Читать книгу Chirurginnen - Volker Klimpel - Страница 6
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Beginnen wir mit dem aus der Antike stammenden Symbolzeichen für die Frau. Es ist das Pallas-Zeichen und steht für Pallas Athene, die Göttin der Klugheit und Beschützerin der ärztlichen Kunst. Aber es steht auch für Feuer und Schwefel, für die Kampfeskunst und Kampfeslust … Die Vorstellung, die Frauen seien „das schwache Geschlecht“ und zu nichts anderem zu gebrauchen, als Beeren zu sammeln, zu kochen und Kinder zu gebären, ist im wahrsten Sinne des Wortes steinzeitlich – und falsch. Wann genau in der tiefen dunklen Vergangenheit die des Sammelns, Jagens, Holzfällens und Nähens kundigen Frauen sich um die schwangeren und gebärenden Geschlechtsgenossinnen oder um die Jagdverletzungen der Männer kümmerten, wissen wir nicht. Erst mit der Erforschung der alten Kulturen, sei es im Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris oder sei es in jener Epoche, die wir landläufig als Antike bezeichnen, sind Dokumente und Sachzeugnisse über Ärztinnen überliefert. Dank archäologischer Forschungen wissen wir einiges über die Ärztinnen der Antike im weitesten Sinne und die Ausübung ihres Berufes. Bodenfunde, Grabreliefs und vor allem Grabbeigaben belegen das Wirken früher Ärztinnen, Zahnärztinnen, Chirurginnen und Hebammen. Sie machen diese als Personen fassbar und namhaft.
Zeichen der Pallas Athene, später in runder Form Symbol der Weiblichkeit.
Die ältesten Zeugnisse für Frauen im Arztberuf gehen auf das 4. Jahrhundert vor Christi Geburt zurück. Auf einem Grabrelief in dem kleinen Ort Menidi in Attika finden sich, etwa zur Zeit Alexander des Großen (356–323 v. Chr.), Name und Darstellung der Ärztin und Hebamme Phanostrate, umgeben von Kindern [74]. Um 100 v. Chr. besitzen die heilkundigen Frauen ihre eigene Berufsbezeichnung: iatriné, Ärztin (im Gegensatz zum männlichen iatrós, dem Arzt). Ein anderes Grabrelief ungefähr aus der gleichen Zeit zeigt die Ärztin Mousa mit einer Buchrolle in der Hand, ein Hinweis darauf, dass sie ihr Wissen durch Studium erworben hat [68]. Sogar eine römische Kaiserin soll Ärztin gewesen sein: Livia Drusill (58 v. Chr.–29 n. Chr.). Töchter von Ärzten und selbst Ärztinnen waren ferner Pantheia aus Pergamon und Antiochis von Tlos. Letztere wird noch Jahrhunderte später von Galen (130–210 n. Chr.) erwähnt (S. 197 [68]). „Chirurginnen gab es bei den Römern schon im 1. Jahrhundert [unserer Zeitrechnung]“, so der Archäologe Ernst Künzl (*1939) in einer seiner zahlreichen Arbeiten zum Thema [73]. Rasiermesser, Skalpelle, Sonden, Zangen, Nadeln, Schröpfköpfe, Löffel, Salbenplatten und anderes mehr, meistens aus Frauengräbern, legen Zeugnis ab von vielfältigen chirurgischen und geburtshilflichen therapeutischen Aktivitäten. Eine bescheidene Terrakotta-Grabplatte bildet die Hebamme Scribonia Attice (2. Jhdt. n. Chr.) bei ihrer Tätigkeit am Gebärstuhl ab. Rom wird zum Zentrum der Chirurgie in der Antike. Hier arbeiten Frauen in Praxen und Operationssälen mit Skalpell, Nadel und anderen Instrumenten [76].
Die Medizinschule von Salerno aus einer Abschrift des Canon medicinae des Avicenna
Aber auch außerhalb Roms, wenngleich unter dem Einfluss des Reiches stehend, sind Spuren der Chirurgie aus weiblicher Hand nachzuweisen: Im Grab einer Südspanierin zur Zeit vor Christi Geburt, in einem Grab in Strée/Belgien um 100 n. Chr., aus dem Hunsrück, aus Heidelberg-Neuenheim und Bernkastel-Wittlich, ebenfalls 1. Jahrhundert n. Chr. sowie aus Metz. Namen tauchen auf wie die der Ärztinnen Julia Sabina (Ancona, 2. Jhdt. n. Chr.), Asyllia Polla (Karthago) oder Metilia Donata (Lyon, 2. Jhdt. n. Chr.). Grabinschriften deuten auf chirurgische Gemeinschaftspraxen von Mann und Frau im alten Rom hin [75]. In Deutschland waren die auch auf heilkundlichem Gebiet tätigen Roswitha von Gandersheim (935–1002) und Hildegard von Bingen (1098–1179) mitnichten Chirurginnen. Unlängst wurde bei Ausgrabungen in Südjütland ein Frauengrab mit einer Trepansäge gefunden, was eine chirurgische Tätigkeit dieser Frau nahe legt – vor 1800 Jahren in der Eisenzeit! [CHAZ 20: 272 (2019)].
Grabrelief der Ärztin Mousa aus Byzanz (um 100 v. Chr.).
Grabrelief einer Ärztin aus Metz (1.–2. Jhdt. n. Chr.).
Einem Quantensprung gleich etablierte sich im 10. Jahrhundert mit der Schule von Salerno die wissenschaftliche Ausbildung von Ärztinnen – „Mulieres Salernitanae“ (S. 87–88 [88]). Männer und Frauen wurden gemeinsam unterrichtet. Viele Nachrichten sind legendär. Namhaft gemacht werden konnten die Ärztinnen Sigelgaita, Rebecca Guarna, Abella, Mercurias, Francesca Romana, Constanza Calenda, Dorothea Bocci und Trotula, die bekannteste von ihnen [71].
Magistra Hersend, auch „die Ärztin“ genannt, war eine französische Chirurgin, die König Ludwig IX. von Frankreich (1214–1270) auf dem siebenten Kreuzzug 1249 begleitete. Sie war eine von zwei Frauen, die als Leibärztinnen bzw. Leibchirurginnen anerkannt waren. Magistra Hersend war dem König, der Königin und ihrem Gefolge adjustiert. Sie hat, so die Überlieferung, später den Hofapotheker geheiratet und eine lebenslängliche Pension erhalten. Bis 1259 ist ihre Tätigkeit in Paris nachgewiesen <QI4>. Die zweite Frau als Chirurgin im Dienste König Louis IX. war Guillemette du Luys, die als „Phlebotomistin“ bekannt wurde <QI5>. Das war sehr ungewöhnlich für das 13. bis 15. Jahrhundert, als in England, Frankreich und Spanien Frauen als Chirurginnen nicht nur verpönt waren, sondern auch gerichtlich verfolgt worden sind. Ein Beispiel dafür war der Prozess gegen Peretta Peronne im Paris des frühen 15. Jahrhunderts. Sie hatte illegal praktiziert und ein Gewerbeschild als Chirurgin an ihrer Haustür angebracht. Trotz ihrer Behandlungserfolge wurde sie einer hochnotpeinlichen Befragung durch die Medizinische Fakultät und die Chirurgengilde von St. Cosmas und Damian in Paris unterzogen. Danach musste Peronne auf jegliche Werbung verzichten und sich demütigenden Einschränkungen unterwerfen. Der Druck der Bevölkerung war jedoch so groß, dass Madame Peronne stillschweigend als Chirurgin akzeptiert wurde <QI6>.
Zwischen 1273 und 1410 sollen in Neapel 24 Chirurginnen zugelassen gewesen sein. Im Königreich Neapel wurden den Frauen nach einem Examen vor dem Hofchirurgen die Lizenzen zur Berufsausübung als Chirurginnen verliehen. Aus den Akten sind u. a. bekannt Maria Gallicia, Lauretta, Clarice aus Foggia, Sibyl aus Benovento, Margarita aus Bitonto und Raymunda aus Taberna und deren Behandlungsspektrum. In Mainz wird ein weiblicher Arzt im Jahre 1288 erwähnt, in Frankfurt am Main half 1394 die Tochter eines Arztes verwundete Söldner zu (ver-)„arzten“. Ebenfalls aus Frankfurt am Main stammte eine jüdische Ärztin, die sich in Augenoperationen auskannte. In Würzburg praktizierte mit Erlaubnis des Fürstbischofs eine jüdische Ärztin namens Sarah und in Nürnberg waren 1486 bereits 23 „ehrbare Frauen“ zur Praxis medicinae et chirurgiae zugelassen [95]. Allerdings wurde es für die Frauen seit dem 14. Jahrhundert immer schwieriger, den Arztberuf zu ergreifen, und fast unmöglich, Chirurgin zu werden. Die medizinischen Fakultäten blieben ihnen verschlossen und rigorose Verbote der Kirche taten ein Übriges. Heinrich V. von England (1387–1422) verbot generell das Praktizieren von Frauen und drohte drastische Strafen an. Und Heinrich VIII. (1491–1547) verkündete, „dass kein Zimmermann, Schmied, Weber oder Frauen eine chirurgische Operation durchführen“ durfte. Eine interessante Kombination … In Paris standen 1322 fünf Frauen unter Anklage des unerlaubten Praktizierens. Kronzeuge der Anklage war der Chirurg Johann von Padua, Wortführerin der Beklagten Jacqueline Felice de Almania, die argumentierte, Frauen würden von einer Ärztin besser behandelt, weil sie auch „Brüste, Bauch und Füße“ untersuchen könnte, was dem männlichen Arzt verwehrt war. Acht Zeuginnen unterstützten sie, doch das Gericht entschied – natürlich – zugunsten der Männer und verurteilte Felice de Almania und fünf andere Ärztinnen zur Exkommunikation. Damit hatten die Frauen noch Glück, die Strafe hätte viel schlimmer ausgehen können (S. 29 [24]). Die ausgeprägte Frauenfeindlichkeit im Mittelalter bezog ihre Rechtfertigung daraus, dass eine Frau, nämlich Eva, den Sündenfall der Menschheit verursacht habe. In diesem Geiste wurden Traktate verbreitet, in denen die Frau gleich nach der Schlange kam und mit dieser in Verbindung gebracht wurde, denn „Frauen sind zum größten Teil giftige Geschöpfe“ [117].
Ein Ausweg führte über die Tätigkeit als Hebamme oder als Gehilfin bei Badern und Wundärzten, wobei eine eventuelle Übernahme des Geschäftes des Ehemannes möglich war. Die Frauen, sofern sie als „ehrbar“ erachtet worden waren, wurden in die Innungen und Zünfte eingegliedert, mussten Prüfungen ablegen und den Handwerkseid schwören (S. 197 [68]). Eine von ihnen war Agathe Streicher (1520–1581) in Ulm, die von ihrem Bruder, einem Wundarzt, ausgebildet und später von der Stadt angestellt worden ist (s. biogr. Teil) [70]. Es verwundert nicht, dass auch der Reformator Martin Luther (1483–1546) im Geschlechterkampf herangezogen wurde mit seinem Ausspruch: „Es ist kein Rock noch Kleid, das einer Frau oder Jungfrauen über anstehet, als wenn sie klug sein will“.
Auch ein Blick in fernere Regionen zeigt die absolute Dominanz des männlichen Geschlechts im Arztberuf. Sei es in Ägypten oder im sonstigen Arabien, in Mesopotamien, Tibet oder Mexiko – alles Kulturen auf hohem Niveau – überall ist ausschließlich von Männern die Rede, die die Heilkunst betreiben. Auch in Japan wird erst im 19. Jahrhundert unter dem Einfluss der europäischen Medizin in Einzelfällen möglich, dass Frauen chirurgisch tätig sind (s. „Porträts“).