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An der italienischen Front
ОглавлениеAm 26. April 1915 wurde das geheime „Abkommen von London“ zwischen Italien und der Triple Entente unterzeichnet. Hierbei wurden Italien große Teile des österreichischen Gebiets, die Kontrolle über Albanien sowie einige Kolonien in Afrika und Kleinasien versprochen. Italien zögerte nicht lange und erklärte am 23. Mai Österreich-Ungarn den Krieg. Dieser Vorgang erregte das Nationalgefühl im Kaiserreich. Fritz Hasenöhrl war so verbissen darauf, gegen die Italiener zu kämpfen, dass er sich unverzüglich an die italienische Front schicken ließ. Am 20. Juli erlitt er bei Kampfhandlungen am Monte Piano eine schwere Verletzung. Er wurde in ein Krankenhaus in Salzburg gebracht, kehrte aber an die Front zurück, bevor er vollständig wiederhergestellt war.
Am 26. Juli schließlich marschierte Schrödingers Einheit von Komárom in Richtung italienische Front ab, um eine neue Zwölf-Zentimeter-Marinebatterie aufzustellen. Über die Aktivitäten der nächsten zwei Monate führte er genauestens Tagebuch. Die Marinebatterie war besonders rätselhaft – niemand wusste so genau, wohin es eigentlich ging. Nur der Name eines Ortes, Oreia Draga (Ovcia Draga) auf der istrischen Halbinsel südlich von Triest, war bekannt. Schrödinger brach um 10:00 Uhr am Bahnhof der Wiener Neustadt auf, wo ihn Irene Drexler am Bahnsteig verabschiedete. Am nächsten Tag zur Mittagszeit traf er in Marburg (Maribor) ein und versuchte, den Transport der Kanone zu organisieren. Er traf den Bahnhofsoffizier von Laibach (Ljubliana), und mehr oder weniger zufällig wurden sie weitergeleitet. Das ganze Projekt verzögerte sich jedoch, da seine Einheit nicht wusste, wo sie sich zu melden hatte.
Früh am nächsten Morgen begann der zweite italienische Angriff auf Görz (Gorizia). Eine Schlacht wütete um die Karsthochebene, wo die kargen Kalkfelsen durch das Artilleriefeuer pulverisiert wurden. Die erste italienische Großoffensive, die erste einer Reihe von Schlachten am Isonzo, hatte am 23. Juni begonnen. Trotz wiederholter Sturmangriffe konnten die Italiener keine bedeutenden Gewinne gegenüber den österreichischen Verteidigern erringen, aber die Verluste waren auf beiden Seiten zahlreich. Eine realistische Beschreibung dieses Frontabschnitts, von der italienischen Seite gesehen, hat Ernest Hemingway in A Farewell to Arms gegeben (1929). Hemingway erreichte die italienische Front nicht vor Juni 1918 und wurde am 8. Juli von einem österreichischen Mörser in die Luft gejagt. Seine Beschreibung war so präzise, dass Mussolini das Buch in Italien verbot.
Als die Kanone schließlich in Position gebracht war, notierte Schrödinger am 2. August: „Wir feuern schlecht. Ich werde beschimpft, kontrolliere alle Elemente selbst, was die Bedienung verlangsamt. Ich werde weiter beschimpft. Nachmittag geht’s. Unbegreiflich, daß wir nicht oder nur unbedeutend beschossen werden, da wir rauchstarkes Pulver haben. Flieger suchen uns.“ Am 4. August war das Schießverhalten wiederum unzureichend; Erwin machte Verbesserungsvorschläge, aber man hörte ihn nicht an. „Gott sei Dank! Die andere Batterie schießt auch schlecht.“ Am 7. August setzte sich der Ärger mit dem Mörser fort. „Nach sechs Schüssen nimmt Blockneigung … zu. Nachmittag schießen wir wieder, lauter Treffer. … Nach wenigen Schüssen wird sich der Panzer in den Boden einbohren.“ Sie wurden von mindestens zwei feindlichen Geschützen unter Beschuss genommen, zunächst mit Schrapnells, dann mit schweren Granaten. „Die Männer waren überaus tapfer. Wir waren allerdings gut geschützt und solange nicht eine Granate genau die Mitte des Daches treffen würde, konnte nicht viel passieren … gelegentlich wurde ein Beobachtungsposten von einer Granate getroffen, oder ein Bunker mit vier oder fünf Männern wurde beiseite geblasen. Ansonsten sollte man keine Unglücke haben.“
Am 21. August wechselte sein Tagebuch abrupt den Ton:
„Wieder die ganz Nacht lang von L[otte] geträumt. ‚Die ganze Nacht‘ wahrscheinlich fünf Minuten, aber so ist das subjektive Gefühl des Erwachenden. Ich komme von ihr nicht los, wenn ich nicht weiß, sie ist’s nicht wert. Aber es ist als stünde ich noch beständig unter dem Zauber des Abends, als ich zum ersten Mal ihre Hand in der meinen hielt, des Sparzierganges im Schnee, jener wenigen glücklichen Tage, die keine höhere Gunst in den Schatten stellen konnte, stellen wird. Ich weiß längst, daß das Gebäude zusammenrumpelte, damals, als sie mir die Hand vom Bahnsteig reichte, am 12. Sept. 1912. Ich hätte mehr nicht hoffen, mehr nicht wünschen dürfen als die flüchtige Schönheit des Augenblicks. Ich war Kind mit dem Kinde und in der kindlichen Erotik, der längst entschwundenen, wieder erwachten, lag für den 25jährigen die unendliche Anmut. Dennoch hoffe ich noch immer, glaube ich noch immer, zu Zeiten, wenn ich sie zu anderen tausendmal verfluche, mich glücklich nenne, der Albernen entronnen zu sein.
Wie tief empfinde ich jetzt die Demütigungen, die ich, die sie mir auferlegt, wie überflüssig. Ich war töricht, ich allein war töricht. Ich habe dem Kinde die Zügel gegeben, das ich hätte lenken können, das ich zu lenken verschmähte, in dem ich nur die Göttin sah, die sie mir war, nicht das Kind, das sie länger bleiben wird als viele andere. Aber eben darum hätte ich sie lenken können, lenken müssen.
Lenken können, ich? Ich nicht, aber ein anderer an meinem Platze. Und dennoch kann ich mich nicht schelten.“
Dieses Eingeständnis zeigt, wie nachhaltig Erwins erste Liebe sein Gemüt bewegte. Obwohl er seit jener Zeit ein leidenschaftliches Verhältnis mit Ella hatte, eine Romanze mit Irene und auch den Wunsch, Felicie zu heiraten – inmitten des Kanonenfeuers, des blindwütigen Tötens und der Zerstörungen eines sinnlosen Krieges war es seine Schulliebe Lotte, die von seinem Unterbewusstsein den Weg in seine Träume fand.
Das Kriegstagebuch fährt mit einem Eintrag vom 6. September fort: Der Beschuss wurde nach einer längeren Pause auf Anweisung der Heeresführung wieder aufgenommen – vermutlich wurde die Munition knapp. Ende August fuhr Erwin nach Laibach, um Nachschub zu besorgen.
„Auf den Straßen drängt sich ein ununterbrochener Strom von Offizieren und Huren. Die meisten weiblichen Flüchtlinge scheinen davon zu leben. … Nächsten Tag Oberlaibach, ein liebes Nest.
Ein Schaf von Rittmeister, dem man jeden Hufnagel mit Winden aus dem Steiß ziehen muß. Rührende Abschiedsszene eines Zigeuners von seinem kleinen Rappen.“
Der 19. September:
„Äußere Ereignisse Null, eine Zeit lang war’s völlig ruhig hier, jetzt sind nachts wieder Infanterieangriffe auf dem Plateau. Es ist äußerst langweilig. Ich beschäftige mich, wenn ich sonst gar nichts zu tun weiß, mit der Psychologie der Grundakte des Bewußtseins: Erinnerung, Assoziation, Zeitbegriff.
Heute Nacht wieder sehr lebhaft geträumt, von L[otte]. Sonderbare Sache das. Mit meinem eigenen Verhalten in der Sache bin ich, je mehr ich’s überlege, desto zufriedener. – Insbesondere daß ich so klug war, seiner Zeit – vor langem – den bewußten Brief an J[ohanna, einer Cousine ersten Grades und guten Freundin von Lotte] zu schreiben. Statt einer Fessel, gibt es mir jetzt die vollste Freiheit, meine Würde zu wahren, indem ich schweige, und zwar, solange ich irgend will. Und das habe ich dringend nötig. Ich bringe an mir selbst sozusagen ein Vexierschloß an, lasse niemanden den Zutritt, bis der Bann in der richtigen Weise gebrochen wird. Und dann werde ich die Situation haben, die ich brauche, die auf andere Weise überhaupt nicht herzustellen war. Ich brauche nicht zu sprechen, weil ich gesprochen habe. Wie ein Panzer schützt mich dieses eine Wort gegen jeden Vorwurf, sichert mich gegen jeden Mißerfolg nach der einen oder anderen Seite. Nur eines werde ich dreimal nötig haben bei jeder Auseinandersetzung seiner Zeit: Ruhe, Ruhe, Ruhe. Schweigen und sich nicht dupieren lassen. Schweigen wie Erz, wie verschlossener Stein.“
Was lernen wir hieraus? Einer der größten Geister seiner Zeit führt über eine Herzensangelegenheit Selbstgespräche, als ob er ein Gauner wäre, der sich eine Verteidigungsstrategie für ein Gerichtsverfahren überlegt. Der letzte Eintrag in das Tagebuch ist auf den 27. September datiert:
„Es ist wirklich scheußlich öd. Ich hab’ Heimweh nach Arbeit. Wenn das noch lang dauert, gehe ich körperlich und geistig zu Grunde. Ich bin nicht mehr gewohnt, eine halbe Stunde zu gehen oder zu denken. Jeder vernünftige Gedanke wird von dem anderen verschlungen: was nützt das alles, wenn der Krieg nicht endlich aus wird. Dabei waren diese letzten zwei Monate hier noch die besten. Aber zur Gänze wächst mir die Sache beim Hals heraus. Ist das ein Leben: Schlafen, Essen und Spielen! Durch die fortwährende Bedienung wird man auch zu jeder körperlichen Tätigkeit zu träg. Ich liege hier manche Tage bis zum Mittagessen im Bett, bloß um nicht vor der Frage zu stehen, was ich am Vormittag anfangen soll. Nach dem Essen natürlich Siesta. Fünf Minuten stehen ist mir zu anstrengend, ich setze mich. Kaum daß’ ich mir die Namen meiner Umgebung merke. Woran liegt das, daß gerade ich immer gar nichts zu tun habe? Liegt es an mir? Liegt es an dem Maßstab, den ich anlege? An der besonderen Beschaffenheit meiner Ansprüche an Tätigkeit – besonders nämlich für die Umgebung, in der ich jetzt lebe. Dabei bin ich ganz und gar nicht desparat – viel zu stumpf, um es zu sein. Ich denke: Es trottelt halt weiter, kannst nix machen. Scheußlich! Sonderbar: ich frage nicht mehr: wann wird der Krieg vorüber sein? Sondern: wird er vorübergehen? Kindisch, nicht? Hoffentlich. Sind 14 Monate so schrecklich lang? Daß man schon an dem Ende überhaupt verzweifelt.“
An dieser Stelle bricht das Kriegstagebuch ab. Schrödinger gelang es, an einige Philosophiebücher und Kopien von wissenschaftlichen Zeitschriften heranzukommen. Und es war ihm möglich, sich der extremen Sinnlosigkeit des Kriegsdaseins zu entziehen und seine Gedanken auf die Probleme zu richten, die er liebte.