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Jahrhundertelang sah es trübe aus für Frauen in der Medizin, insbesondere in der Chirurgie. Es gab – in der Antike und im frühen Mittelalter – schon einmal bessere Zeiten. Auch das Zeitalter der Aufklärung, von dem man es dem Namen nach eigentlich hätte erwarten können und das nach dem verheerenden Dreißigjährigen Krieg (1618–1648) langsam einzusetzen begann und bis um 1800 andauerte, brachte keine Besserung hinsichtlich der Emanzipation der Frauen im Allgemeinen und in der Heilkunde im Besonderen. Die Strukturen blieben patriarchalisch, und auch mit einsetzender Industrialisierung täuscht der Eindruck nicht, dass Niedertracht, wie sie schon Dorothea Erxleben geißelte, Prüderie, vorgeschobene psycho-physische Gründe und durchaus auch Futterneid der männlichen Kollegen den Eintritt von Frauen in die medizinische Welt erschwerten, wenn nicht gar unmöglich machten.
Außerhalb Deutschlands war man da schon etwas weiter. Wenngleich es auch dort nicht ohne Kämpfe abging. In den USA verhinderten zum Beispiel männliche Studenten in Boston zunächst, dass ihre Kommilitonin Harriot Hunt (1805–1875) Vorlesungen besuchte. In ihrem Protest heißt es u. a.: „Es sei beschlossen, dass keine Frau von wahrem Zartgefühl willens wäre, in Gegenwart von Männern der Erörterung von Gegenständen zu lauschen, die bei Studenten der Medizin zwangsläufig zur Sprache kommen. Es sei beschlossen, dass wir gegen die uns aufgedrängte Gesellschaft eines jeglichen weiblichen Wesens sind, das gesinnt ist, sein Geschlecht zu verleugnen und durch gemeinsames Auftreten mit Männern im Hörsaal seine Sittsamkeit zu opfern“ (zit. n. [81] S. 565–569). Man meinte, die Heilkunde, besonders da, wo sie sich mit sexuellen Dingen befasste, sei für Frauen ein unziemlicher Gegenstand des Interesses. Mit Hilfe ihres Dekans, des berühmten Oliver Wendell Holmes (1809–1894), wurde Miss Hunt dann doch noch in der Harvard School of Medicine aufgenommen und machte ihren Weg. Die fest in Männerhand befindliche „American Medical Association“ stellte 1871 fest: „Noch eine Krankheit ist epidemisch geworden. Die ‚Frauenfrage’ ist in Bezug auf die Medizin nur eine der Formen, in denen die ‚pestis mulieribus’ die Welt verdrießt … steckt die Massen mit ihrem Gift an und dringt selbst durch den dreifachen Erzring, die des Politikers Herz umgibt“ (S. 571 [81]). Das war alles andere als ironisch gemeint. Und doch war es Amerika, wo die ersten Frauen Medizin studierten und promovierten: Elizabeth Blackwell (1821–1910) 1849 in New York und ihre Schwester Emily Blackwell (1826–1910) 1854 in Cleveland/Ohio. Letztere stand als Privatassistentin des Gynäkologen James Young Simpson (1811–1870) eine Zeit lang in enger Beziehung zur operativen Medizin und wurde dann zur Frauen- und Kinderärztin.
Elizabeth Blackwell operiert
Hier ist auch die Britin Sophia Jex-Blake (1840–1912) zu erwähnen, die um 1870 an der Universität von Edinburgh erlebte, wie männliche Studenten den Hörsaal verbarrikadierten und die Einlass begehrenden Frauen mit Schmutz bewarfen und beschimpften. Als die Frauen den Hörsaal erreichten, trafen sie auf Schafe und Bemerkungen, dass nun auch „niedrige Tiere“ nicht mehr von den Vorlesungen ausgeschlossen seien. Jex-Blake setzte ihre Studien bei Elizabeth Blackwell in New York fort, gründete später in Edinburgh eine eigene Medizinische Schule, an der wiederum nach 1899 auch Blackwell lehrte (S. 100–101 [97]). Zulassungen zum Medizinstudium gab es für Frauen seit 1833 in den USA, 1863 in Frankreich, 1864 in der Schweiz, 1896 in England und 1878 in Holland. Bei aller Fortschrittlichkeit der Medizin in den USA dauerte es immerhin bis 1981, als sich die Chirurginnen in der „Association of Women Surgeons“ organisierten.
„Madam Mapp“ – Satirische Darstellung einer Londoner Chirurgin, die vor allem Knocheneinrenkerin war, von William Hogarth (1697–1764).
Zurück auf den alten Kontinent. Mit einer Ausnahmegenehmigung ihres Schwagers Elias von Siebold (1775–1828), seines Zeichens Hofacchoucheur und Lehrer der Geburtshilfe, durfte Josepha von Siebold verw. Heiland (1771–1849) in Würzburg Medizin und Geburtshilfe studieren, musste dabei die Vorlesungen abgeschirmt hinter einem Vorhang hören. Nach einem vierstündigen, „mit Bravour“ bestandenen Examen vor dem Darmstädter Medizinalkollegium erhielt sie ihre Zulassung als Ärztin und praktizierte zusammen mit ihrem Ehemann Dr. med. Damian von Siebold (1768–1828) in Darmstadt. 1815 verlieh ihr die Universität Gießen die Ehrendoktorwürde für Geburtshilfe. Josepha von Siebolds älteste Tochter Charlotte von Siebold-Heiland (1788–1859) promovierte sogar regulär 1817 in Göttingen und trat in die Praxis ihrer Mutter ein. Sie berichtete aus ihrem Studium von dem berühmten Professor der Geburtshilfe, Johann Friedrich Osiander (1759–1822), der sich in typisch männlicher Weise äußerte: „… ich glaubte nie, dass beim Unterricht charakterloser Weiber und Mädchen viel Erfreuliches herauskomme … Das Schwangerwerden steht ihnen auf jeden Fall besser an, als über Schwangerschaft zu schreiben“ (zit. n. [45] S. 111). Als 53-Jährige heiratete sie einen 14 Jahre jüngeren Mann – was für ein Skandal! Charlotte von Siebold, nun verehelichte Heidenreich, gehörte zum Geburtshelferteam, das 1819 Prinzessin Alexandrine Victoria, die spätere Königin Victoria von England (1819–1901), zur Welt brachte <QI7>.
Das mögen Ausnahmen gewesen sein, die aber schon das Streben um Frauenbildung und Frauenstudium ansatzweise erkennen lassen. Noch im Jahr 1872 verstieg sich der Münchner Anatomieprofessor Theodor von Bischoff (1807–1882) zu der Behauptung, die Frau sei geistig minderwertig, weil ihr Gehirngewicht geringer sei als das des Mannes und das Weib somit „in seiner ganzen Organisation einen minder hohen Entwicklungsgrad erreicht hat und in allen Beziehungen dem Kinde näher steht als der Mann“ [13]. Im Fachjargon nannte man das ernsthaft den „Hirnbeweis“. v. Bischoff stand als „Befürworter und Beschützer des natürlichen Berufes der Frau, nämlich Hausfrau, Gattin und Mutter zu sein“ nicht allein. Eine stattliche Phalanx von Universitätsprofessoren und Ordinarien hatte sich geradezu gegen „studierte Frauen“ verschworen. Der Berliner Anatom Wilhelm Waldeyer (1836–1921) zählte ebenso dazu wie sein Kollege von der Pathologie, Johannes Orth (1847–1923), der Nachfolger Rudolf Virchows. Orth wörtlich: „Man denke sich nur die junge Dame im Seziersaal mit Messer und Pincette vor der gänzlich entblößten männlichen Leiche sitzen und Muskeln oder Gefäße und Nerven oder Eingeweide präparieren, man denke sie sich die Leichenöffnung eines Mannes oder einer Frau machen und zur notwendigen Aufklärung der Krankheitserscheinungen die Beckenorgane mit allem was dazu gehört, untersuchen … man berücksichtige, dass das alles in Gegenwart der männlichen Studenten vor sich geht, dass die männlichen wie die weiblichen in der ersten Zeit der Mannbarkeit stehen, wo die Erregung der Sinnlichkeit ganz besonders leicht und gefahrvoll ist, – man stelle sich das einmal so recht lebhaft vor und dann sage man, ob man junge weibliche Angehörige der eigenen Familie in solchen Verhältnissen sehen möchte! Ich sage nein und abermals nein!“ [57]. Wie krank war das denn – Erotik im Angesicht der Formaldehyd-Leichen?! Der medizinische Enzyklopädist Julius Leopold Pagel (1851–1912) hoffte, dass „diese ganze absonderliche Bewegung bald der Vergangenheit angehört“ und ließ sich zu der Äußerung hinreißen: „Nur in einer Beziehung ist für mich die ‚ Ärztin‘ diskutabel: nämlich als Helferin für die Krankenküche!“.2 Selbst für einen so gebildeten Mann wie Pagel schien mit der Gleichberechtigung der Frau „das Ende der Welt“ gekommen [91]. In das gleiche Horn stieß Professor Ernst von Leyden (1832–1910), Ordinarius für Innere Medizin in Straßburg und Berlin, indem er meinte, dass die physischen Kräfte der Frau geringer seien als die des Mannes, ebenso wie die geistige Begabung der Frau im Durchschnitt geringer sei als die des Mannes. Allerorten wurde die generelle Forderung nach Zulassung von Frauen zum Studium an deutschen Universitäten noch im März 1891 mit „ungeheurer Heiterkeit“ quittiert <QI8>.
Medizinstudentinnen bei der Sektion (um 1900, vermutlich USA).
John Deaver (1855–1931) operiert 1914 mit und vor Frauen im Women’s Medical College Philadelphia (aus: Rutkow <QI3>, S. 508).
Ärztinnen bei einer Operation im Women’s Medical College Philadelphia um 1900.
Den Vogel aber schoss aus heutiger Sicht der Leipziger Psychiater Paul Julius Möbius (1853–1907) mit seiner skandalträchtigen und in zahlreichen Auflagen erschienenen Schrift „Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes“ ab (1900 ff.). Auch Möbius schließt von der Gehirngröße auf die geistige Kreativität (oder Nicht-Kreativität) der Frau und weist auf ihre Hauptrolle für die Arterhaltung des Menschen hin. Die Ärztin und feministische Schriftstellerin Johanna Elberskirchen (1864–1943) konterte 1903 in ihrem Buch „Feminismus und Wissenschaft“: „Ich hätte auch schreiben können ‚ Feminismus und Schwachsinn‘, denn die Kritik, die im Namen der Wissenschaft am Feminismus verbrochen wird, hat oft mit Wissenschaft wenig zu tun. Jedoch meine angeborene Courtoisie gegenüber dem männlichen Geschlecht verbot mir, auf den Wegen des Herrn Möbius zu wandeln. Meiner Ansicht nach sind die Herren Gelehrten, insbesondere die Herren Naturwissenschaftler und die Herren Mediziner die ungeeignetsten Leute, sich kritisch mit dem Feminismus zu befassen. Sie stehen dem Weibe zu persönlich und zu materialistisch gegenüber und beurteilen es aus einer ganz schiefen und recht beschränkten Perspektive, jedenfalls von ganz unwissenschaftlichen Gesichtspunkten aus … Nein, Herr Möbius, das Weib ist nicht schwach, nicht inferior, nicht ‚physiologisch schwachsinnig‘, aber das Weib ist krank – es leidet zu sehr unter der Herrschaft des männlichen Sexus“ <QI9>. Johanna Elberskirchen erreichte aber längst nicht so eine große Öffentlichkeit wie Möbius. Fundament derartiger frauenfeindlicher Äußerungen war nicht zuletzt Arthur Schopenhauers Text „Über die Weiber“ (1851), welche er „weder zu geistiger noch zu körperlicher Leistung fähig“, sondern ihrer „Natur nach zum Gehorchen bestimmt“ sah. Ein wenig später erklärte der Kulturhistoriker Wilhelm Heinrich Riehl: „Unser Staat ist männlichen Geschlechts!“ (1855). Der Schweizer Rechtswissenschaftler und Politiker Johann Caspar Bluntschli bezeichnete die unmittelbare Teilnahme an Staatsgeschäften als unweiblich, für das Gemeinwesen gefährlich und für die Frauen verderblich. Da durfte der Zeitgenosse, Nicht-Arzt und geisteskranke Philosoph Friedrich Nietzsche nicht fehlen, der sagte: „Wenn ein Weib gelehrte Neigungen hat, so ist gewöhnlich etwas an ihrer Geschlechtlichkeit nicht in Ordnung“ (S. 7 [45]). Als Anti-Feminist par excellence erwies sich auch der andere Nicht-Mediziner Max Funke, der in seiner 1910 erschienenen Schrift „Sind Weiber Menschen? Mulieres homines non sunt“ die von ihm gestellte Frage umgehend verneinte und in der Frau das Bindeglied zwischen Mensch und Menschenaffen sah. Während Funke und seine „wissenschaftlichen Quellen“ in das Reich des Kuriosen und Absurden zu verweisen sind, erstaunt es doch, dass noch 1983 eine Art Ehrenrettung des Möbius’schen Pamphlets unternommen wird [112].
Angehende Ärztinnen schauen beim Operieren zu. Women’s Medical School of London um 1900.
In Österreich sah es nicht anders aus. Der Zulassung von Frauen zum Medizinstudium brachten vor allem die Standesvertretungen Widerstand entgegen. So befürchtete die Wiener Ärztekammer 1895 in einem Gutachten einen durch die weiblichen Ärzte sich verschärfenden Existenzkampf und stellte die Frage: „Gibt es denn wirklich nur im medizinischen Berufe Wirkungskreise für die Frau?“ Der Direktor der I. Chirurgischen Universitätsklinik in Wien, Eduard Albert (1841–1900), schrieb in seiner Broschüre „Die Frauen und das Studium der Medizin“ (1895), dass die künstlerischen und wissenschaftlichen Leistungen der Frauen mit jenen der Männer nicht zu vergleichen seien, weil „die Frauen doch nur viel kleiner Köpfe“ hätten. Dagegen lief nicht nur der „Allgemeine Österreichische Frauenverein“ Sturm. Als 1897 mit Gabriele Possanner von Ehrenthal (1860–1940) die erste Frau an der Universität Wien zum Dr. med. univ. promoviert wurde, war es noch Brauch, dass die weiblichen Kandidatinnen zum zweiten Mal ihre Matura ablegen und den „Nachweis eines moralisch einwandfreien Vorlebens“ erbringen mussten! [39]. Mit Bianca Bienenfeld (1879–1929)3 promovierte 1904 nach Gabriele Possanner die zweite Frau an der Wiener Universität, und sie war 1908 die einzige weibliche Assistentin bei Friedrich Schauta (1849–1919) an der I. Universitäts-Frauenklinik in Wien sowie später Chefärztin eines Sanatoriums und 1912 die erste Frauenärztin mit einer Privatpraxis in der Bräunerstraße 10 in Wien [78].
Gabriele Possanner von Ehrenthal
Endlich beschäftigte sich 1891 der Deutsche Reichstag mit der Zulassung von Frauen zum Universitätsstudium, legte es aber in die Kompetenz der Länder, die ab 1899 schon Frauen generell als „Gasthörerinnen“ an ihren Universitäten zugelassen und ihnen dann einen anerkannten deutschen Abschluss ermöglicht hatten, wozu auch das ärztliche Staatsexamen, die Approbation und die Promotion zählten. Um Eintritt in das Reich des Äskulap zu erlangen, führte der Weg der Frauen meistens über das Lehrerinnenstudium. In entsprechenden Seminaren erwarben sie dann die Hochschulreife und konnten sich aber bis 1899 nur an ausländischen Universitäten zum Medizinstudium einschreiben [8]. Dieser Sachverhalt spiegelt sich auch in zahlreichen, weiter unten beschriebenen Lebensläufen wider. Die Medizinhistorikerinnen Johanna Bleker (*1940) und Sabine Schleiermacher (*1957) von der Berliner Charité publizierten im Jahr 2000 rund 850 Kurzbiographien von Ärztinnen aus dem deutschen Kaiserreich in Buchform, unter ihnen nur wenige Chirurginnen [9]. Darauf basierend hat die Charité 2015 eine Internet-Datenbank eingerichtet, die ständig aktualisiert wird, die Namensliste dort hat über 1500 Einträge! (Verweise dazu können wie unter [9] angegeben recherchiert werden). <QI10-1>
Interessante Ausführungen zu den ersten Ärztinnen in Europa und Amerika macht auch der Schweizer Pharmakologe und Medizinhistoriker Marcel H. Bickel (1927–2017) [7].
Die einzelnen Länder machten in unterschiedlicher Geschwindigkeit davon Gebrauch: In Baden konnten sich Frauen ab 1901 an einer Universität zum Studium einschreiben, in Bayern 1903/04, in Württemberg 1904/05, in Sachsen 1906/07, in Preußen 1908/09, nachdem die Universität Breslau in der preußischen Provinz Schlesien 1898 vorangegangen war, und zum Schluss Mecklenburg 1909. In Breslau haben sich in der Ära der Chirurgen Hermann Küttner (1870–1932) und Karl Heinrich Bauer (1890–1978) auffällig viele Studentinnen für die Chirurgie interessiert und sich bei diesen beiden Klinikchefs eine Doktorarbeit mit chirurgischer Thematik geben lassen, die damals noch die ganze Bandbreite einschließlich Orthopädie und Urologie umfasste. Einige von ihnen sind nach erfolgreicher Promotion dann als Medizinalpraktikantinnen in die Chirurgische Klinik gegangen. Im festen Mitarbeiterstab von Professor Bauer stand allerdings um 1940 mit „Fräulein Fischer“ nur eine Frau 12 männlichen Kollegen gegenüber [104]. Nicht verheiratete Frauen wurden bis weit in die Zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts „Fräulein“ genannt und bezeichneten sich selbst oft auch so.
„Die Medizinerin“ – aus der satirischen Zeitschrift „Kladderadatsch“ (1887).
Als erste Frau in Deutschland promovierte Mathilde Wagner (1866–1940) 1901 in Freiburg i. Br. zum Dr. med. Sie hat 1935 in Weimar noch die Mutter des Verfassers behandelt. Mit der Erlaubnis zur Habilitation mussten die Frauen in Deutschland bis 1918 warten. Dr. med. Adele Hartmann war die erste Frau, die sich 1919 Deutschland habilitierte – in München für Anatomie! Als im Juli 1933 „Fräulein“ Dr. med. Erna von Arnim (1901–1978)4 zur Leiterin der gynäkologisch-geburtshilflichen Abteilung des Roten-Kreuz-Hauses Bremen (Willehadhaus) berufen werden sollte, erhob die Regierung Einspruch, „da es nicht angängig sei, eine solche Stelle mit einer unverheirateten Frau zu besetzen, die keine Familie zu versorgen habe“ (S. XXII [110]). Eine höchst widersprüchliche Aussage … In der Chirurgie ließ die Habilitation von Frauen noch lange auf sich warten. In der Chirurgischen Universitätsklinik Kiel z. B. findet sich in der Liste der 60 Habilitanden von 1794 bis 1986 keine einzige Frau! [116]. In Frankfurt am Main habilitierte sich mit Charlotte Mahler (s. u.) bei Rudolf Geißendörfer (1902–1976) erstmals 1946 eine Frau für Chirurgie.
Hans Virchow (1852–1940) re. beim Präparierkurs für Frauen in Berlin 1903/04
Ein wenig schienen sich die Schleusen zu öffnen, auch wenn der Kampf noch längst nicht zu Ende war. Unter dem Motto „Frauen behandeln Frauen“ gab es seit 1877 in der Reichshauptstadt Berlin die ersten Kliniken und Polikliniken weiblicher Ärzte, die anfangs mit ihren ausländischen Patenten die Tätigkeit nur privat und halblegal ausführen konnten. Im April 1908 – das Frauenstudium war inzwischen gesetzlich verankert – eröffnete die erste chirurgische Klinik weiblicher Ärzte in Berlin-Schöneberg. Die Chirurginnen waren hier Agnes Hacker (s. u.) und Franziska Tiburtius. Zur Jahrhundertwende hin war bereits in der Berliner Bülowstraße, ebenfalls im Ortsteil Schöneberg, eine moderne Frauenklinik mit chirurgischem Profil entstanden. Das Operationsspektrum bestand aus Laparotomien, Hysterektomien, Ovarektomien, Prolapsoperationen und weiteren nicht näher beschriebenen Bauchoperationen. Aufgrund der steigenden Operationsfrequenzen reichten Betten- und Operationssaalkapazität in der Bülowstraße 1905 schon nicht mehr aus, so dass erweitert werden musste. Hacker, Tiburtius und Kolleginnen führten ad absurdum, was u. a. der Internist Franz Penzoldt (1849–1927) in die Debatte wider die weiblichen Ärzte geworfen hatte: „… Die geringere Körperkraft muss akut hinderlich sein bei der Durchführung schwerer chirurgischer und geburtshilflicher Operationen … Dazu kommt, dass … die Frauenärztinnen so gut wie ausschließlich die sogenannte kleine Gynäkologie und Geburtshilfe treiben, größere Operationen in beiden Gebieten aber den männlichen Kollegen zuweisen“ [94]. Nun, als Internist war Penzoldt ohnehin nicht satisfaktionsfähig …
Anatomischer Präparierkurs für Frauen und Männer 1907 an der Universität in Halle an der Saale
Ungeachtet aller Steine, die den Frauen in den Weg gelegt wurden, folgten weitere Einrichtungen von Frauen für Frauen, wobei die Ausrichtung mehr allgemeinmedizinisch, pädiatrisch und gynäkologisch war als chirurgisch. Um sich ein Bild zu machen, wie es zu jener Zeit, aus der das Zitat von Penzoldt stammt, um die gesellschaftliche Akzeptanz des Frauenstudiums stand, lohnt sich ein Blick in „Meyers Konversations-Lexikon“. In dieser „Zierde bürgerlicher Bildung“ steht u. a. geschrieben: „Die übrigens schwer zu begründende Behauptung der Gegner des Frauenstudiums, dass dem weiblichen Geschlecht die Befähigung zur selbständigen wissenschaftlichen Forschung abgehe, kann nicht als entscheidend gelten … In der That haben nicht wenige Frauen in der Pflege der Wissenschaften bereits Hervorragendes geleistet“. Das klingt zunächst verheißungsvoll, wird aber im selben Atemzug eingeschränkt: „Wie weit Frauen zum Universitätsstudium zuzulassen sind, ist … vielmehr davon abhängig zu machen, wie weit die Ausübung der höheren Berufsarten als vereinbar mit dem Naturell und der Leistungsfähigkeit der Frauen sowie mit den tiefer begründeten sittlichen Anschauungen eines Volkes gelten können“. Im medizinischen Bereich werden den Ärztinnen vorzugsweise die Frauen- und Kinderkrankheiten zugewiesen (lesenswert dazu [18]). Und „sollte man sich endgültig für die Zulassung der Frauen zum Studium entscheiden, so wird jedenfalls von ihnen das gleiche Maß von Vorkenntnissen wie von den Männern gefordert werden müssen“, um dann abschließend ganz im alten Stil zu postulieren: „Dem Mann der Staat, der Frau die Familie!“ [83].
Wenn auch die Zeit darüber hinweg ging, so wollte sich der durch und durch konservative Chirurgie-Heros Ernst von Bergmann (1836–1907), seinerzeit Direktor der I. Chirurgischen Universitätsklinik in der Berliner Ziegelstraße, mit dem allmählichen Eindringen der Frauen in die Männerdomäne nicht abfinden und versuchte, die Kassentätigkeit von in Deutschland nicht approbierten Ärztinnen durch die Ärztekammer Brandenburg untersagen zu lassen. Dr. med. Jenny Springer (1860–1917), eine Berliner Ärzte-Pionierin mit chirurgischer Vorbildung, und ihre Kolleginnen verhinderten dies (1901/02). Da war Bergmanns chirurgischer Antipode Carl Ludwig Schleich (1859–1922), der Begründer der Infiltrationsanästhesie, schon wesentlich fortschrittlicher, wenn er in der ihm eigenen poetischen Art formulierte: „Ist die Frau weniger wert als der Mann? Wer diese Frage beantwortet, kann auch sagen, ob Feuer mehr wert ist als Wasser!“
Eine Ausnahme unter den Klinikchefs und Ordinarien mit viel Verständnis für die jungen Kolleginnen war zwar kein Chirurg, aber dennoch ein operativer Mediziner: Der Geheime Medizinalrat Professor Franz von Winckel (1837–1911). Er wirkte von 1872 bis 1883 als Direktor der Königlichen Landesentbindungsanstalt und Frauenklinik in Dresden und von 1883 bis 1907 als Ordinarius an der Ludwig-Maximilians-Universität München. F. von Winckel war zeitweise der einzige Kliniker in Deutschland, der weibliche Volontäre beschäftigte [59]. Er äußerte sich 1893 dazu wie folgt: „Ich habe während 21 Jahren in Dresden und in München gegen 40 weibliche Ärzte als Volontärassistentinnen in den von mir geleiteten Frauenkliniken beschäftigt, meist Ausländerinnen, einige auch aus Deutschland, die aber auf außerdeutschen Universitäten studiert hatten. Ich muss … bemerken, dass ich es mit einem auserlesenen Material zu tun hatte, in dem mir Frau Prof. Heim-Vögtlin, meine frühere Schülerin, diejenigen Bewerberinnen aussuchte, von denen sie gewiss war, dass sie ihrer Empfehlung Ehre machen würden. Und das haben sie auch in jeder Beziehung getan. Pflichtgetreu, fleißig, gewissenhaft und aufs Eifrigste bemüht, all ihre Zeit bestens auszunutzen, habe ich die Leistungen der meisten dieser Schülerinnen mit Freuden als mindesten gleichwertig mit denen ihrer Mitvolontärärzte anerkennen müssen“ [113]. Bei von Winckel lernten u. a. Emilie Lehmus (1841–1932), Franziska Tiburtius (s. u.), Marie Heim-Vögtlin (1845–1916), Hope Bridges Adams-Lehmann (1835–1916), Ida Democh-Mauermeier (1877–1950), Dorothea Haenel-Dietrich (1880–1965). Sie alle waren als „Ärztinnen der ersten Stunde“ in fachlicher Hinsicht zunächst Allrounderinnen und hatten auch eine chirurgische Schulung genossen, bevor sie dann als praktische Ärztinnen oder Spezialistinnen arbeiteten, was mit der reichseinheitlichen Ausbildungs- und Prüfungsordnung seit 1883 möglich war. Neben von Winckel galten die Anatomen Wilhelm Roux (1850–1924) in Halle an der Saale und Hans Virchow (1852–1940) in Berlin als tolerant, ja fortschrittlich, was sich vor allem in der Einrichtung und Frequentierung von Sektionskursen für Frauen zeigte.
„Frauenstaffel“ im OP des Endell Street Military Hospital im Londoner Covent Garden während des Ersten Weltkriegs in Regie der Medical Women’s Federation; das einzige Krankenhaus in London, in dem ausschließlich Suffragetten arbeiteten (1916–1920). ©Wellcome Library
In Österreich nahmen Julius Tandler (1869–1936), Vorstand der I. Anatomischen Lehrkanzel der Universität Wien, und der Gynäkologe Ernst Wertheim (1864–1920), Leiter der Wiener Universitäts-Frauenklinik, junge Absolventinnen auf und förderten sie. Auch Tandler und Wertheim waren diesbezüglich Ausnahmeerscheinungen. In diesem Zusammenhang nicht zu vergessen ist die Ophthalmologin, Augenchirurgin und Feministin Dr. Léonore Gourfein-Welt (1859–1944), Privatdozentin an der Universitätsaugenklinik in Genf. Deren Schwestern Sara und Rosa Welt haben ebenfalls in der Schweiz studiert und sind Ärztinnen geworden. Nachdem im ersten Weltkrieg in Europa5 Frauen als Krankenschwestern und Ärztinnen ihre Leistungsbereitschaft und Leistungsfähigkeit mehr als einmal unter Beweis gestellt hatten, kamen sie 1918 mit der „Damenwahl“ auch politisch ihrer Gleichberechtigung ein Stück näher; zur Wahl der Deutschen Nationalversammlung 1919 in Weimar waren erstmals Frauen zugelassen. In den 1920er und 1930er Jahren hatten die Berliner Chirurgen Prof. Moritz Borchardt (1868–1948) und Prof. Paul Rosenstein (1875–1964) am Krankenhaus Moabit (seit 1920 III. Chirurgische Universitätsklinik) bzw. am Jüdischen Krankenhaus immer wieder Chirurginnen in ihrem Team [26, 102].
An zwei willkürlich herausgegriffenen Beispielen sei die Quantität von Frauen in der Medizin noch einmal veranschaulicht. Erstens: Allein im Kammerbezirk München befanden sich 1933 unter den gemaßregelten und diskriminierten 273 Ärzten 28 Frauen, darunter keine Chirurgin! [51] Zweitens: Eine Auflistung der Verfolgten und Vertriebenen unter den Mitgliedern der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie enthält 214 Ärzte, unter ihnen nur zwei Frauen. Eine einzige ist Chirurgin – die weiter unten erwähnte Johanna Hellmann (S. 219–225 [110]). Aus den Zeitdokumenten sei weiterhin noch erwähnt, dass es im zwanzigköpfigen Mitarbeiterstab des Chirurgie-Ordinarius Martin Kirschner (1879–1942) an der Universität Königsberg im Frühjahr 1923 zwei Frauen gab, die Fräuleins Bär und Platz, über deren weiteres Schicksal die Akten schweigen (S. 17 [110]). Im Team von Karl Heinrich Bauer an der Chirurgischen Universitätsklinik in Breslau stand ein „Frl. Fischer“ vornan (Abb. 15 in [104]). In einem ähnlichen Bilddokument aus der Münchner Chirurgischen Universitätsklinik von Erich Lexer erblickt man unter dem ungewöhnlich großen Mitarbeiterstab von 35 Personen nur eine einzige, namentlich nicht genannte Frau (S. 83 [51]).
Titel der Festschrift zum Internationalen Frauentag 1913 von Marianne Saxl-Deutsch, Wien
2 zit. n. EMMA 5/2003
3 nicht zu verwechseln mit der gleichnamigen Philosophin aus dem Sartre-Kreis.
4 E. v. Arnim war die erste weibliche Assistentin von Walter Stoeckel (1871–1961) an der Universitäts-Frauenklinik (Charité) Berlin und leitete im 1. Weltkrieg ein Lazarett in Liegnitz.
5 in Amerika bereits während des Bürgerkrieges