Читать книгу Science Fiction Dreierband 3004 - Drei Romane in einem Band! - W. W. Shols - Страница 10
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Оглавление„Aufhängen?“, sagte Harry Mint. „Das wirst du schon deshalb nicht tun, weil es zu banal ist. Mit Selbstmord machst du keine Schlagzeilen. Nur ’ne kleine Notiz am Rande, die schon vergessen ist, bevor sie dich in die Grube stecken. Du und aufhängen? Nee ...“
„Ich habe ein Gewehr zu Hause“, unterbrach ihn Bolton Yates. „Ich könnte aufs Dach der Uni steigen und euch einzeln erledigen. So zufällig, wie ihr gerade daherkommt.“
„Das hatten wir schon.“ Harry winkte gelangweilt ab. Bolton Yates schien es nicht zu hören und spann seinen Faden weiter.
„Wenn es der Zufall will, bist du sogar dabei. Von da oben seid ihr alle nichts als kleine schwarze Ameisen.“ Harry blieb ruhig, obwohl er wusste, dass der Freund sehr bald eine klare Entscheidung treffen würde. Irgendetwas würde Bolton Yates in den nächsten Stunden tun. Irgendetwas, das ihn befreite.
Der Keeper füllte ihre leeren Whiskygläser.
„Cheers, Junge!“, sagte Harry.
Auch Bolton griff nach seinem Glas, nahm es aber nicht vom Tisch.
„Warum trinkst du nicht?“, fragte Harry.
„Ich frage mich, ob du Angst hast. Ob du dich retten willst.“
„Blödsinn! Wovor sollte ich mich retten?“
„Vor meiner Kugel. Du denkst, ich werde nicht schießen, hm?“
„Du wirst nicht mal aufs Dach steigen, und schon gar nicht mit einem Gewehr. Du hast in den letzten Tagen schon mehrere Pläne verworfen. Warum solltest du gerade diesen ausführen?“
„Weil er mich am meisten reizt. Weil er bisher der sinnloseste ist.“
„Hm, sinnlos soll er also sein? Nur, weil du unheilbar an Krebs erkrankt bist? Weil dein hoffnungsloser Zustand selbst so sinnlos ist? - Ich muss sagen, dahinter steckt Methode.“
„Methodik war schon immer meine Stärke. Was dagegen, wenn ich bis zum letzten Atemzug dabei bleibe?“
Er nahm hektisch das Glas und kippte den puren Whisky mit einem Schluck hinunter. Dann stand er auf.
„Wohin gehst du?“, fragte Harry Mint.
Yates zuckte die Schultern. „Irgendwohin ...“
„Ich komme mit!“
Bolton drehte den Kopf zur Seite.
„Hast wohl Spaß daran, mich bis zum Ende zu studieren, was?“
„Ich bin sicher, dass es nicht spaßig wird. Aber hast du mehr davon, wenn du allein bist?“, fragte Harry brutal.
Bolton zuckte zusammen. Er hatte dem Freund oft genug gebeichtet, dass die Nachtstunde die schlimmsten waren. „Ich werde nicht allein sein“, log er. „Es gibt noch mehr Freunde außer dir.“
Harry wusste, dass Bolton Yates keine Freunde mehr hatte außer ihm. Bolton war von Tag zu Tag gereizter geworden. Bis zur Unerträglichkeit.
„Okay.“ Harry nickte. „Dann bis später!“ Er ließ den Freund gehen, rechnete mit dessen Geld ab und ging zwei Minuten später. Er fand ihn im Park - nach einer halben Stunde. Er setzte sich schweigend neben den Freund.
„Hat lange gedauert, bis du mich gefunden hast“, sagte Yates.
„Irrtum, Junge. Ich war noch mal zu Hause. Habe dir was mitgebracht.“
„Darf ich raten? - Eine Pistole. Ich soll mich erschießen, hm?“
„Du sagtest, du hättest selbst ein Gewehr. Warum Eulen nach Athen tragen?“
„Eine Pistole wäre aber nicht schlecht gewesen. Was hast du also mitgebracht?“
„Kennst du Professor Mervin?“
„Nie gehört.“
Harry Mint zog einen Zeitungsausschnitt aus der Tasche und leuchtete mit der Taschenlampe auf einen rot angekreuzten Artikel.
Bolton Yates las ihn. Er las ihn dreimal. Schließlich ließ er das Blatt sinken und sagte: „Ein alter Hut, diese Idee ... Einfrieren ... Mein Gott, aber in der Praxis in unserem Jahrhundert wohl kaum durchführbar.“
„Es wäre deine einzige Chance“, sagte Harry hartnäckig.
„Die ersten Versuchstiere sterben meistens ...“
„Die ersten sind längst tot. Und es waren wirklich Tiere. Wenn Mervin jetzt so massiv in die Öffentlichkeit geht, muss schon was dahinterstecken. Er hat als Wissenschaftler immerhin einen Ruf zu verlieren.“
„Er seinen Ruf und ich mein Leben“, sagte Bolton bissig. Der Freund war nicht zimperlich mit der Antwort.
„Bei einer Hibernation wärest du nur der Gewinner. Wenn du die Chance in den Wind schlägst, dann weißt du ja, wie deine Aussichten sind. Ein Risiko gehst du so und so ein, aber wie gut ist alles andere gegen die hundert Prozent deiner unheilbaren Krankheit?“
„So gut wie ein Jahrmarkt, denke ich. Wie bei den Fakiren und Hypnotiseuren.“
„Professor Mervin ist kein Gaukler, wenn du das meist.“
„Kriegst du Prozente von ihm?“ Harry Mint lief rot an. Dann sagte er wütend: „Hast du schon mal deine Freunde gezählt? Ich denke, das hast du. Du wirst nämlich schnell damit fertig. Wenn du mich mit deinem Zynismus auch noch losgeworden bist, hast du wahrscheinlich keinen mehr.“
„Jetzt kommt das Hohelied von der Freundschaft. Sing nur, alter Knabe! Vielleicht hilft es dir bei deinem kleinen Kummer. Bei meinem nicht.“
„Bolton, wenn du dreißig oder vierzig Jahre wartest, ist der Krebs bestimmt heilbar. Wir hätten vielleicht noch eine Chance, uns einmal wiederzusehen. Irgendwann einmal, wenn ich alt geworden bin.“
„Hör auf!“, schrie Bolton Yates plötzlich. „Hör auf, Harry!“ Sein Zynismus war wie weggewischt. Er zitterte, und der Freund spürte, dass die Angst dahintersteckte.
Harry Mint und Bolton Yates gingen dann etwas später mit nichtssagenden Worten auseinander. Jeder hatte das Gefühl, ihr Gespräch sei verfahren. So verfahren, dass es keinen Sinn mehr hatte, noch ein einziges Wort hinzuzufügen.
Harry Mint konnte lange nicht ein schlafen. Die Dämonie dieser letzten Stunden mit Bolton ließen ihn nicht zur Ruhe kommen. Er gab nicht Bolton die Schuld. Lieber suchte er sie bei sich selbst. Aber auch das erklärte nichts.
Am nächsten Morgen ging Harry Mint ins Kolleg und saß mit tauben Ohren dabei. Mittags schlang er eine Linsensuppe in der Mensa herunter und ging auf die Straße. Nach Bolton hatte ihn keiner gefragt, obwohl einige der Kommilitonen zu ihm herübergestarrt hatten. Yates und Mint waren in den letzten Tagen ein Gespann für sich gewesen, ein so schwieriges, dass man ihm am besten aus dem Wege ging.
Und heute war Bolton Yates nicht erschienen ...
Harry begab sich in Boltons Wohnung. Die Wirtin war freundlich, aber sie wusste nicht, wo ihr Untermieter war. Sie hatte ihn seit gestern nicht gesehen. Und sein Bett war unberührt.
Harry fand ein paar lapidare Worte und ergriff die Flucht. Auf der Polizei bekam er nur vage Angaben. Auch dort begriff man sein Problem nur am Rande.
Er ging ins Leichenschauhaus. Dort war der Vorrat nach Geschlechtern eingeteilt. Das halbierte das Problem. Ja, man hatte einen Neuzugang aus der letzten Nacht. Der Mann war nicht unter siebzig, und es fehlten ihm zwei Finger an der linken Hand.
„Ein Finale aus der Bowery“, sagte der Mann im weißen Kittel lakonisch. „Es kann Ihrer nicht sein, nach Ihren Angaben.“
Nein, er konnte es nicht sein. Er war es nicht. Harry Mint verschwand aus dem Haus, das nicht aus seiner Welt stammte. Er ging auf den Campus, rannte wie ein gehetztes Wild zwischen den Gebäuden herum und starrte nach oben in den Himmel. Auf die Dächer. Auf die Dächer, wo ein Mann mit einer Winchester liegen wollte, um die Hölle zusammenzuschießen.
Niemand schoss von den Dächern.
Harry Mints Aktionen wurden konfuser. Er rannte nur noch, um Bolton zu finden. Bolton war verschwunden, nicht zu Hause, nicht in der Uni, nicht ...
An einem Eingang zur U-Bahn blieb er hängen, an den Auslagen eines Kiosks. Er starrte auf die Schlagzeilen. Intensiv und zu lange. „He, junger Mann!“, rief der Verkäufer. „Die Überschriften kennen Sie jetzt wohl auswendig. Bei mir können Sie aber keine Nachrichten riechen, da müssen Sie schon Zeitungen kaufen.“
Harry Mint spendierte drei Dollar und erhielt die aktuellen Nachrichten. Nachdem er sie überflogen hatte, wusste er, dass Boltons Schicksal in der Öffentlichkeit noch nicht bekannt war.
Es gab nicht mal einen Bolton Yates, den man vermissen konnte.
Das Leben ging weiter, und niemand fragte nach Bolton Yates.
Harry Mint war auf dem Nachhauseweg, als er sich erinnerte, dass Mervins Haus auf seinem Weg lag. Er kannte Mervin nicht. Aber Mervin war stadtbekannt ...
Die Uhr ging auf Mitternacht.
Es brannte Licht hinter zwei Fenstern. Harry drückte die Klingel. Beim Geräusch des Türlautsprechers zuckte Harry leicht zusammen. Immerhin war es Mitternacht, und er besaß nicht die geringste Referenz, die ihn für einen Besuch bei Professor Mervin hätte legitimieren können. Schon gar nicht um diese Tageszeit. Er war auf eine Frage gefasst, die er kaum beantworten konnte. Er war sicher, dass er nur stottern würde, dass alles kein Sinn hatte. Am liebsten wäre er gleich wieder weggelaufen. Doch dann blieb er stehen.
„Sind Sie es, Mr. Mint?“, fragte eine männliche Stimme mit einem angenehmen Timbre.
„Ja, Sir!“, hörte Harry sich sagen und wurde aufgefordert, einzutreten. Die Tür schnappte auf. Seine Knie zitterten, aber er ging hinein und die drei Stufen im Foyer hinauf. Professor Mervin empfing ihn persönlich.
„Ich wollte ... Ich verstehe nicht, Sir.“
„Kommen Sir, Mr. Mint! Ich bin Professor Mervin. Mr. Yates hat mir Ihr Bild gezeigt, und ich habe Sie durch den optischen Spion erkannt. Sie brauchen sich nicht zu wundern.“
„Ich sah noch Licht bei Ihnen, Professor. Wieso hat Mr. Yates, ich meine Bolton, Ihnen mein Bild gezeigt? Kennen Sie meinen Freund?“ Mervins stumme Geste forderte ihn auf, weiterzukommen. Harry trat in einen Raum, in dem dunkler Palisander in moderner Form den Charakter bestimmte.
„Ja, Mr. Mint. Ich kenne Ihren Freund. Und Sie sind nicht zufällig hier. Bitte, nehmen Sie Platz. Ich habe mir für dieses Gespräch Zeit genommen.“
Mervin deutete auf einen Sessel nahe beim Kamin. Harry Mint rutschte hinein wie eine Marionette.
„Danke, Professor. Bolton war also hier? Ich hatte ihm von Ihnen erzählt. Ihre Hibernationsversuche schienen mir die einzige Chance für ihn zu sein.“
„Es sind keine Versuche mehr, Mr. Mint. Sie können es getrost als Therapie bezeichnen. Meine Experimente mit Mäusen und Hunden sind längst abgeschlossen.“
„Natürlich, Professor. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Wo finde ich ihn jetzt? Er war nicht zu Hause, nicht in der Universität..
Professor Mervin lächelte väterlich.
„Wie soll ich Ihre Frage verstehen, Mr. Mint? Sie haben mich Ihrem Freund empfohlen und sind ja schließlich auch selbst zu mir gekommen. Mr. Yates befindet sich in meinem Labor.“
„Okay“, sagte Harry Mint beruhigt. Er warf einen Blick auf seine Digitaluhr. „Es ist jetzt eine ungehörige Zeit. Darf ich morgen früh zu Ihnen ins Labor kommen? Ich möchte Bolton noch einmal kurz sprechen. Sie verstehen, wenn er einige Jahre ... Ich meine, er und ich - wir werden uns wahrscheinlich nie mehr wiedersehen ...“
Harry Mint war aufgestanden. Auch Professor Mervin erhob sich aus seinem Sessel. Das leichte Lächeln war aus seinem Gesicht verschwunden. „Nein, Mr. Mint, Sie werden sich nicht mehr wiedersehen. Auf keinen Fall morgen oder übermorgen. Es gibt nur eine theoretische Chance, auch Sie lassen sich einschläfern.“
„Professor! Sie wollen doch nicht behaupten, dass Bolton bereits ..., ich meine, dass Sie ihn bereits behandeln?“
„Es ist so, Mr. Mint. Mr. Yates war absolut entschlossen, und er hat mir gesagt, dass Sie ihm das in den Kopf gesetzt haben.“
„Ja, natürlich. Aber doch nicht so plötzlich. Nicht ohne ein Wort des Abschieds.“
„Mr. Yates hatte wahrscheinlich andere Probleme, sagen wir, wichtigere Probleme als den Abschied von Ihnen. Er hatte mit Sicherheit keinen Monat mehr zu leben. Jetzt hat er den Termin verschoben. Er wird auf jeden Fall nach uns sterben. Nach mir, nach Ihnen. Wahrscheinlich nach allen, die heute leben.“
„Nach allen? Hat er sich etwa für einen Hundertjahreschlaf entschieden?“
„Er hat sich für achtzig entschlossen.“
„Auch das ist zu viel! Dreißig hätten genügt. In dreißig Jahren heilt man den Krebs wie eine Blinddarmentzündung.“
„Es sterben auch heute noch Menschen an appendizitischen Abszessen. Wir haben es zwei Stunden lang diskutiert, lieber Mint. Yates und ich. Die Entscheidung musste er allein treffen. Er meinte, achtzig Jahre wären eine angemessene Zeit.“
„Ja, natürlich, Professor“, sagte Harry Mint. Er sprach langsam und ohne Betonung. Wie in Trance. „Aber trotzdem! Wie konnte das so schnell gehen? An einem Tag? Die juristischen Formalitäten. Die operativen Vorbereitungen. Ich meine, Sie müssen seinem Körper das Blut entziehen, Sie müssen ihn auf den absoluten Nullpunkt abkühlen ...“
„Stopp, Mr. Mint!“, rief Professor Mervin. In sein ernstes Gesicht war wieder das Lächeln zurückgekehrt. „Sie haben zweifellos einiges über die künstliche Hibernation gelesen, aber offenbar nicht immer das Richtige. Freilich wird dem Körper das Blut entzogen, aber doch nur bis auf einen Rest plus einer Flüssigkeit X. Freilich wird sein Körper stark abgekühlt, aber nicht bis auf den absoluten Nullpunkt. Doch wir beide wollen in dieser Stunde kaum über solche Details diskutieren.“
„Sie werden Gründe haben, einige Forschungsergebnisse für sich behalten zu wollen“, sagte Harry Mint. „Ich bin da auch gar nicht so neugierig. Wenn ich Bolton den Rat gegeben habe, dass er zu Ihnen geht, dürfen Sie daraus folgern, dass ich Vertrauen zu Ihrem Ruf als Wissenschaftler und Praktiker habe. Aber wie steht es mit der rechtlichen Seite? Dürfen Sie diese Hibernation überhaupt durchführen?“
„Lieber Mint! Sie wissen aus den letzten Monaten, dass sich nicht nur Journalisten und die politische Öffentlichkeit um das Problem gekümmert haben. Sie alle haben es auch zerredet. Theologen, Philosophen, Politiker, Juristen. Mit den Juristen bin ich noch am schnellsten fertig geworden. Für diesen Fall haben wir uns gegenseitig schnell abgesichert. Ich meine Ihren Freund Yates und mich. Wir haben das Protokoll des Notars, der als Zeuge anwesend war, für jeden von uns dreifach kopieren lassen. Das gilt einmal für Yates’ freie Willensentscheidung und zum anderen auch für die geplanten achtzig Jahre. Ich kann Ihnen das Dokument zeigen, wenn Sie wollen.“
„Ja, bitte.“
Mervin ging zum Schreibtisch und brachte das Papier. Harry las es und gab es zurück.
„Meinen Sie, dass es klappt, Professor?“
„Ich bin davon überzeugt.“
„Danke, Professor. Hat er Ihnen noch etwas gesagt? Ich meine, als er wegging aus dieser Welt ...“
„Aber natürlich. Er hat gesagt, dass ich Ihnen Grüße bestellen soll. Er hat mir gesagt, dass er niemals einen besseren Freund gehabt hat als Sie. Und er hat mir gesagt, Sie würden ihm das verzeihen.“
Harry Mint ging hinaus auf die Straße und weiter in südlicher Richtung, ohne ein Ziel zu kennen.
Er sah das Neonlicht einer U-Bahnstation und bewegte sich automatisch darauf zu. Der Zug würde ihn irgendwohin bringen. Irgendwohin und weg von hier.
Achtzig Jahre will er schlafen ...
In achtzig Jahren ist der Krebs nicht schwieriger als ein Appendix. Doch für die nächsten achtzig Jahre gab es keinen Bolton Yates. Für diese Zeit war er so gut wie tot, aber er hatte eine Zukunft wie kein anderer Krebskranker gewonnen - fast schon das ewige Leben ...
Und Harry Mint war übrig geblieben wie ein Rest, wie etwas Unnützes. Er sah das Licht der U-Bahnstation und nicht das Auto, das seinen Weg kreuzte.
Harry Mint war auf der Stelle tot.