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5. Kapitel: Die Geschichte von Babylon und orale Träume
ОглавлениеMeine Mutter und meine Großmutter sind mit mir zusammen, und die Großmutter wendet sich an mich mit der Frage, ob ich die Geschichte von Babylon kenne und wo sie geschrieben steht. Ich antworte und sage, dass sie mir bekannt sei und dass sie in der Bibel stehe. Mit einem Schuss Ironie füge ich hinzu, dass ich noch eine besitze, eine andere aber weggeworfen habe. Ich zeige eine nicht ganz ernst gemeinte Geste, die eine gewisse Angst vor ihrer möglichen Reaktion zum Ausdruck bringt.
Die Großmutter war eine sehr fromme und bibelgläubige Frau, und ich war für ein Jahr in ihrer Obhut, im Alter von etwa 8 Jahren und kam auch später in den Ferien noch zu ihr und ihren drei Kindern aus zweiter Ehe. Bei ihr wurde täglich gebetet und in der Bibel gelesen, und die Angst vor dem Satan war ein großes Thema, was bei mir auf fruchtbaren Boden fiel. Sie hatte zweifellos ein erstes innigeres Interesse für religiöse Dinge in mir entfacht, das später im Internat bei den Klosterschwestern weiter vertieft wurde, allerdings nicht in ihrem Sinne. Als ich nämlich später ein frommer Katholik wurde, gab es häufige Streitgespräche mit ihr, da sie die Kirche und den Papst vehement ablehnte und mit dem Antichrist in Verbindung brachte. Wir hauten uns sozusagen die Bibelzitate um die Ohren. Babylon oder, wie es im Alten Testament genannt wird, Babel hat mit dem Exil der Juden zu tun und galt schon damals als Synonym für Sünde und Ungläubigkeit. Neutestamentlich wurde in der Offenbarung des Johannes daraus die Hure Babylon, die Mutter und der Ursprung aller Gräuel und alles Sündhaften, wobei vermutlich insgeheim Rom und das römische Imperium gemeint waren. Und es gibt die Geschichte vom Turmbau zu Babel, die eher mit der Hybris der Menschen zu tun hat und einer entsprechenden Bestrafung durch Gott, das Sprachengewirr. Dass ich eine Bibel weggeworfen habe, stimmt tatsächlich. Es war der radikale Versuch, mich innerlich zu lösen vom infantilen Glauben, nachdem ich durch die Lektüre von Sigmund Freud erkannt hatte, dass der Glaube an Gott nur eine Art Vaterprojektion, durch meine Suche nach dem Vater motiviert war und deshalb auch einen derartigen Stellenwert in meinem bisherigen Leben erhalten hatte. Ob ich zum Zeitpunkt des Traumes noch mal eine Bibel besaß, weiß ich nicht mehr, aber vielleicht ist die innere Bibel gemeint, also die im Gedächtnis verbliebene. Die nicht ganz ernst gemeinte Angstgeste könnte mit einem dennoch vorhandenen schlechten Gewissen der Großmutter gegenüber herrühren, da ich ja inzwischen völlig von ihrer Linie abgewichen war und sogar das Sakrileg der Bibelentsorgung gewagt hatte. Auch ihre Frage nach Babylon enthält natürlich einen unterschwelligen Vorwurf oder eine Drohung, im Hinblick auf meine Ungläubigkeit und Sündhaftigkeit. Meine Mutter spielt in dem Traum scheinbar keine Rolle, aber sie könnte in gewisser Weise stillschweigend meine Verbündete sein, da sie ebenfalls „ungläubig“ war und das schon länger als ich.
Subjektstufig repräsentiert die Großmutter demnach das religiös geprägte Über-Ich, während meine Mutter und ich die Kräfte des Es vertreten, also die Abkehr vom Glauben und den damit verbundenen moralischen Auflagen. Die Gewissensinstanz ist relativ schwach vertreten, aber der innere Konflikt schwelt weiter und drängt nach einer Lösung, die wohl nur darin bestehen kann, die unterschiedlichen Positionen miteinander zu versöhnen und die eigentlich gemeinte transzendente Dimension zu vertiefen und zu integrieren. Dazu gehören auch die archetypischen Inhalte, wie etwa das Bild Babylon und die babylonische Gefangenschaft. Man braucht sich nur das „va pensiero“, den Gefangenenchor aus „Nabucco“ von Giuseppe Verdi anzuhören, um zu wissen, was gemeint ist. Die künstlerisch-musikalische Darstellung der Thematik des Exils der Juden und der Gefangenschaft berührt ungemein und weckt die Sehnsucht nach wahrer Freiheit und geistiger Vollendung, ungeachtet des Umstandes, dass gemäß neuerer Forschungen der Aufenthalt der Juden in Babylon zumindest für die Oberschicht gar nicht so unangenehm gewesen sein soll.
Doch nun zu den oralen Träumen: Jemand sagt zu mir, ich sei fett. Ich rede mit einer anderen Person darüber, und die hebt hervor, ich sei traurig.
„Kummerspeck“ nennt man so was, und die Verbindung zwischen depressiven Gefühlen und einer Kompensation durch Essen und Trinken ist leicht nachzuvollziehen. Dem Einen vergeht der Appetit, zumindest vorübergehend, und der Andere versucht, sich zu trösten mit oralen Genüssen, was auf Dauer zu einer Gewichtszunahme führen kann. Ich selbst gehöre zu denen, die erst den Appetit verlieren, nach einer starken Belastung oder Kränkung, später aber, bei Anhalten der depressiven Verstimmung, neige ich dazu, mehr zu essen und zu trinken, was wie gesagt zum Fetterwerden führt.
Die zwei Gesprächspartner repräsentieren vermutlich innere Instanzen. Die eine, vom Über-Ich gesteuert, macht mir Vorwürfe wegen meines Fettseins und einer damit verbundenen oralen Zügellosigkeit, während die andere voller tieferem Verständnis auf die zugrundeliegende depressive Verstimmung hinweist. Dadurch entsteht eine gewisse Entlastung, aber es bleibt die Frage, woher die Verstimmung kommt, wie man sie beheben könnte und ob es nicht andere Kompensationsmöglichkeiten gäbe.
Im folgenden Traum befinde ich mich in einem Nobelrestaurant. Es gibt eine vorbereitete Liste mit Speisen und Preisen, die man dem Kellner zeigt. Ich bestelle das Stammessen und schon mal einen Weißwein. Man sagt mir, das sei leider hier nicht möglich. Daraufhin entgegne ich, dass ich nichts essen werde, es sei ohnehin zu fett! Darauf hin werde ich vom Chefkoch gerufen, der mir zuvor zwei Teller mit Speisen bringt. Ich bin ziemlich überrascht. Draußen höre ich ein Gedicht mit dem Inhalt: man soll sich nicht alles gefallen lassen. Später attackiert mich ein Hund, und meine Hand ist in seinem Maul, zwischen seinen Zähnen.
In ein Nobelrestaurant geht man normalerweise nicht, um ein Stammessen zu sich zu nehmen. Der Einwand, das Essen sei zu fett, erinnert an den Fuchs mit den sauren Trauben. Der Chefkoch könnte der Analytiker sein, der mich hier, anders als in der Realität, oral verwöhnt. Den beißenden Hund hatten wir schon mal. Er symbolisiert hier wohl orale Aggressivität, passend zu dem Gedicht.
Der wichtigste Inhalt des Traumes ist vermutlich das Gedicht oder der Spruch, der wie eine Stimme aus dem Unbewussten klingt: lass Dir nicht alles gefallen! Die Weigerung, einfach alles in sich hineinzufressen, kommt schon im Verlauf der Geschichte zum Ausdruck, sowie der Impuls, eigene Wünsche und Bedürfnisse zu artikulieren und durchzusetzen. Mit Erfolg: Der Chefkoch kümmert sich und trägt reichlich auf, zu meiner Überraschung. Näherliegend wäre ja die Befürchtung, für Aufmüpfigkeit bestraft zu werden, aber dem ist nicht so! Es folgt zwar später eine Art Bestrafung durch den Hund, aber ich neige dazu, diese Szene eher im Umkehrschluss zu deuten: es gilt, bissiger zu werden und sich zu wehren. Bezugnehmend auf den Analytiker und den Wunsch nach Verwöhnung kann man sagen, dass die Analyse natürlich alles andere ist als Zuckerschlecken, sondern eher frustrierend. In Erinnerung geblieben ist der Umstand, dass der Therapeut zwar selten etwas sagte, dann aber manchmal auch ausführlicher, wobei er im Verlauf Pausen machte und ich dann das Bedürfnis hatte, wieder das Wort zu ergreifen, woraufhin er aber weiterredete und mich sozusagen „abwürgte“. Möglicherweise ist der beißende Hund auch ein Abbild dieser Szenerie. In dem Fall wiederum ein Kastrationssymbol. Alles ist ja mehrdeutig, gerade in Träumen, und es gibt keine ein für alle Mal „richtige“ Deutung. Stimmig sollte sie schon sein, nachvollziehbar und nicht völlig abwegig. Das zu fette Essen hört sich an wie eine Fortsetzung des vorherigen Traums und hat wiederum mit den Einwürfen des Über-Ichs zu tun hinsichtlich der oralen Gier, die es zu zügeln gilt. Es klingt aber auch eine Art Trotzreaktion heraus: wenn ich nicht das kriege, was ich möchte, dann esse ich gar nichts! Gleichzeitig wird das gesamte Angebot abgewertet: es ist alles eh zu fett! Trotz erinnert wiederum an die Kindheit und eine Szene mit der Mutter, die zum wiederholten Mal ein Essen mit Kochschinken zubereitet hatte, den mein Stiefvater von der Arbeit mitgebracht hatte und den es zu verwerten galt. Mir stand er bis oben, und ich weigerte mich zu essen, vermutlich mit einem Ausdruck von Ekel, was meine Mutter in Rage versetzt und ausnahmsweise dazu brachte, mich zu schlagen. Diese Episode hat sich deutlich ins Gedächtnis eingeprägt und steht beispielhaft für die ambivalente Einstellung zu meiner Mutter. Ich reagierte mit Ablehnung und Ekel, und sie fühlte sich als Person zurückgewiesen und war gekränkt. Mein Aufbegehren kam selten genug und wurde hier bestraft. Von daher die Erwartung, dass Aufmüpfigkeit eher sanktioniert wird.
Im nächsten Traum geht es ums Autofahren und einen Unfall: ich bin mit dem Wagen unterwegs und muss bremsen. Vor dem Fahrzeug liegt ein Junge und sein Fahrrad daneben. Der Junge steht auf und hat Mühe, richtig zu gehen, woraufhin ich ihn zu einem Kiosk trage, in dem sich eine Frau befindet. Zunächst möchte ich nicht, dass jemand gerufen wird, aber der Junge besteht darauf. Also sage ich, dass man einen Krankenwagen holen müsse. Die Polizei kommt wohl ebenfalls. Handelt es sich um eine Fraktur? Ich will den Jungen zum Wagen zurücktragen, finde diesen aber nicht mehr.
Zum Glück hatte ich bisher keine Unfälle mit Personenschäden, aber der Traum erinnert mich an eine Begebenheit aus der frühen Kindheit (Deckerinnerung?), die ich noch bildhaft vor Augen habe. Ich war in einem Bus unterwegs mit meiner Mutter, als der Fahrer plötzlich stark bremsen musste und ich zu Boden fiel. Wir stiegen dann aus und sahen eine Frau vor dem Bus liegen, mit ihrem Fahrrad daneben. Ob sie verletzt war, weiß ich nicht mehr, aber zumindest war sie noch am Leben. Im Traum habe ich ein schlechtes Gewissen, denn ich will vermeiden, dass jemand gerufen wird, gebe dann aber dem Drängen des Jungen nach und befürworte das Herbeirufen einer Ambulanz. Dies hat natürlich zur Folge, dass auch die Polizei auftaucht, was ich zu verhindern suchte. Träume sind oft unlogisch, denn statt eines Rettungsassistenten trage ich den Jungen herum und finde auch noch mein Auto nicht mehr, das in rätselhafter Weise verschwunden ist.
Im Umkehrschluss könnte man vermuten, dass ich selbst dieser Junge bin, der da unter die Räder kommt, durch eigene Schuld oder Unvorsichtigkeit. Der Traum wäre dann eine Warnung: pass besser auf Dich auf! Zum Glück geschieht nichts allzu Schlimmes, „nur“ ein Beinbruch möglicherweise oder auch nichts weiter als Prellungen und Abschürfungen. Die Frau ist Zeugin und vermittelt zwischen dem Jungen, mir und den zu rufenden Hilfs- und Ordnungskräften. Sie könnte eine hilfreiche Animaprojektion sein. Die Polizei repräsentiert das Über-Ich. Bezugnehmend auf die Kindheitserinnerung gewinnt der Traum allerdings eine ganz andere Bedeutung. Das damalige Erlebnis hat vermutlich sehr unterschiedliche Ängste wachgerufen. Einmal die Angst, die Mutter zu verlieren durch einen Unfall, also Trennungs- und Verlustängste, oder die Angst, ich könnte selbst zu Schaden kommen, also Todesangst oder zumindest Kastrationsangst. Im Umkehrschluss kann man aber auch den unbewussten Wunsch vermuten, die Mutter möge dort liegen. Bestrafungs- oder Todeswünsche also, aufgrund einer ausgeprägten Ambivalenz. Positiv gesehen handelte es sich um Ablösungswünsche, und auch den Traum könnte man so deuten: es ist Zeit, mit der Kindheit abzuschließen und endlich erwachsen zu werden, was durchaus ein schmerzlicher Prozess sein kann und wobei Wunden oder Narben zurückbleiben können. Das Auto symbolisiert die Fortbewegung, die Entwicklung, in diesem Traum aber auch die Möglichkeit, „unterwegs“ eine Gefährdung für andere zu sein und Schaden anzurichten. Der Umstand, dass ich das Auto später nicht mehr finde, kann einmal die Angst vor einem Entwicklungsstillstand anzeigen und zum andern eine Art von Bestrafung (Kastration).