte er von weitem die Sirenen hören und kurz darauf sah er durch den sich auflösenden Nebel die Blaulichter auftauchen.

Die beiden Einsatzfahrzeuge kamen mit quietschenden Reifen zum Stehen und wirbelten dabei mächtig Staub auf.

„Wie oft soll ich euch noch sagen, dass ihr euch vorsichtig einem potenziellen Tatort oder Unfallort nähern sollt und nicht in dieser Hollywoodmanier!“, brüllte Brigadiere Ghetti seinen Fahrer an. Ghetti war als Brigadiere Capo seinen jungen Kollegen weisungsbefugt. Er stieg aus und rief seine Leute zurück, die schon übereifrig den Schotterweg hinauf stürmen wollten.

Ghetti ging zu Toso und ließ sich alles genau berichten. Zwischenzeitlich kam noch ein Wagen mit den Leuten der Spurensicherung und dem Arzt.

„Hallo Dottore!“, rief Ghetti. „Der Mann von der Frühschicht hat einen leblosen Körper in der Rinne dort vorne gefunden. Oben liegt noch ein Fahrrad. Scheint gestürzt zu sein.“

Der Arzt kletterte in die Rinne, um den Körper zu untersuchen.

„Was ist?“, rief Ghetti.

„Männlich und tot“, erwiderte der Dottore trocken. „Sieht tatsächlich so aus, als sei er mit dem Fahrrad gestürzt und sich dabei das Genick gebrochen.“

„Ja, die Spuren deuten daraufhin. Das verbogene Vorderrad und der dicke Ast, der hier liegt. Scheint in der Dunkelheit dagegen gefahren zu sein. Wie lange liegt er schon da?“

„Würde sagen fünf bis zehn Stunden, aber ich kann mich dabei auch um ein bis zwei Stunden vertun. Jedenfalls war er sofort tot.“

Ghetti half dem Dottore aus der Rinne und ließ die Leute von der Spurensicherung ihre Arbeit tun.

„Sucht bitte den ganzen Weg genau ab.“

„Nach was sollen wir denn speziell suchen?“

„Nach Spuren möglicher Fremdeinwirkung.“

„Aber das war doch ein Unfall“, maulte einer seiner Kollegen, der die vage Hoffnung hatte, doch noch einmal ins Bett kriechen zu können.

„Sieht so aus, könnte aber auch Fremdverschulden sein und ich will mir nicht nachsagen lassen, ich hätte etwas übersehen, basta“, beendete Ghetti die Diskussion.

Mittlerweile war auch der Krankenwagen eingetroffen, und nachdem der Fotograf seine Arbeit erledigt hatte, gab Ghetti die Anweisung, den Toten ins Ospedale nach Portogruaro zu bringen. Da Caorle über keine Gerichtsmedizin verfügt, werden alle unnatürlichen Todesfälle dort untersucht. Er würde später den Leiter der Pathologie, Dottore Lovati bitten, sich die Leiche noch einmal genauer anzusehen. Einer der beiden Kriminaltechniker brachte Ghetti einen Beutel, in dem sich eine schmale Brieftasche befand.

„Haben Sie schon hineingesehen?“

„Führerschein, Ausweis und etwas Geld, etwa zwanzig Euro.“

„Ich notiere mir nur die Anschrift, dann könnt ihr sie ins Labor mitnehmen.“

„Wieso ins Labor? Ich denke es ist ein Unfall?“, erwiderte der Mann ungläubig, während Ghetti seine Gummihandschuhe anzog, die Brieftasche aus dem Beutel zog und die Anschrift vom Ausweis notierte.

„Sicher ist sicher. Man kann nie wissen“, meinte Ghetti und legte alles zurück in den Beutel. „Ich erwarte dann Ihren Bericht. Sagen wir bis heute Nachmittag.“

Damit ließ er den angesäuert dreinblickenden Mann stehen, rief seine Leute zusammen und gab Auftrag, zurück in die Caserma zu fahren.

Schön, es war Sonntag, dazu noch früh am Morgen und er wäre auch lieber im Bett geblieben statt Frühdienst zu machen, doch man konnte ja die Ermittlungen nicht einfach auf den nächsten Tag verschieben, egal ob Unfall oder nicht.

***

Der Nebel hatte sich gelichtet und zögernd zeigte sich die Herbstsonne am immer noch milchigen Himmel.

Ghetti stand im Hof der Caserma und betrachtete den Zettel, auf dem er die Adresse des Opfers notiert hatte. Via Pellegrini - das war ganz hier in der Nähe, den kurzen Weg konnte er zu Fuß gehen. Er steckte den Zettel wieder ein, sagte in der Zentrale Bescheid wo er zu erreichen war und ging los.

Er hatte noch nicht viel Erfahrung im Überbringen von schlechten Nachrichten und so probierte er in Gedanken alle möglichen Formulierungen durch, während er den Corso überquerte und kurz darauf in die Via Pellegrini einbog. Das gesuchte Haus war ein schmuckloses, dreigeschossiges Gebäude in dem vorwiegend Caorlotti wohnten.

Den Namen des Toten konnte er nicht entdecken, als er das Tableau betrachtete, aber neben einer Klingel stand kein Name. Vielleicht war er hier richtig. Er drückte mehrmals auf den Knopf. Ohne Erfolg. Es rührte sich nichts. Als er schon gehen wollte, öffnete sich im Erdgeschoss ein Fenster und der Kopf einer ziemlich korpulenten älteren Frau erschien. Neugierig musterte sie seine Uniform.

„Zu wem wollen Sie denn?“

„Buon giorno, signora. Zu Zorzi. Die wohnen doch hier, oder?“

„Was hat er denn angestellt?“

„Wer?“

„Na, der Alfredo. Den suchen Sie doch.“

„Also wohnt er hier?“

„Nein, nicht mehr.“

Ghetti musste sich zusammennehmen. Die Frau ließ sich jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen und platzte dabei vor Neugier.

„Hätten Sie die große Güte mir zu erzählen, was Sie über Alfredo Zorzi wissen?“

„Was wollen Sie denn hören?“

„Alles!“, sagte Ghetti in scharfem Ton.

„Eigentlich weiß ich nichts. Ich will keine Schwierigkeiten.“

Als der Brigadiere tief Luft holte, gab sie sich geschlagen.

„Ist ja schon gut. Der Alfredo hat bis vor etwa drei Wochen hier gewohnt. War ein ruhiger Kerl. Immer freundlich und höflich. Hätte nie gedacht, dass der mal von der Polizei gesucht wird.“

„Und dann?“

„Dann hat er seine Stelle verloren und dann ist er ausgezogen. Was ist denn mit ihm?“

„Hat er Angehörige oder Verwandte?“

„Keine Ahnung. Er hat hier alleine gewohnt. Ist ihm was passiert?“

„Er hatte einen Unfall. Er ist tot.“

„Santa madonna dell‘ angelo“, der Frau war sichtlich der Schrecken in die Glieder gefahren, „die arme Mutter.“

„Also hatte er doch Angehörige?“

„Ja, seine Mutter, aber die wohnt nicht hier.“

„Wissen Sie zufällig, wo wir die Mutter erreichen können?“

„Ich glaube sie wohnt in Triest. Der arme Kerl. Noch so jung war er.“

„Grazie signora. Ach, noch etwas. Sie wissen nicht zufällig, wo er gearbeitet hat?“

„Er war Koch in einer Trattoria. Ich glaube in Eraclea.“

***

Der Brigadiere war erleichtert. Jetzt musste wenigstens nicht er der armen Mutter die traurige Nachricht überbringen.

Zurück in seinem Büro rief er die Kollegen in Triest an und bat darum, Alfredo Zorzis Mutter ausfindig zu machen und sie vom Tod ihres Sohnes zu unterrichten. Was ihn aber immer noch beschäftigte war die Frage was jemand, der in Triest wohnte, mitten in der Nacht dort zu suchen hatte. Dazu noch mit einem Fahrrad.

***

Am nächsten Morgen rief Ghetti Dottore Lovati im Ospedale Civile in Portogruaro an und informierte ihn was es mit dem Toten auf sich hat, den er ihm gestern bringen ließ. Lovati versprach sich sofort darum zu kümmern. Bis zum Nachmittag würde er ihm einen ersten Bericht zukommen lassen.

Sollte der Dottore bestätigen, dass es ein Unfall war, konnte er den Fall zu den Akten legen – aber wenn nicht? Er hatte so ein seltsames Gefühl in der Magengegend. Dieses Gefühl, das er kennenlernte, als er mit seinem Freund, dem ehemaligen deutschen Commissario Robert Marek die Mordserie im Frühsommer dieses Jahres aufklären konnte. Marek hatte ihm sehr viel beigebracht. Auch seine Sinne bei irgendwelchen Ungereimtheiten zu sensibilisieren. Bei ihm machte sich das eben durch dieses Gefühl in der Magengegend bemerkbar, das sich jetzt gerade eingestellt hatte. Er würde alles genau überprüfen.

Ghetti rief einen Kollegen in sein Büro und beauftragte ihn herauszufinden, in welcher Trattoria Zorzi beschäftigt war. Danach blieb ihm nichts weiter übrig, als zu warten.

Der Venezianische Löwe

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