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Der Quacksalber

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Von irgendwoher wehte das Dudeln einer Drehorgel heran.

Wirre Geräusche wie von einem fernen Jahrmarkt.

Eine ferne, hallende Männerstimme:

»Felbys Patentmedizin! Kauft Felbys Patentmedizin! Heilkräfte der Natur nach Rezepten weltberühmter Ärzte! Das Beste gegen Rheuma, Gicht, Kopfschmerzen, Leibkrämpfe, Magengeschwüre, Kreislaufstörungen, Kinderlosigkeit und mindestens drei Dutzend anderer Leiden. Gesund und munter ohne Diät und ...«

Die Worte verwehten.

Irgendetwas knarrte und rumpelte, irgendwo schnaufte und klapperte ein Motor.

Irgendwann glitt ein bleierner Vorhang schwerfällig von seinen Augen zurück. Die Pupillen nahmen Licht auf - rotes Licht mit weißen Streifen, das gegen eine bräunliche Decke über seinem Kopf verlief.

Eine schmale braune Hand schwebte vor seinen Augen.

Dann fiel der Vorhang wieder.

Irgendwann sah er wieder eine bräunliche Decke über sich. Sie war gewölbt und bestand aus schmalen Brettern, die schon längst die Lasur verloren hatten. Dann schob sich eine Tür hoch, die in der oberen Hälfte verglast war. Ein kleiner, rotweißgestreifter Vorhang verdeckte das Glas. Rechts und links standen nahe Wände, als befände er sich in einer Zelle. Es roch sonderbar nach Dingen, die er seit seiner Jugend nicht mehr gerochen hatte.

Durch seinen Kopf wehten Schleier wie Nebelfahnen. Von seinem Körper spürte er nichts. Irgendwo dröhnte ein schwerer Schlag. Das konnte sein Herz sein.

Der bleierne Vorhang schob sich wieder über seine Augen. Wieder Licht!

Ein Gesicht war vor seinen Augen, ein schmales, braunes Gesicht mit großen, grauen Augen.

Ein Arm lag um seinen Nacken und drückte seinen Kopf vorsichtig hoch. An seiner Wange rieb sich Stoff. Eine Hand schwebte durch die Luft und brachte einen Löffel heran. Eine würzig riechende Flüssigkeit lief in seinen Mund hinein, so dass er schlucken musste. Hand und Löffel verschwanden und kamen wieder.

Schmerzen zuckten durch seinen Körper.

Der Vorhang fiel.

Irgendwann wurde es wieder hell vor seinen Augen. Die dicken Schleier wehten nicht mehr durch seinen Kopf. Die Lider waren nicht mehr schwer wie Blei. Er spürte seinen Körper, wenn auch noch seltsam dumpf und fremdartig. Er wusste, dass er lebte. Darüber hinaus blieb jedoch alles abgeriegelt.

Er war allein. Er befand sich in einem Wohnwagen, in einem sehr alten Wohnwagen, der auch ein verbrauchter Zirkuswagen sein konnte. Er lag auf einem schmalen Bett. Dicht daneben, nur durch einen schmalen Gang getrennt, war ein zweites Bett, das schon zur anderen Wand gehörte. Zwischen beiden befand sich eine schmale Tür mit dem rotweißen Vorhang. Rechts und links von ihr waren über den Fußenden der Betten Bretter angebracht, auf denen Bücher, Flaschen und nochmals Bücher standen. Was sich hinter seinem Kopf befand, konnte er nicht wahrnehmen. Ein einsetzender Schmerz warnte ihn, sich zu bewegen.

Der Wagen rollte. Er besaß Gummiräder und rollte langsam, als wollte er das Stoßen der Straße vermeiden.

In Kopfrichtung knarrte und klapperte ein Auto. Nach seinem Schnaufen und Kreischen musste es schon Jahrzehnte hinter sich haben.

Sein Bewusstsein versank und kam wieder zurück. Der Wagen stand. Ein kräftiger Geruch von Essen hüllte ihn ein. Er hatte plötzlich einen wilden, gierigen Hunger. Hinter seinem Kopf bewegte sich jemand. Geschirr klapperte. Von draußen kamen Geräusche und Stimmen. Eine sonore, leicht heisere Stimme, die er irgendwann schon einmal gehört hatte, hob sich heraus.

»Felbys Patentmedizin, Leute! Das Beste, was es gibt! Reine Naturkraft! Wer krank ist, braucht sie, um gesund zu werden, und wer gesund ist, braucht sie, um es zu bleiben. Felbys Heilsäfte, Herrschaften, gut gegen ...« Die Welt verschwamm abermals. Und dann wurde er eines Tages wach, als käme er aus einem tiefen Schlaf wieder an die Oberfläche.

Dicht vor ihm saß auf der Bettkante ein alter, knochiger Mann mit gefurchtem Gesicht und grauem, strähnigem Haar, das ewige Zeiten hindurch nicht geschnitten worden war. Es war ein ernstes, starkes Gesicht mit ruhigen, forschenden Augen, aber die Falten um die Augen herum versprachen innere Heiterkeit.

Hinter diesem alten Mann stand vor dem rotweiß gestreiften Vorhang ein junges Mädchen in einem einfachen, verwaschenen Kleid, das schon zu knapp für ihre schlanke Gestalt und ihre Brust war. Aus ihrem sonnengebräunten Gesicht leuchteten graue Augen heraus. Ihr helles Haar wurde durch eine blasse Schleife zu einem Pferdeschwanz zusammengehalten. Sie sah sehr jung aus. »Na also«, sagte der Mann auf der Bettkante mit sonorer, etwas heiserer Stimme. »Sie haben es doch noch geschafft. Jetzt noch einige, Wochen Schonung, dann sind Sie wieder wie neu. Bleiben Sie schön ruhig liegen. Sie sind natürlich neugierig. Am besten wird es sein, wenn ich Ihnen gleich alles erzähle. Oder nicht?«

Vernon Kane riss seine Lippen auseinander. Er hatte den Eindruck, dass er viel Kraft dazu brauchte. Sie bewegten sich wie in Scharnieren, die lange nicht geölt worden waren. Die raue Stimme, die sich aus seinem Kehlkopf herausquälte, hatte er auch noch nie gehört.

»Wer - wer sind Sie?«

»Zunächst eine Gegenfrage. Wer sind Sie? Ich weiß es zwar aus Ihren Papieren, aber wissen Sie es?«

Er hatte es nicht mehr gewusst. Jetzt plötzlich drehten sich Räder in seinem Kopf. Schubladen glitten mühsam auf und zu. Wie war das eigentlich? Vernon Kane? Ja, natürlich, Phils Tod - Dudley Walsh - Jenny Walsh und Elinor Stuart - zwei Männer, die ihn um bringen wollten - der Sprung gegen die Pistole ...

»Sie erinnern sich«, stellte der alte Mann fest. »Sehr erfreulich. Also, ich heiße Felby, Phileas Felby. Das ist meine Enkelin Carole. Wir fahren im Lande herum und verkaufen Heilsäfte, die niemandem schaden, und manchem nützen. Felbys Patentmedizin. Ein Quacksalber!«

Er lächelte dabei, als belustige er sich über sich selbst. Auf dem Gesicht des Mädchens erschien ein Abglanz seines Lächelns.

»Nur im Sommer«, sagte sie melodisch. »Im Winter plagt er sich als Universitätsprofessor mit seinen Studenten.

Diese langen Semesterferien bringen manche auf eigenartige Einfälle. Großvater versucht im Sommer wieder gutzumachen, was er im Winter durch die Ausbildung von Medizinern verbricht.«

»Naseweis!«, brummte Felby liebevoll.

»Sie sind zwar für zukünftige Lebenskämpfe noch nicht richtig in Form, aber ich will Sie trotzdem schon jetzt warnen. Dieses Mädchen Carole ist ein impertinentes junges Ding. Sie sind von ihr hochgepäppelt worden, und es wird Ihnen nicht leicht fallen, sie davon zu überzeugen, dass Sie mehr als eine groß geratene Puppe sind. Frauen sehen uns nicht ungern hilflos, und möglicherweise halten sie das sogar für einen natürlichen Zustand.«

»Ein Wort über mütterliche Instinkte wäre jetzt angebracht«, lächelte sie. »Du kannst es getrost riskieren. Der Patient schläft ohnehin gleich wieder ein.«

»Da haben Sie es«, murrte Felby heiter. »Die sanfte Peitsche! Der Patient schläft ohnehin gleich wieder ein! Die tägliche Visite ist die größte Plage. Aber woher soll unsereins reich werden, wenn man nicht jeden Tag an hundert Betten vorbeigeht und an jedem ein paar Dollar kassiert? Also schön, kommen wir zur Sache. Wir fanden Sie in einem Steinbruch, in dem wir die Nacht verbringen wollten. Sie kamen mit einem explodierenden Wagen herunter, wurden aber im Sturz herausgeschleudert. Es stand ziemlich schlecht um Sie. Sie waren so sehr demoliert, dass man mit Ihnen eine ganze Krankenstation hätte bedienen können. Aber immerhin - Sie lebten noch. Es war ein interessantes Experiment.«

»Phileas Felby, der Wildwestdoktor«, ergänzte Carole sanft. »Hundert Jahre zurück und fern von jedem modernen Operationssaal! Es hat ihm viel Spaß gemacht. Sie sollten ihm nachträglich Vergnügungssteuer abnehmen.«

»Boshaftes Ding!«, brummte Felby. »Sie waren einfach nicht transportfähig. Wir mussten im Steinbruch bleiben. Wir nahmen unsere Route erst wieder auf, als Sie einigermaßen über den Berg waren. Seitdem ist auch schon wieder einige Zeit vergangen. Jetzt haben Sie es geschafft. Sie sehen sogar wieder menschlich aus. Hm, eigentlich schade, dass es schon vorbei ist. Es war wirklich ein interessantes Tauziehen mit dem Tod. Der Bursche wollte Sie mir mit aller Gewalt aus den Zähnen ziehen. Ein Glück, dass Carole Sie mit genügend Blut versorgen konnte.«

»Danke!«, presste Vernon Kane heraus.

»Wie lange?«

»Zwei Monate.«

»Und - bin ich ein Krüppel?«

»Wieso? Halten Sie mich für einen Stümper? Keine Angst, ich habe schon alles wieder zusammengeflickt. Sie werden nur langsam auf die Beine kommen und ein bisschen trainieren müssen, aber dann ist alles wieder in Ordnung.«

Schleier fielen zwischen Vernon Kane und Felby. Kane hörte ihn weitersprechen, aber er nahm die Worte nicht mehr auf.

Von diesem Tag an konnte er selbst beobachten, dass es mit ihm wieder aufwärts ging. Er aß viel und schlief viel, die wachen Abschnitte wurden länger, und an manchen Tagen fühlte er sich schon gesund. Die laufenden Untersuchungen durch Felby belehrten ihn jedoch, dass er zu optimistisch war.

Seine Pflege lag völlig in den Händen Caroles. Das wurde ihm bald peinlich. Sie war nun einmal ein junges Mädchen. Sie behandelte ihn wie eine gelernte Krankenschwester, aber er brachte es nicht fertig, in ihr eine Krankenschwester zu sehen. Sie spürte es und ließ es nicht lange in der Luft hängen. In ihrer sanften, heiteren Art, hinter der sie eine starke Neigung zu strahlender Fröhlichkeit verbarg, rief sie ihn zur Ordnung.

»Sie werden sich damit abfinden müssen, dass ich Sie weiterhin pflege, Vern. Wir können nicht extra eine Krankenschwester für Sie heranholen. Und Sie sind ohnehin zu spät dran, wenn Sie sich mir gegenüber befangen fühlen wollen. Ich habe Sie von Anfang an betreut. Denken Sie sich also nichts dabei.«

»Ich weiß nicht, wovon Sie reden«, behauptete er voll Unbehagen, aber sie ging darüber hinweg.

Tatsachlich ließ sich kaum etwas ändern, solange sie ihn nicht in ein Krankenhaus brachten. Sie lebten in dem engen Wohnwagen so dicht beieinander, dass er mit jedem Atemzug vertraut wurde. Er fühlte sich fast wie ein naher Verwandter.

Phileas Felby war ein großartiger Typ, Er genoss seinen Quacksalbertrip durch abgelegene ländliche Gegenden und imitierte glänzend jene historischen Zigeuner der Medizin, die hundert Jahre früher durch den Westen getrampt waren. Trotzdem war er ein Mann, der etwas zu sagen hatte. Es war ein Genuss, sich mit ihm zu unterhalten. Er leuchtete die Menschen und Dinge von vielen Seiten an, von denen Vernon Kane sie bisher nicht gesehen hatte. Nach den Gesprächen mit ihm hatte Vernon Kane oft das Gefühl, reicher geworden zu sein. Carole behandelte ihn wie einen älteren Bruder, aber die Rechnung ging damit nicht auf. Sie war achtzehn Jahre alt, besaß einen wunderbaren Charakter und war viel zu hübsch, um sie nicht als Frau zu sehen. Eines Tages wusste er, dass er sie liebte. Er verbarg es nach besten Kräften, um ihr nicht die Unbefangenheit zu nehmen. Wie sie selbst innerlich zu ihm stand, wagte er nicht zu beurteilen. Sie verriet sich nicht, wenn er auch manchmal einen Ausdruck in ihrem Gesicht entdeckte, der mehr nach Zuneigung als nach krankenschwesterlicher Fürsorge aussah.

Er fand seine Illusionen absurd, als er sich zum ersten Mal wieder im Spiegel sah. Der Spiegel zeigte ein unbekanntes Gesicht, das nur aus tief liegenden Augen, einer scharf gewordenen Nase und einem wuchernden Vollbart bestand. Es war bestenfalls das Gesicht eines Buschräubers.

»Eines Tages werden Sie sich rasieren müssen, Vern«, lachte Carole dazu. »Wenn Sie jetzt frisch vorgerichtet auf der Straße laufen würden, könnte nicht einmal ich Sie erkennen. Ich weiß tatsächlich noch nicht, wie Sie aussehen.«

»Ohne Bart noch schlimmer«, seufzte er. »Es ist grauenhaft, aber ich verstehe jetzt, warum manche Männer einen Bart tragen. Sie wollen ihre Mitmenschen schonen. Was halten Sie von einer Seemannskrause?«

»Unterstehen Sie sich.« Sie kamen sich von Tag zu Tag näher, während er von Tag zu Tag gesünder wurde, und der kleine Wohnwagen Tag und Tag hinter dem klapprigen Auto herrollte.

Sie liebten sich. Die Wand zwischen ihnen wurde immer dünner und war bald nicht mehr als ein Seidenpapier, das ein zufälliger Windstoß wegwehen konnte.

*



UND DANN GAB ES EINES Tages einen fürchterlichen Anprall, der Vernon Kane aus dem Bett warf. Er sah eine zersplitternde Wand auf sich zukommen, und dann war es aus.

Als er wieder erwachte, lag er in einem weißen Krankenbett in einem weißen Krankenzimmer, und an seinem Bett stand eine weiße Krankenschwester.

Dann bestand seine Welt nur noch aus weißen Schatten.

Als er zu klarem Bewusstsein zurückkam, saß ein weiß gekleideter Arzt an seinem Bett, ein jüngerer Mann mit einem freundlichen Gesicht.

»Sie wurden vor zwei Wochen eingeliefert«, erklärte er nach dem üblichen Hin und Her. »Von der Polizei. Sie befinden sich in unserem Bezirkskrankenhaus. Ein Verkehrunfall.«

Eisige Kälte fror die Reste der Betäubung zusammen.

»Die Felbys?«

»Ihre Leute, nicht wahr?«, tastete der Arzt. »Nun, ich hoffe, dass Sie eine schlechte Nachricht vertragen können.«

Vernon Kane wagte kaum mehr zu atmen.

»Tot?«

»Der alte Mann, Phileas Felby, hieß er wohl. Das Mädchen ist mit ein paar Kratzern davongekommen.«

»Carole?«, flüsterte Vernon Kane so erleichtert, als wäre er plötzlich unter ein Sauerstoffzelt geraten.

»Ja, Carole Felby. Eine Verwandte von Ihnen?«

»Wo ist sie?«

»Das weiß ich nicht. Sie hat ihren Großvater begraben und sich einige Tage hier im Krankenhaus aufgehalten. Sie war in Sorge um Sie. Dann hat sie jedoch Geld hinterlegt und ist abgereist.«

»Wohin?«

»Sie hat nichts hinterlassen. Soweit ich unterrichtet bin, wollte sie zurückkommen.«

Das war für den Augenblick eine Hoffnung. Sie erfüllte sich jedoch nicht. Carole kam nicht zurück.

*



VERNON KANE WURDE IM Laufe der nächsten Wochen so weit gesund, dass er aus dem Krankenhaus entlassen werden konnte. Nachdem er die Rechnungen bezahlt hatte, blieben ihm von dem Geld, das Carole hinterlegt hatte, einige hundert Dollar. Er kaufte sich davon die notwendigste Kleidung und fuhr nach Philadelphia, wo er Carole zu finden hoffte.

Er fand sie nicht. Sie hatte sich zwei Wochen aufgehalten und alles geregelt, was der Todesfall mit sich gebracht hatte. Dann war sie wieder abgereist. Sie hatte bei den Nachbarn wie bei ihrem Anwalt die Anschrift des Krankenhauses hinterlassen.

Sie hatte aus unbekannten Gründen ihr Ziel nicht erreicht.

Vernon Kane machte sich auf die Suche nach ihr. Er schonte weder die Telegramme noch die Telefonate, weder die Polizei noch die Bekannten der Felbys, aber seine Bemühungen blieben erfolglos.

Carole Felby blieb verschwunden.

Er wurde fast verrückt darüber. Es nützte ihm nichts. Er verbrauchte Caroles Geld, sein eigenes und alles, was er auftreiben konnte. Eines Tages wurde ihm bewusst, dass er keinen Dollar mehr in der Tasche hatte, dass er seit Tagen hungerte und dass er bereits so vernachlässigt aussah, dass die Frauen bei seinem Anblick den Abtreter hereinnahmen. Was immer auch mit Carole geschehen sein mochte - er besaß nicht einmal mehr das Geld für ein Briefporto, und wenn er so weitermachte, würde er bald als Tramp im Straßengraben liegen.

Dazu aber hatten ihn die Felbys nicht dem Tod aus den Zähnen gezogen, und damit würde Carole bestimmt nicht einverstanden sein. Er war es ihnen schuldig, nicht zu verkommen. Er musste sich zusammenreißen.

Er musste wieder arbeiten.

*



DER GRAVISCOOTER HING wie angenagelt im Titanfeld, alle Aggregate auf Neutralisation geschaltet, ein Punkt im Raum über dem fahlen Schattenriss des Titan und unter der geisterhaft drohenden Mächtigkeit des Saturns. Die Sonne war weit, und die Erde noch weiter. Ringsum lauerte das schwarze, eisige Grauen des Raumes.

Im Steuerraum war es kaum anders - nur wesentlich geräumiger - als im Pilotenraum eines irdischen Flugzeuges. Das Licht brannte, die Instrumente meldeten keinen Alarm, Heizung und Luft arbeiteten ohne Unruhe. Die kleine Welt reichte bestenfalls bis zur Außenhaut und bot alles, was das lebende Geschöpf verlangte. Was die Bildschirme zeigten, nachdem die Halbleiter-Elektronik die schwachen Lichtreize aufgenommen und mit gezielten Elektronen-Orkanen in den Photonen-Vervielfachern ungeheuerlich verstärkt und wieder in Licht verwandelt hatte, gehörte bereits zu ihr. Es stand wie ein Fernsehbild vor den Augen, als gäbe es die großen Entfernungen und das drohende Nichts dort draußen überhaupt nicht.

»Pechvogel!«, murmelte Biggy mit dem Behagen eines Mannes, der sich am häuslichen Kamin Geschichten erzählen lässt. »Manche Leute steigen eben schon gleich aus der Wiege mit dem falschen Bein heraus. Ein bisschen viel für diesen Vernon Kane? Ist das nun eigentlich eine ›Wahre Geschichte‹, wie sie in den Büchern steht, oder ist sie wirklich wahr?«

»Wirklich wahr.«

»Hm, so viel Ungereimtheit gibt es aber nur im Märchen, nicht? Kane hätte das Angebot für den Titan annehmen sollen. Jetzt schleicht er als Landstreicher durch die Gegend und nährt sich von seinen eigenen Fingernägeln, anstatt auf dem Titan eine große Rolle zu spielen. Im wirklichen Leben passiert so etwas überhaupt nicht. Ich wäre jedenfalls mit Pauken und Trompeten zum Titan gegangen.«

»Ja du!«, sagte Mark Tolins unschuldig. »Du musst dir eben einmal vorstellen, dass Vernon Kane kein Dummkopf war.«

Biggy überlegt sich das misstrauisch und fand schließlich Grund genug, sich drohend zu räuspern, aber dann fing ihn Mark Tolins ab.

»Vernon Kane wusste, warum er sein eigener Herr bleiben wollte, Biggy. Er besaß den Instinkt für die Zukunft. Die Episode der physikalischen Knalleffekte, die sich bis zu Kernbomben gesteigert hat, ist praktisch vorbei. Jetzt beginnt das elektronische Zeitalter, und es ist so wenig ohne Halbleiter denkbar wie dieses Raumschiff, in dem wir uns befinden. Die ganze Atomforschung war zwar notwendig und lehrreich, hat aber doch in eine Sackgasse geführt. Die Physik muss wieder neu und mit ganz anderen Ansätzen anfangen.«

»Verstehe ich nicht«, murrte Biggy.

»Versuche es mal«, ermunterte Mark Tolins. »So schwer ist es nun auch wieder nicht. Die Naturwissenschaft möchte die Geheimnisse und Tricks der Natur kennenlernen, nicht wahr? Was sind das für Geheimnisse und Tricks? Sie demonstriert in jedem Augenblick allein schon auf der Erde gewaltige Kräfte und riesige Energieumsätze. Trilliarden und aber Trilliarden von Pflanzen oder Tieren wachsen und existieren und verbrauchen laufend unvorstellbare Energiebeträge. Wie schafft die Natur das? Wirft sie mit Kernbomben um sich?«

»Hm?«

»Eben. Nimm eine einzelne Pflanze. Sie entwickelt sich aus einem Samenkorn. Sie wächst von Tag zu Tag, sie wird hundertmal oder tausendmal größer als der Same, aus dem sie kommt. Wie schafft sie das? Und jede einzelne von Trillionen Zellen in ihr ist Materie, also nichts als strukturierte und gebundene Energie, gewissermaßen eingefrorene Energie, die man notfalls wieder in freie Energie zurückverwandeln kann. Woher kommt diese Energie und dank welcher Methoden wurde sie materialisiert? Natürlich, die Sonne, die Luft, Erde oder Wasser sind direkte oder indirekte Lieferanten, aber was ist damit schon gesagt? Nichts, Biggy. Unsere gesamte Naturwissenschaft kann bis heute nicht erklären, wie auch nur eine einige Pflanzenzelle entsteht. Sicher ist, dass dabei nicht mit Wasserstoffbomben oder Neutronenbomben geworfen wird, sondern dass die Natur mit gänzlich anderen Methoden und Mitteln arbeitet, mit feinen, zarten, unauffälligen und überwältigend eleganten Methoden, von denen wir bisher kaum etwas ahnen. Sicher ist auch, dass die Halbleiter-Forschung dichter an sie heranführt als eine robuste und blindwütige Kernforschung mit Betatronen, Synchrotonen oder Kosmotronen, mit Energieschlägen von Milliarden Elektronenvolt und dem ganzen üblichen Aufwand, der nicht der Forschung, sondern der Bombe dient. Während sich die hysterisch gewordene Physik den Kopf in ihrer selbst geschaffenen Sackgasse einrennt, breitet die Natur ihre wahren Geheimnisse und Tricks schon am geringsten Unkraut wie in einem Schaufenster aus, und vielleicht weint sie dabei über ihre begabtesten Kinder, die sie einweihen wollte, die es aber vorziehen, mit Bomben zu spielen und sich zerreißen zu lassen. Verstehst du, was ich sagen will?«

»Dir zuliebe«, grinste Biggy. »Du meinst, Kane hat etwas davon gewittert?«

»Ich vermute es. Er hatte zwar schon die Universität hinter sich, aber er war noch jung genug, um gelegentlich noch selbständig zu denken. So schwer ist es ja nun auch wieder nicht, zu entdecken, dass die Naturwissenschaft mit ihrem ganzen Pomp noch nicht viel über die Natur weiß. Vielleicht sah Kane aber auch nur die handgreiflichen technischen Möglichkeiten? Ich weiß es nicht.«

»Ist ja auch egal«, tröstete Biggy. »Vorläufig trampt er immer noch herum und holt sich sein Mittagessen bei der Heilsarmee. Wie ist er denn wieder auf die Beine gekommen?«

Mark Tolins setzte seinen Bericht fort.


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