Читать книгу Science Fiction Dreierband 3004 - Drei Romane in einem Band! - W. W. Shols - Страница 16
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Оглавление„... ich schlafe nicht mehr als fünf Stunden in der Nacht. Ich habe ein paar Berufe. Manche bringen rein gar nichts ein, aber ich übe sie trotzdem aus. Vielleicht verstehen Sie, was ich meine, Mr. Yates.“
„Ich verstehe schon“, sagte Bolton Yates. „Sie sind ein Idealist. Oder wenigstens ein Mann mit geistreichen Hobbies. Ich kenne das von früher. Hobbies können einen auffressen.“
„Hobbies und das intensive Leben“, sagte der weißhaarige Alte. „Alles ist relativ. Ich habe schneller gelebt als die meisten. Sie sind natürlich kein Maßstab dafür, Yates.“
„Klar, ich bin noch jung. Ich habe lange geschlafen. Mehr steckt nicht dahinter. Schon das macht alles relativ. Mit Respekt, Sie sind ein alter Mann für mich, aber nach dem Geburtsjahr könnte ich Ihr Urururgroßvater sein.“
„Natürlich, und trotzdem sind Sie das Greenhorn.“
„Macht nichts, Mr. Herberts. Wenn Sie Dozent für Geschichte wären - ich könnte Ihnen manches aus meiner Zeit verdeutlichen. Wahrscheinlich besser als Ihre Schulbücher.“
„Das wäre nicht schlecht.“
„Es wäre Zeitverschwendung. Ich brauche keinen Lehrstuhl. Ich muss selbst lernen. Ich habe mir früher das nie so recht vor Augen geführt, was es heißt, seine Zeit zu verlassen.“
„Unsinn! Ich habe es Ihnen hundertmal gesagt. Fragen Sie mich, wenn Sie Schwierigkeiten oder Zweifel haben.“
„Danke, Mr. Herberts. Sie haben mir in diesen drei Wochen sehr geholfen. Ich glaube, ich könnte hier in Ihrer Zeit einen neuen Anfang machen. Ich möchte gern bleiben. Es hat keinen Sinn, sich immer wieder einfrieren zu lassen. Ich meine, wenn man gesund ist. Und jetzt bin ich gesund! Ich hatte Krebs, eine lächerliche antike Krankheit. Heute spricht keiner mehr davon. Ich habe erreicht, was ich wollte. Ich bin vierundzwanzig Jahre alt. Aber wenn ich auf die Straße gehe, bin ich hilflos wie ein Kind. Ich brauche Sie, Mr. Herberts.“
„Sie haben mich gefunden, ich habe Sie gefunden. Ich glaube, wir zwei passen schon ganz gut zusammen. Ich werde Sie an die Hand nehmen, Yates. Immerhin sind Sie eine Berühmtheit. Mit Ihnen könnte auch ich es werden, als Ihr Manager sozusagen.“
„Hallo, das klingt aber sehr egoistisch.“
„Ich bin ein Egoist. Egoismus ist doch das Ehrlichste, was man von einem Menschen verlangen kann, oder?“
„Jetzt reden Sie wie einer, der einen Orden für Aufrichtigkeit erstrebt. Aber ich brauche einen absolut ehrlichen Freund, Mr. Herberts.“
„Einen ehrlicheren als mich werden Sie hier auch nicht finden“, entgegnete Herberts und hob das halbvolle Weinglas.
In dem Augenblick schoss ein Schatten über die Veranda, den Yates früher registrierte als der alte, weißhaarige Mann. Yates stieß zuerst die Beine von sich. Damit traf er den Tisch, der gegen Herberts’ Bauch kippte und ihn mitriss. Zwischen ihnen stand eine Art Geschoss. Aber es war kein Geschoss, wie Yates es aus seiner Erfahrungswelt kannte. Es war eine materielose Verbindung zwischen Start und Ziel, die für den Bruchteil einer Sekunde existierte. Wie der Strahl einer Bogenlampe. Ein heller Schein. Die Andeutung einer tödlichen Gefahr.
Yates warf sich zu Boden, stieß sich ab und stellte im nächsten Augenblick fest, dass die Betonplatte hinter ihm zu einer gallertartigen Masse verschmolz.
Der Schatten war sein Feind.
Yates war so gescheit, nicht den Versuch zu machen, in diesen Sekunden ein Jahrhundert zu erforschen, das er versäumt hatte. Sicherlich galten auch heute noch die alten Gesetze: Man schlug zurück, wenn man geschlagen wurde.
Er rollte zur Seite. Der helle Strahl folgte ihm. Ein Tisch und zwei Stühle brachen über ihm zusammen, wurden reine Energie.
Er lebte noch, spürte jedoch zugleich, dass die Praxis des Zurückschlagens kaum noch realisierbar war. Zwischen Tod und Leben wünschte er sich ins zwanzigste Jahrhundert zurück.
Wieder sah er den Schatten hinter der Lichtquelle, die für einen Augenblick erlosch. Neben ihm stöhnte Herberts. Er lebte noch. Doch der Laserstrahl konnte jeden Augenblick wieder da sein.
Herberts lag unter dem zweiten, unbeschädigten Tisch, sprang plötzlich auf, hob den Tisch auf seine Schultern und rannte auf den Fremden zu. Tisch und Mensch wirkten in der Silhouette wie ein Stier. Der alte Mann und der Tisch waren ein gesponnenes Sinnbild der Stärke. Yates wusste, dass dieses Bild nicht stimmte. Gleich musste der Strahl aufgleißen ...
„Halt!“, schrie er. „Zum Teufel, Herberts! Gehen Sie in Deckung!“
Während er seine Worte hörte, wusste Yates, dass sie so sinnlos waren wie Herberts’ Sprung mit dem Tisch.
Der fremde Schatten besaß die Gestalt eines Menschen. Er glitt mit tänzerischer Leichtigkeit zur Seite, hob die bewaffnete Hand, während Herberts mit dem Tisch über seinem gebeugten Nacken an der Wand zusammenbrach.
Die Schusshand des Schattens hob sich wie in Zeitlupe. Der gestreckte Arm zeigte genau ins Ziel. Er tat es eine halbe Sekunde zu langsam.
Im dunklen Viereck der offenen Tür stand plötzlich ein zweites Rätsel. Der Mann schrie ein unverständliches Wort, vielleicht einen Namen. Der erste Fremde fuhr herum und schoss gleichzeitig mit dem anderen. Der grelle Blitz schmerzte in den Augen. Bolton Yates kniff sie fest zusammen.
Als er dann die Augen langsam wieder öffnete, tanzten bunte Kreise davor. Nur langsam nahm der Raum wieder seine reale Gestalt an.
Der alte Herberts kroch unter seinem Tisch hervor - unversehrt. Der bedrohliche Schatten war nur noch ein geschrumpfter Rest des Menschen, den er einmal dargestellt hatte. Der andere Fremde bäumte sich kurz auf und fiel zusammen. Er wies jedoch keine äußerlichen Verwundungen auf. Sie brachten ihn ins Hospital.
Drei Tage später durfte Bolton Yates zu ihm. Er sah das fremde Gesicht nur halb. Mit der anderen Hälfte war inzwischen eine bedrohliche Veränderung vor sich gegangen. Die verbrannte Haut war von bioaktivem Verbandstoff bedeckt.
„Mein Gott“, sagte Yates erschreckt. „Er war doch vollkommen in Ordnung, als wir ihn brachten, Doktor!“
„Das glauben Sie. Ich sehe nicht zum ersten Mal ein Opfer dieser neuen Strahlwaffe. Sie tötet den Menschen auf der Stelle, aber lässt ihn scheinbar unversehrt. Zwei, drei Tage später setzt dann der Verfall ein. Als ob ein atomares Feuer den Körper von innen auffrisst.“
„Aber dieser Mann lebt noch, und Sie werden auf jeden Fall alles für ihn tun, was in Ihrer Macht steht.“
„Dafür ist bereits gesorgt“, sagte der Arzt lächelnd. „Sie brauchen sich nicht zu ereifern, Mr. Yates. Wahrscheinlich können Sie morgen schon mit ihm sprechen.“
„Warum nicht jetzt?“ Bolton Yates drehte sich um. „Hallo, Partner!“, wandte er sich an den Kranken im Bett. „Ich habe keine Ahnung, wie das alles zusammenhängt. Das werden Sie mir erklären müssen, in Ordnung?“
Der Mann im Bett sagte nichts. Er konnte nichts sagen. Unzufrieden ging Yates hinaus und wartete auf den Arzt. Inzwischen kam Herberts.
„Sie scheinen Krankenhäuser zu lieben, wie? Oder hat Sie ihr neuer Freund nicht losgelassen?“
„Der neue Freund will gar nichts von mir wissen. Den Arzt konnte ich nur kurz am Bett sprechen. Augenblick, da kommt er.“
Yates stellte sich Dr. Temm quasi in den Weg. „Noch mal zu meinem Freund auf 744, Doktor!“
„Sie brauchen sich dieses Interview gar nicht zu erkämpfen, Mr. Yates. Ich wollte Sie sowieso wegen dieses Mannes sprechen. Sie müssen mir sagen, wer er ist.“
„Diese Frage wollte ich Ihnen stellen, Doktor. Der Mann hat uns beiden das Leben gerettet, aber weder Herberts noch ich kennen ihn. Und Sie, na, Sie werden ja wohl Einsicht in seine Papiere genommen haben.“
„Mr. Yates, jetzt denken Sie bitte genau nach, bevor Sie antworten! Sie kennen diesen Mann nicht, Sie haben ihn nie zuvor im Leben gesehen, und er hat Ihnen trotzdem das Leben gerettet?“
„Wieso nicht? Meinen Sie, das eine schließt das andere aus?“
„Mr. Yates, dieser Patient hatte keinerlei Papiere bei sich. Das kommt häufig vor. Wir wenden uns in solchen Fällen an die regionale Personalkartei. Wir als Ärzte haben es da besonders einfach, indem wir die Fingerabdrücke und das Gehirnwellenmuster in den Bezirkscomputer geben. Wenn der Fehlanzeige macht, gehen wir zur Staaten-EDV. Ich aber habe vor zwei Stunden den terranischen Zentral-Computer auf den Azoren befragen lassen. Antwort: negativ!“
„Das ist doch nicht möglich!“
„Nach unserem Ermessen ist es auch nicht möglich, denn es gibt keinen Menschen auf Terra, der nicht erfasst ist.“
„Sie meinen, es darf keinen Menschen geben, der nicht erfasst ist.“
„So können Sie es auch formulieren. Ich darf Sie bitten, morgen wiederzukommen, Mr. Yates?“
„Darauf können Sie sich verlassen. Denn sobald dieser Mann reden kann, möchte ich dabei sein.“
Bolton Yates und Herberts gingen durch den Park, der das Krankenhaus meilenweit umgab.
„Interessant, dieses Zeitalter“, stellte Yates ohne Bewunderung fest. „Dazu ein wenig verwirrend. Man fragt sich täglich, ob man es besser nicht wieder verlässt.“
„Ihre Hibernationsflucht wird wohl langsam zur fixen Idee bei Ihnen wie? Ich kann Ihnen aber garantieren, das Leben wird umso verwirrender werden, je weiter Sie in die Zukunft reisen.“
„Ich glaube, das kann man nicht bestreiten. Ich frage mich, wie es weitergehen soll. Wovon ich leben werde. Mein Studium aus dem zwanzigsten Jahrhundert ist heute für die Katz.“
„Haben Sie in diesen Wochen nicht gut von Ihren Interviews gelebt?“
„Popularität schwindet schnell.“
„Schreiben Sie ein Buch. Es wird ein Bestseller werden. Mit dem Geld beteiligen Sie sich an lukrativen Unternehmungen. Zum Teufel, Yates, Sie haben ein herrliches Leben vor sich. Das können Sie sich gestalten, wie Sie wollen.“
„Gestaltet wird es von tanzenden Todesstrahlen. - Ich frage Sie, Herberts, was wollen die von mir? Was war das für ein Mann, der uns umbringen wollte? Das war kein dahergelaufener Irrer und Gelegenheitskiller. Den hat jemand geschickt. Wann wird der nächste kommen?“
„Warten Sie bis morgen. Bis unser Retter sprechen kann. Sie müssen Geduld haben, Yates. Geduld können Sie sich leisten. Sie sind jung. Ganze vierundzwanzig Jahre alt, im Gegensatz zu mir. Sehen wir uns morgen?“
„Was sonst? Wir sehen uns jeden Tag. Wird das irgendwann einmal anders werden?“
„Machen Sie mich nicht zum Propheten, Yates! Auf Wiedersehen!“
Es war abgemacht, dass sie nicht zusammen wohnten. Yates durfte nicht das Gefühl haben, unter ständiger Aufsicht zu stehen. Er musste selbständig werden in dieser neuen Zeit.
Er fuhr mit einem Fußgänger-Expressband nach Hause. In seiner Wohnung goss er sich einen leicht alkoholhaltigen Drink in ein Glas und ließ sich in den pneumatischen TV Sessel fallen. Der Fernsehschirm nahm eine volle Zimmerwand ein und reproduzierte dreidimensional. Der Schalter reagierte akustisch. Yates kommandierte: „TV an!“ Und die Anlage war aktiviert.
Gleich die erste Sendung handelte von ihm selbst. Es war eine Wochenübersicht mit den letzten aktuellen Nachrichten. Er kommandierte den zweiten, dritten und vierten Kanal und fand schließlich heraus, dass seine derzeitige Stimmung für keinerlei Fernsehunterhaltung angetan war. Er kommandierte die Zerstreuungsmaschine auf „Aus“. Danach versuchte er, etwas zu lesen. Nach einer Stunde hatte er das Gefühl, als rückten die vier Wände langsam auf ihn zu. Er ging zum Lift und ließ sich nach unten bringen. Die Nachtluft war frisch und klar.
In einer Bar fand er das gedämpfte Licht, das seiner Stimmung entsprach. Er bestellte einen Longdrink und musterte seine Umgebung. Es gab mehrere Frauen ohne Herrenbegleitung. Über die vollendete Emanzipation der Frau des Jahres 2120 hatte er bereits erfahren.
Nach einer Weile setzte quadrofonische Tanzmusik ein. Männer und Frauen forderten sich gegenseitig auf. Bolton Yates war froh, dass man ihm seine Ruhe ließ.
Er spielte den passiven Beobachter.
Drei Tische weiter saß eine dunkelhaarige Frau, die zu ihm herüberblickte. Sie war jung, hübsch, sympathisch und tanzte nicht. Der Rhythmus lag vielmehr in ihren flackernden Augen, die voller Leben steckten. Und diese Augen waren auf ihn gerichtet.
Nach einer Einschenkpause setzte die Musik erneut ein. Die Tanzfläche füllte sich spontan. Da erhob sich das grazile Geschöpf, kam auf ihn zu und sagte: „Ich möchte gern mit Ihnen tanzen, Mr. Yates. Ist er erlaubt?“
Yates stand auf, machte eine knappe Verbeugung, wie sie auch heute noch schicklich war, und warnte die Fremde:
„Sie kennen meinen Namen, Madam. Demzufolge kennen Sie auch meine Vergangenheit. Die Tänze, die ich beherrsche, sind zwei Jahrhunderte alt. Sie werden keinen Spaß an mir haben.“
„Ich schlage vor, wir überlassen es dem Tanz, ob wir Spaß aneinander haben. Einverstanden?“
„Einverstanden.“
Sie gingen hin und versuchten es. Es war ein Sechsachteltakt, den alle im Saal beherrschten. Bolton Yates überkam Panik, nachdem er die ersten zwei Schritte versucht hatte.
„Entschuldigung“, sagte er schwach. „Ich weiß nicht mal, mit welchem Fuß man bei diesem Tanz beginnen muss, geschweige denn, wie er weitergeht.“
„Mein Gott, Yates, das ist doch Musik, das ist Takt. Das ist doch schon immer so gewesen.“
Sie hatte die Arme sinken lassen und sich von ihm gelöst. Sie stand da, getrennt von ihm, während sich alle anderen Paare bewegten. Sie waren im Wege und fielen auf.
Aus ihren kleinen, schokoladenbraunen Augen blitzte die Unzufriedenheit.
Die Musik spielte weiter, wurde im Ablauf langsamer. Yates hörte es unterschwellig am Rhythmus, dass aus diesem Lento-Sechsachteltakt plötzlich ein Wiener Walzer wurde.
Ihr dunkelbrauner Blick wirkte auf ihn wie eine Aufforderung. Er nahm sie fest in die Arme und drehte das Mädchen in den Dreivierteltakt.
Niemand im Saal beherrschte den Wiener Walzer, aber Bolton Yates beherrschte das Mädchen. Sie tanzte mit ihm, was sie nie gelernt hatte, aber was ihr im Blut lag. Sie begriff es plötzlich, schmiegte sich an ihn und ließ sich drehen.
Es war ein herrlicher Tanz!
Die Leute waren stehen geblieben und klatschten.
Bolton Yates nahm ihre Hand und führte das Mädchen hinaus in den Garten, wo der Mond über duftenden Blumen thronte.
Vertraute Romantik, dachte Yates. Und dieses Mädchen war bei ihm. Lief nicht weg.
„Du bist ja ein Genie“, sagte sie. Es klang nur nach einer halben Anerkennung. Sie wollte die Überlegenheit ihres Jahrhunderts noch ausspielen.
„Natürlich bin ich ein Genie“, behauptete er grollend. „Aber du glaubst, ich bin ein wilder Vorfahr. Natürlich, ich kann es ja anders kaum verlangen. Für euch bin ich sicherlich so eine Art Affe, wie?“
Sie gingen weiter.
„Wenn einer so dumm wie du reagierst. Bolton Yates, dann sagt man heute bei uns, es ist Liebe.“
Er blieb stehen, zog sie an sich und küsste sie.
Dann fragte er: „Wie kann es Liebe sein nach dieser einen Stunde?“
Sie sagte: „Das musst du selbst wissen. Vielleicht war es der Walzer ... Wie du mich plötzlich beherrscht hast. Unsinn, Bolton, ich mag dich einfach. Ist das okay?“
„Es ist okay, wenn du den Wunsch hast, dass wir uns wiedersehen.“
Sie blieb stehen, drehte sich zu ihm um. „Ja, ich möchte dich wiedersehen. Und wenn du jetzt nein sagst, wäre das schlimm.“
Sie gingen weiter durch den Park und kamen an die Straße. Dort gab es die Transportbänder, die jeden Fußgänger bis zu seinem Haus brachten.
„Ich möchte ein Haus bauen“, sagte Bolton Yates nach einer Pause. „So groß, dass es für uns zwei reicht. Ich meine, das könnte ein Plan sein. Was hältst du davon?“
„Nicht viel, Junge. Wir kennen uns ja noch gar nicht.“
Sie drückte sich an ihn, als wolle sie den Sinn ihrer Worte abschwächen. Er war sicher, dass sie den Wunsch hatte, bei ihm zu bleiben. Wenigstens für den Augenblick. Bolton Yates schwebte im siebenten Himmel - wie man das in seinem Jahrhundert ausgedrückt hätte. Er konnte sich kein besseres Jahrhundert wünschen. Er hatte die Flucht in die Zukunft angetreten. Jetzt war er da.
Und dann fiel ein Schuss!
Es war spät in der Nacht, die Straße leer gefegt. Die Attentäter drangen offen auf ihn ein. Er sah zwei Männer auf sich zukommen.
Das Mädchen stolperte. Yates sprang vor, um sie vor einem Sturz bewahren, kam zu spät, aber sein Sprung rettete ihm das Leben. Der Nadelstrahl stand eine Handbreit hinter seinem Genick.
„Lauf!“, schrie Yates und stieß das taumelnde Mädchen vorwärts. Er sprang ab und fiel auf das nächstschnellere Transportband. Durch die Beschleunigung ging auch der dritte Schuss daneben. Yates rollte sich auf den Rücken. Der eine Gegner war dicht bei ihm.
Yates zog die Beine an den Leib und stieß sie mit der Kraft eines Katapults von sich. Er traf eine weiche Magengrube. Der Mann stürzte gegen den anderen und riss ihn mit sich. Ein Handstrahler fiel zu Boden. Yates bückte sich blitzschnell und riss die Waffe an sich.
„Verschwindet, Leute! Oder ich erledige euch.“
Der eine gehorchte. Der andere, der noch seine Waffe trug, gab noch nicht auf. Während er sich aufrichtete, kam seine Schusshand bereits nach vorn.
Bolton Yates hatte kaum zwei Sekunden Zeit, eine Entscheidung zu treffen. Er handelte nach Instinkt und benutzte die unbekannte Waffe, so gut er konnte.
Er war überrascht, als sich der Schuss löste ...
Eine späte Nacht und eine fast einsame Straße. Die wenigen Passanten, die der Zufall zum Zeugen machte, flüchteten sich hastig weiter in ihre Anonymität.
Das Mädchen war wieder auf die Rollbahn gesprungen, wechselte dann sofort auf den mittleren Expressstreifen über und hatte Yates in ein paar Sekunden überholt.
„Komm mit, mein Gott! Du musst dich beeilen, Yates!“
Auch er sprang auf das Expressband und lief darauf weiter, obwohl das verboten war. Er erreichte das Mädchen kurz vor einer Umsteigekreuzung. Im selben Augenblick schwebte eine dreiköpfige Polizeistreife heran. Sie hing etwa dreißig Meter hoch vor ihnen in der Luft und schien die Kreuzung zum Ziel genommen zu haben.
„Die brauchen noch eine halbe Minute“, keuchte das Mädchen, „bis sie gelandet sind und ihr Luftschraubengepäck abgeworfen haben. Aber du musst jetzt mit mir kommen, wenn sie dich nicht erwischen sollen.“
Ohne eine Antwort abzuwarten, stieß sie ihn nach rechts auf das langsamere Band und zerrte ihn sofort weiter auf festen Boden. Sie landeten in einem Gebüsch, das bereits außerhalb der grellen Lichtkegel der Straßenbeleuchtung lag.
Die Polizisten waren inzwischen gelandet. Die Bänder trugen sie jedoch zu weit weg, da sie in der Eile die Eigenbewegung der Straße nicht genau berechnet hatten.
Das Mädchen lachte zufrieden.
„Los, komm mit, Junge! Wir schaffen es.“
Sie zog ihn tiefer in die Sträucher. Auf der anderen Seite lag eine Rasenfläche, die man mit zehn Sätzen überwinden konnte. Dahinter erhob sich eine Hauswand.
„Hier wohne ich“, sagte sie und zeigte auf eine vierzigstöckige Wohnmaschine. Zehn Minuten später befanden sie sich in ihrem Appartement in der 34. Etage. Auf pneumatischen Sesseln saßen sie sich gegenüber. Die vier Wände bargen Gemütlichkeit, die von gedämpftem, indirektem Licht unterstützt wurde. Das Mädchen schob ihm ein Glas hin, in dem ein bräunliches Getränk schimmerte.
„Du solltest endlich meinen Namen wissen“, sagte sie mit ihrer Altstimme. „Ich heiße Phillis.“
„Danke, Phillis. Du hast mir das Leben gerettet. Ich weiß nicht, wohin ich hätte laufen sollen. Bloß - wird es etwas nützen? Ich habe einen Menschen getötet.“
„Du hast dich gegen einen Gangster verteidigt. Du hast dein eigenes Leben gerettet.“
„Es war Polizei da. Und diese anderen ...“
„Diese anderen waren auf jeden Fall keine Polizisten. Es waren Banditen. Und die Polizei kam, weil es eine Schießerei gegeben hat. Hier bist du sicher vor ihnen.“
„Ich will es glauben, wenn du es sagst. Du kennst dich besser aus in deiner Zeit. Und wenn ich nachher wieder gehe ...“
„Du wirst nicht nachher gehen, sondern frühestens morgen früh. Als ein freier, unbescholtener Bürger. Als Bolton Yates, der eine gewisse Popularität besitzt und Eigentum der öffentlichen Meinung ist.“
„Danke, Phillis.“
„Sag nicht immer danke, Junge. Trink lieber dein Glas aus. Oder bist du schockiert, dass es in unserem Jahrhundert noch Banditen gibt?“
„Ja, irgendwie ist das schon merkwürdig.“
„Wo es eine Polizei gibt, gibt es auch Übertretungen der Gesetze. Du wirst bei uns schon zurechtkommen, denke ich.“
„Ja, Phillis“, sagte er sinnierend. „Es wäre schön, wenn ich in eurer Welt eine Aufgabe finden könnte.“
Er verließ das Haus am nächsten Morgen kurz nach zehn Uhr.
*
IM HOSPITAL SAGTE MAN Yates, dass er noch zwei Tage Geduld haben müsse, bevor er seinen unbekannten Lebensretter sprechen könne. Er machte daraufhin seinen Besuch bei Mr. Herberts und berichtete von seinen letzten Erlebnissen. Abends ging er zu Phillis. Die Spannung, die ihn den ganzen Tag begleitet hatte, fiel von ihm ab. Bei Phillis hatte er wieder das Gefühl, dass dieses Zeitalter auch schön sein konnte. Kurz nach zehn rief Mr. Herberts an und bat Bolton Yates, sofort zu ihm zu kommen. - Nein, er möge seine Freundin Phillis zu Hause lassen. Es wäre wichtig, dass er allein komme. Herberts’ Gesicht auf der Videoscheibe war ernst und dringend.
Mit einem Kuss und einem knappen „bis morgen, Liebes!“, verabschiedete sich Yates von Phillis und begab sich auf dem schnellsten Wege zu Mr. Herberts.
„Kommen Sie rein, Yates“, sagte der Weißhaarige fast schroff. „Nehmen Sie Platz!“ Wie zur Versöhnung brachte er einen leicht alkoholhaltigen Drink und kam dann sehr schnell zur Sache.
„Sie waren bei Phillis, Junge. Große Liebe, wie?“
„Ich habe Ihnen ja heute morgen alles erzählt“, entgegnete Bolton. „Natürlich mögen wir uns. Aber deshalb haben Sie mich ja wohl nicht hergebeten.“
„Natürlich nicht. Sie sprachen heute früh auch noch von anderen Dingen. Von diesen Banditen und der Polizei zum Beispiel, davon, dass Sie einen Menschen erschossen hätten - freilich aus Notwehr -, aber doch erschossen hätten und nicht sicher seien, wieweit Ihnen das schaden könne. Klar soweit?“
„Klar, es war ja schließlich mein eigener Bericht. Doch jetzt kommen Sie zur Sache, Herberts!“
Der Alte nahm einen langen Schluck aus seinem Glas und begann nur zögernd. „Sie sollten sich so schnell wie möglich erneut hibernieren lassen, lieber Yates. Es geht dabei um Ihre eigene Sicherheit, die Ihnen hier keiner mehr garantieren kann.“
„Sind Sie verrückt? Ich habe Phillis versprochen ...“
„Sie haben jemanden getötet, dessen Familie auf Rache sinnt.“
„Einen Gangster, oder nicht? Vielleicht doch ein ehrenwertes Mitglied der Gesellschaft? Sie meinen, die Polizei ist mir auf der Spur? Das habe ich vor vierundzwanzig Stunden geglaubt. Jetzt nicht mehr. Bolton Yates, den jeder kennt, hätte man über das Fernsehen gesucht. Ich wäre längst festgenommen, wenn das stimmte.“
„Ich sagte, eine Familie sinnt auf Rache. Eine politische Familie, Junge. Nehmen Sie die Warnung nicht zu leicht!“
„Würden Sie bitte weniger in Rätseln sprechen?“
„Ich weiß nicht, wie ich das anstellen soll, mein Junge. Die Rätsel sind noch viel zahlreicher. Und wenn Sie darauf aus sind, sie zu lösen, wäre das ein Fehler.“
Bolton Yates stellte sein Glas hin und erhob sich. „Ich fürchte, Mr. Herberts, es war unsinnig, mich zu rufen.“
„Mit Sicherheit nicht, Yates. Camioon lässt Ihnen die Warnung ausrichten. Und seine Informationen lassen den sicheren Schluss zu, dass er mehr weiß, als wir alle zusammen.“
„Camioon? Wer ist das?“
„Der Verwundete im Hospital, der Mann, der Ihnen das Leben gerettet hat. Der Mann, dessen Identität Dr. Temm auf keinem zivilisierten Planeten feststellen konnte.“
„Der Mann, den es nicht gibt, also.“ Yates lachte. „Ich war heute früh im Krankenhaus. Sie wissen genau, dass der Mann nicht vernehmungsfähig ist, und niemand weiß, dass er Camioon heißt, oder?“
„Er war bei mir. Vor mehr als zwei Stunden.“
„Ach nein! Im Rollstuhl, auf Krücken oder mit einem Helikopter?“
„Er klingelte und kam herein.“
„Völlig gesund, wie?“
„Völlig gesund, gewiss. Er erklärte mir, dass Sie in dieser Gegenwart nicht mehr sicher seien. Immerhin haben Sie in verschiedenen Zeitaltern gelebt und werden wahrscheinlich noch in anderen leben - falls Sie klug sind.“
„Mysteriös und verrückt, wie?“
„Der Mann, den Sie gestern auf der Straße erschossen, gehört zu derselben Organisation wie der andere, vor dem Sie Camioon geschützt hat, unter Einsatz seines Lebens.“
„Ich wollte mich ohnehin bei ihm bedanken, sobald er wieder sprechen und Besuch empfangen kann. Aber diese naive Bevormundung ... Warum will man mich loswerden, Herberts? Wozu dieses Narrenspiel, das kein erwachsener Mensch ernst nehmen kann?“
In diesem Augenblick ging die Tür zu einem Nebenzimmer auf, und Camioon trat ein. Yates wich zurück.
„Mein Gott, das ist er! Das ist der Mann!“
„Ich bin Camioon, Mr. Yates. Sie sollten darauf hören,was dieser alte Mann Ihnen geraten hat.“
Und damit ging Camioon zur Wohnung hinaus und schloss die Tür hinter sich.
„Warten Sie!“, schrie Yates. „Camioon, warten Sie!“
Herberts stellte sich ihm in den Weg. „Es hat keinen Zweck, Bolton. Camioon war sehr in Eile. Er ist nur auf mein Drängen so lange geblieben, weil ich wusste, dass Sie mir nicht glauben würden. Außerdem hat er mich gewarnt, ihm nachzuspionieren. Nehmen Sie das Rätsel als Tatsache hin, und denken Sie mehr an Ihre Sicherheit als an Ihre Neugier.“ Yates zwang sich zur Ruhe. „Hm, Sie meinen also, ich soll seinem Rat bedingungslos folgen, auch wenn ich ihn nicht verstehe?“
„Ich glaube, ja.“
„Okay, aber Dr. Temm darf ich doch vielleicht noch anrufen, ja?“ Herberts hatte nichts dagegen. Dr. Temm versicherte, dass der Fremde noch in seinem Bett lag und keineswegs vernehmungsfähig sei. Auch über seinen Namen und seine Identität sei nichts weiteres bekannt.
Bolton Yates sank in den Sessel und schwieg lange. Der alte Mann schenkte stumm die Gläser voll und wartete geduldig. Schließlich sagte Yates: „Bisher bin ich vor mir selbst geflohen, vor meiner Krankheit. Beginnt jetzt die Flucht vor der Umwelt? Und wohin, Herberts? Wohin? Fliehe ich durch die Zeit? Aber ich kenne meine Gegner nicht. Ich bin jung und habe so gut wie keine Vergangenheit, jedenfalls keine, in der ich mir Feinde geschaffen habe.“
„Vielleicht fliehen Sie vor der Zukunft, Yates. Ich kann es Ihnen nicht sagen. Ich kann Ihnen nur helfen.“
„Danke, Mr. Herberts. Aber wenn es sein muss, dann jetzt bitte keine Hibernation unter den Augen der Öffentlichkeit. Wenn ich nochmals irgendwo und irgendwann ankomme, möchte ich nicht der Liebling der Weltpresse sein. Ich möchte völlig anonym bleiben.“
„Ich wüsste da eine gute Gelegenheit auf dem Mars. Eine private und sehr diskrete Einrichtung. Das Geld, das Sie mit Ihren Interviews verdient haben, wird immer reichen. Einverstanden?“
Bolton Yates nickte.