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1.Die Denker des neunzehnten Jahrhunderts

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Die Ansicht, daß sich die Tyrannis auf ganz natürliche Weise aus der Demokratie entwickelt, finden wir schon bei den frühesten politischen Denkern vertreten; Aristoteles hat in seiner Politik (V. viii. 2–3, 18) auf diese Tatsache hingewiesen, doch die Beschreibung dieser Metamorphose in Platos Staat (Buch VIII und IX) kann ohne Übertreibung ein genaues Faksimile der unheimlichen, ja dämonischen Übergänge genannt werden, wie sie sich in Mittel- und Osteuropa nach 1917, besonders aber nach 1930 abgespielt haben. Hier finden wir den Massenaufstand gegen die Eliten, den Verfall der elterlichen Autorität, die Vergötterung der Jugend, die steigende Enteignung der Wohlhabenden, bis sich diese zaghaft zur Wehr setzen, worauf das Volk einen Führer wählt, der es »beschützen« muß; wir sehen die »Leibwachen«, mit denen sich der Demagoge umgibt, die Flucht der Reichen und Intellektuellen in die Emigration, die Entfremdung der oberen Klassen vom demokratischen Gedanken als Folge dieser Entwicklung, den Übergang von der »Beschützung« zur Beherrschung, den Raub der Tempelschätze, die Militarisierung des Gesindels und die Einstellung der Verbrecher in den Polizeidienst, das Heraufbeschwören von kriegerischen Konflikten, um zu Hause um so besser »Disziplin« zu halten; schließlich hören wir von den »Säuberungen« und der steigenden Korruption…

Vom Zusammenbruch der antiken Welt bis zum 18. Jahrhundert wird wenig über die Evolution der politischen Formen spekuliert und geschrieben, doch die Debatte über die Eigenschaften und Vorzüge der verschiedenen Regierungsarten bleibt vom Heiligen Thomas von Aquin bis zu Montesquieu in vollem Schwung. Immerhin, es muß zugegeben werden, daß die Beweisführung dieser Kritiken und Untersuchungen durch die relative Einförmigkeit der politischen Strukturen Europas bis zur Zeit der Französischen Revolution im Theoretischen steckengeblieben war; die Demokratie zum Beispiel gab es nur in einigen Stadtverwaltungen und Gebirgstälern. Die Antike blieb so für lange Zeit die ergiebigste Fundgrube und das dankbarste Forschungsfeld des Jüngers der Staatslehre.

Erst die Französische Revolution mit ihrem Schauspiel von rasch aufeinanderfolgenden Übergängen erneuerte das Interesse an der »Biologie« politischer Formen und ihrer organischen Veränderungen; war doch Frankreich, das mächtigste und volkreichste Land Europas, zwischen den Jahren 1789 und 1815 durch einen ganzen Zyklus politischer Evolutionen gegangen! Und obwohl die äußeren Formen des Ancien régime augenscheinlich triumphiert hatten, waren sich doch die scharfsichtigeren Denker darüber klar, daß die demokratische Richtung, nachdem sie sich von ihrer zeitweiligen Niederlage erholt hatte, wieder die Oberhand gewinnen würde. Bevor das Ancien régime die Revolution und die Militärtyrannis niederringen konnte, war es bitter gedemütigt worden; es hatte seine »Selbstverständlichkeit« verloren und war nun »zur Debatte gestellt«. Joseph de Maistre forderte die Anhänger der Monarchie auf, diese mit geistigen Waffen zu verteidigen34, ein sicheres Anzeichen dafür, daß die alte organische Ordnung35 mit der naiv-natürlichen Hinnahme patriarchalischer Regierungsstrukturen der Vergangenheit angehörte.

Diejenigen aber, die vom »schließlichen« Sieg der Demokratie überzeugt waren, zerfielen in zwei getrennte Gruppen; die einen, die sich vom Endsieg der Demokratie eine neue Stabilität und auch eine neue Legitimität erhofften, und die anderen, die den Ausgang des Experiments von 1789 nicht vergessen konnten und in der kommenden Demokratie lediglich eine Vorstufe zu einer Tyrannis, einem Cäsarismus oder einer totalitären Knechtschaft sahen. Einige von diesen, wie zum Beispiel Alexis de Tocqueville (1805–1859), P.-J. Proudhon (1809–1865), Herman Melville (1819–1891), J.J. Bachofen (1815–1887) und zu einem gewissen Grade auch Herbert Spencer (1820–1903) und Friedrich Nietzsche (1844–1900), erwarteten das Kommen von Hilaire Bellocs Servile State. Andere wieder dachten weniger an eine friedliche und allmähliche Entwicklung der Demokratie zur Staatsallmacht und waren von den dunklen Möglichkeiten in der Dialektik der Demokratie fasziniert, erschüttert und alphaft bedrückt. Ihre Gedankengänge waren denen Platos und, zu einem gewissen Grad, den politischen Spekulationen des Stagiriten nicht unähnlich. Zu diesen zählen wir Walter Bagehot (1826–1877), Jacob Burckhardt (1818–1897), Konstantin Leontjew (1831–1891), F.M. Dostojewskij (1821–1881), Ernest Renan (1823–1893), Franz Grillparzer (1791–1872), Søren Kierkegaard (1813–1855), B. G. Niebuhr (1776–1831), J. Donoso Cortés (1809–1853) und Benjamin Constant de Rebecque (1767–1830). Diese Gruppe müßte noch durch eine Reihe von anderen Denkern und Beobachtern ergänzt werden, die zur Demokratie teils freundlich, teils feindlich oder auch neutral eingestellt waren, aber allesamt von der Furcht vor einer demokratischen Entwicklung zu einem gleichmacherischen Despotentum beherrscht wurden, einer Furcht, die leider nicht unbegründet war. Unter ihnen ragen hervor Edmund Burke (1729–1797), Alexander Herzen (1812–1870), Graf Montalembert (1810–1870), Guillaume Guizot (1787–1874), Edmond Schérer (1815–1889), P. P. Royer-Collard (1763–1845), Hippolyte Taine (1828–1893), Lord Acton (1834–1902), J. S. Mill (1806 bis 1873), Sir Henry Maine (1822–1888), Orestes Brownson (1803 bis 1876), William Lecky (1838–1903), Henry Adams (1838–1918), H.F. Amiel (1804–1881) und Benjamin Disraeli (1804–1881). Wenn man diese Namensreihe durchgeht, ist es wohl nicht übertrieben, die Behauptung aufzustellen, daß im 19. Jahrhundert nicht wenige der besten Köpfe Europas und Amerikas von dem Gedanken gepeinigt waren, es wären in der Demokratie Kräfte, Grundsätze und Tendenzen verborgen, die entweder wesenhaft oder zumindest in ihren dialektischen Möglichkeiten zu vielen grundlegenden menschlichen Idealen, darunter auch der Freiheit, in einem absoluten Widerspruch stünden. Es ist sehr wichtig, darauf hinzuweisen, daß eine gute Hälfte der oben erwähnten Männer als Liberale zu bezeichnen sind, und es kann auch nicht bezweifelt werden, daß die Liberalen in dieser Gruppe sich am lautesten, am tatkräftigsten und mit den konkretesten Beweisführungen gegen das dräuende Übel gewandt hatten. Metternich, der große Seher, ist hier nicht ohne weiteres einzureihen; wir zählen ihn allerdings nicht zu den echten Konservativen, gerade weil er kein Liberaler war. Vieles sah er schief, vieles auffallend richtig, doch hatte er in seinem Kampf zuviel von seinen Feinden gelernt… mehr als für seine Sache gut war. Er fühlte sich unbehaglich in seiner Zeit, wie aus seinem Bekenntnis vom 16. Oktober 1819 zu ersehen ist:

»Mein Leben ist in eine abscheuliche Periode gefallen. Ich bin entweder zu früh oder zu spät auf die Welt gekommen; jetzt fühle ich mich zu nichts gut. Früher hätte ich die Zeit genossen, später hätte ich dazu gedient, wieder aufzubauen; heute bringe ich mein Leben zu, die morschen Gebäude zu stützen. Ich hätte im Jahre 1900 geboren werden und das 20. Jahrhundert vor mir haben sollen.«36

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