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~IV. Die frühromantische Theorie der Naturerkenntnis~

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Kritik schließt die Erkenntnis ihres Gegenstandes ein. Darum erfordert die Darstellung des frühromantischen Begriffs der Kunstkritik eine Charakteristik der ihr zugrunde liegenden Theorie der Gegenstandserkenntnis. Diese ist von der Erkenntnis des Systems oder des Absoluten zu unterscheiden, deren Theorie oben gegeben wurde. Sie ist aber aus ihr abzuleiten; sie betrifft die Naturgegenstände und die Kunstwerke, deren erkenntnistheoretische Problematik mehr als die anderer Gebilde die ersten Romantiker beschäftigt hat. Die frühromantische Theorie der Kunsterkenntnis hat unter dem Titel der Kritik vor allen Friedrich Schlegel, die der Naturerkenntnis unter anderen Novalis ausgebildet. In diesen Ausbildungen treten von den verschiedenen Zügen einer allgemeinen Theorie der Gegenstandserkenntnis bald in dieser der eine, bald in jener der andere mit besonderer Deutlichkeit hervor, so daß für das gründliche Verständnis einer Ausbildung auch die andere kurz zu berücksichtigen ist. Ein Blick auf die Theorie der Naturerkenntnis ist für die Darstellung des Begriffs der Kunstkritik unentbehrlich. Beide hängen in gleichem Maße von den allgemeinen systematischen Voraussetzungen ab und stimmen als Folgerungen mit jenen zusammen und miteinander überein.

Die Theorie der Gegenstandserkenntnis ist durch die Entfaltung des Reflexionsbegriffs in seiner Bedeutung für den Gegenstand bestimmt. Der Gegenstand, wie alles Wirkliche, liegt im Reflexionsmedium. Das Reflexionsmedium ist aber methodisch oder erkenntnistheoretisch angesehen das Medium des Denkens, denn es ist nach dem Schema der Reflexion des Denkens, der kanonischen Reflexion, gebildet. Zur kanonischen Reflexion wird diese Reflexion des Denkens, weil in ihr am evidentesten die beiden Grundmomente aller Reflexion sich ausgeprägt finden: Selbsttätigkeit und Erkennen. Denn in ihr wird dasjenige reflektiert, gedacht, was doch allein reflektieren kann: das Denken. Es wird also selbsttätig gedacht. Und weil es als sich selbst reflektierend gedacht wird, wird es als sich selbst unmittelbar erkennend gedacht. In dieser Erkenntnis des Denkens durch sich selbst ist, wie bemerkt wurde, alle Erkenntnis überhaupt eingeschlossen. Daß aber a priori jene bloße Reflexion, das Denken des Denkens, als ein Erkennen des Denkens von den Romantikern aufgefaßt wurde, rührt daher, daß sie jenes erste ursprüngliche, stoffliche Denken, den Sinn, bereits als erfüllt voraussetzen. Auf Grund dieses Axioms wird das Reflexionsmedium zum System, das methodische Absolutum zum ontologischen. Auf mannigfache Weise kann es bestimmt gedacht werden: als Natur, als Kunst, als Religion usw. Niemals aber wird es den Charakter des Denkmediums verlieren, eines Zusammenhanges denkender Beziehung. In allen seinen Bestimmungen bleibt also das Absolutum ein Denkendes, und ein denkendes Wesen ist alles, was es erfüllt. Damit ist der romantische Grundsatz der Theorie der Gegenstandserkenntnis gegeben. Alles, was im Absolutum ist, alles Wirkliche denkt; es kann, weil dies Denken das der Reflexion ist, nur sich selbst, genauer gesagt, nur sein eigenes Denken denken; und weil dieses eigene Denken ein erfülltes substantielles ist, so erkennt es sich selbst zugleich, indem es sich denkt. Als Ich ist das Absolutum und was in ihm besteht, nur unter einem ganz besonderen Gesichtspunkt zu bezeichnen. Die Windischmannschen Vorlesungen, nicht aber die Athenäumsfragmente sehen es so an; auch Novalis scheint oft diese Betrachtungsweise zurückzustellen. Alle Erkenntnis ist Selbsterkenntnis eines denkenden Wesens, das kein Ich zu sein braucht. Vollends das Fichtesche Ich, das dem Nicht-Ich, der Natur entgegengesetzt ist, bedeutet für Schlegel und Novalis nur eine niedere der unendlich vielen Formen des Selbst. Für die Romantiker gibt es vom Standpunkt des Absoluten aus kein Nicht-Ich, keine Natur im Sinne eines Wesens, das nicht selbst wird. »Selbstheit ist der Grund aller Erkenntnis«133 heißt es bei Novalis. Die Keimzelle jeder Erkenntnis ist also ein Reflexionsvorgang in einem denkenden Wesen, durch den es sich selbst erkennt. Jedes Erkanntwerden eines denkenden Wesens setzt dessen Selbsterkenntnis voraus. »Alles, was man denken kann, denkt selbst:134: ist ein Denkproblem«135 lautet der Satz, den nicht umsonst Friedrich Schlegel in der Ausgabe, die er von den Werken seines verstorbenen Freundes besorgte, an die Spitze der Fragmente stellte.

Diese Bedingtheit jeder Objekterkenntnis in einer Selbsterkenntnis des Objekts zu behaupten, ist Novalis nicht müde geworden. In der paradoxesten, zugleich hellsten Gestalt in dem kurzen Satz: »die Wahrnehmbarkeit eine Aufmerksamkeit«.136 Ob in diesem Satz über die Aufmerksamkeit des Gegenstandes auf sich selbst hinaus noch die auf den Wahrnehmenden gemeint ist, tut nichts zur Sache; denn selbst wenn er diesen Gedanken deutlich ausspricht: »In allen Prädikaten, in denen wir das Fossil sehen, sieht es uns«,137 kann doch jene Aufmerksamkeit auf den Sehenden sinngemäß nur als Symptom für die Fähigkeit des Dinges, sich selbst zu sehen, verstanden werden. Außer der Sphäre des Denkens und Erkennens umfaßt also jene Grundgesetzlichkeit des Reflexionsmediums auch die der Wahrnehmung, und endlich sogar die der Tätigkeit. »Ein Stoff muß sich selbst behandeln, um behandelt zu sein«,138 heißt das Gesetz, dem diese unterliegt. – Erkennen und Wahrnehmen insbesondere sollen gleichsam auf alle Dimensionen der Reflexion bezogen und in allen fundiert sein: »Sieht man etwa jeden Körper nur so weit, als er sich selbst sieht und man sich selbst sieht?«139 Wie jede Erkenntnis nur vom Selbst ausgeht, so erstreckt sie sich auch allein auf dieses: »Gedanken sind nur mit Gedanken gefüllt, nur Denkfunktionen, wie Gesichte Augen- und Lichtfunktionen. Das Auge sieht nichts wie Auge, das Denkorgan nichts wie Denkorgane oder das dazugehörige Element«.140 »Wie das Auge nur Augen sieht – so der Verstand nur Verstand, die Seele Seelen, die Vernunft Vernunft, der Geist Geister etc.; die Einbildungskraft nur Einbildungskraft, die Sinne Sinne; Gott wird nur durch einen Gott erkannt.«141 In diesem letzten Fragment erscheint der Gedanke, daß jedes Wesen allein sich selbst erkenne, modifiziert zu dem Satz, jedes Wesen erkenne nur das ihm selbst Gleiche und werde allein durch Wesen erkannt, die ihm gleichen. Damit ist die Frage nach dem Verhältnis von Subjekt und Objekt in der Erkenntnis berührt, welche für die Selbsterkenntnis nach romantischer Auffassung keine Rolle spielt.

Wie ist Erkenntnis außerhalb der Selbsterkenntnis, d. h. wie ist Objektserkenntnis möglich? Sie ist es nach den Prinzipien des romantischen Denkens in der Tat nicht. Wo keine Selbsterkenntnis ist, da ist gar kein Erkennen, wo Selbsterkenntnis ist, ist die Subjekt-Objekt-Korrelation aufgehoben, wenn man will: ein Subjekt ohne Objekt-Korrelat gegeben. Trotzdem bildet die Wirklichkeit nicht ein Aggregat in sich abgeschlossener Monaden, die in keine reale Beziehung zu einander treten können. Ganz im Gegenteil sind alle Einheiten im Wirklichen außer dem Absoluten selbst nur relative. Sie sind so wenig in sich abgeschlossen und beziehungslos, daß sie durch Steigerung ihrer Reflexion (Potenzieren, Romantisieren; s. o. p.37) vielmehr andre Wesen, Reflexionszentren, mehr und mehr ihrer eigenen Selbsterkenntnis einverleiben können. Diese romantische Vorstellungsweise betrifft jedoch nicht nur die individuell menschlichen Reflexionszentren. Nicht die Menschen allein können ihre Erkenntnis durch gesteigerte Selbsterkenntnis in der Reflexion erweitern, sondern ebenso können das die sogenannten Naturdinge. Bei diesen hat der Vorgang eine wesentliche Beziehung auf das, was gemeinhin ihr Erkanntwerden genannt wird. Das Ding strahlt nämlich in dem Maße, als es in sich die Reflexion steigert und in seine Selbsterkenntnis andere Wesen einbegreift, seine ursprüngliche Selbsterkenntnis auf diese aus. Auch auf diese Weise kann der Mensch jener Selbsterkenntnis anderer Wesen teilhaftig werden; dieser Weg wird mit dem erstgenannten in der Erkenntnis zweier Wesen durch einander, die im Grunde die Selbsterkenntnis ihrer reflexiv erzeugten Synthesis ist, koinzidieren. Demnach ist alles, was sich dem Menschen als sein Erkennen von einem Wesen darstellt, in ihm der Reflex der Selbsterkenntnis des Denkens in demselbigen. Ein bloßes Erkanntwerden eines Dinges gibt es also nicht, ebensowenig aber ist das Ding oder Wesen beschränkt auf ein bloßes durch sich allein Erkanntwerden. Die Steigerung142 der Reflexion in ihm hebt vielmehr die Grenze zwischen dem durch sich selbst und durch ein anderes Erkanntwerden in dem Dinge auf und im Medium der Reflexion gehen das Ding und das erkennende Wesen ineinander über. Beides sind nur relative Reflexionseinheiten. Es gibt also in der Tat keine Erkenntnis eines Objekts durch ein Subjekt. Jede Erkenntnis ist ein immanenter Zusammenhang im Absoluten, oder wenn man will, im Subjekt. Der Terminus Objekt bezeichnet nicht eine Beziehung in der Erkenntnis, sondern eine Beziehungslosigkeit und verliert seinen Sinn, wo immer eine Erkenntnisrelation an den Tag tritt. Die Erkenntnis ist nach allen Seiten in der Reflexion verankert, wie die Fragmente des Novalis es andeuten: das Erkanntwerden eines Wesens durch ein anderes fällt zusammen mit der Selbsterkenntnis des Erkanntwerdenden, mit der des Erkennenden und mit Erkanntwerden des Erkennenden durch das Wesen, das er erkennt. Das ist die genaueste Form des Grundsatzes der romantischen Theorie der Gegenstandserkenntnis. Seine Tragweite für die Erkenntnistheorie der Natur liegt vor allem in den von ihm abhängigen Sätzen über die Wahrnehmung sowie über die Beobachtung.

Die erste hat keinen Einfluß auf die Theorie der Kritik und muß daher hier übergangen werden. Ohnehin ist es klar, daß diese Erkenntnistheorie es zu keiner Unterscheidung von Wahrnehmung und Erkenntnis bringen kann und im wesentlichen die auszeichnenden Züge der Wahrnehmung auch der Erkenntnis beilegt. Die Erkenntnis ist ihr zufolge in gleich hohem Grad unmittelbar, als es die Wahrnehmung nur irgend sein kann; und die nächstliegende Begründung der Unmittelbarkeit der Wahrnehmung geht ebenfalls von einem dem Wahrnehmenden und Wahrgenommenen gemeinsamen Medium aus, wie die Geschichte der Philosophie in Demokrit zeigt, welcher von einer teilweisen stofflichen Durchdringung von Subjekt und Objekt die Wahrnehmung herschreibt. So heißt es auch bei Novalis, daß »der Stern im Fernrohr erscheint und dasselbe durchdringt … Der Stern … ist ein spontanes, das Fernrohr oder Auge ein rezeptives Lichtwesen«.143

Mit der Lehre vom Erkenntnis- und Wahrnehmungsmedium hängt diejenige von der Beobachtung zusammen, die von unmittelbarer Bedeutung für das Verständnis des Kritikbegriffs ist. Die »Beobachtung« und die mit ihr sehr häufig synonyme Bezeichnung des Experiments sind wiederum Vokabeln der mystischen Terminologie; in ihnen gipfelt, was die Frühromantik über das Prinzip der Naturerkenntnis zu erklären und zu verheimlichen hatte. Die Frage, auf welche der Begriff der Beobachtung antwortet, lautet: welches Verhalten hat der Forscher einzuschlagen, um unter der Voraussetzung, daß das Wirkliche ein Reflexionsmedium sei, die Natur zu erkennen? Er wird wissen, daß keine Erkenntnis ohne die Selbsterkenntnis des zu Erkennenden möglich ist und daß diese durch ein Reflexionszentrum (den Beobachter) in einem anderen (dem Dinge) nur wachgerufen werden kann, indem das erste durch wiederholte Reflexionen bis zum Umfassen des zweiten sich steigert. Diese Theorie hat bezeichnenderweise zuerst Fichte für die reine Philosophie ausgesprochen, und damit einen Hinweis darauf gegeben, wie tief sie mit den rein erkenntnistheoretischen Motiven des frühromantischen Denkens zusammenhängt. Er sagt von der Wissenschaftslehre im Gegensatz zu den anderen Philosophien: »Dasjenige, was sie zum Gegenstande ihres Denkens macht, ist nicht ein toter Begriff, der sich gegen ihre Untersuchung nur leidend verhalte, … sondern es ist ein Lebendiges und Tätiges, das aus sich selbst und durch sich selbst Erkenntnisse erzeugt, und welchem der Philosoph bloß zusieht. Sein Geschäft in der Sache ist nichts weiter, als daß er jenes Lebendige in zweckmäßige Tätigkeit versetze, dieser Tätigkeit desselben zusehe, sie auffasse und als Eins begreife. Er stellt ein Experiment an … wie das Objekt sich äußere, ist … Sache … des Objekts selbst … In den entgegengesetzten Philosophien … gibt es nur eine Reihe des Denkens, die der Gedanken des Philosophen, da sein Stoff selbst nicht als denkend eingeführt wird«.144 Was bei Fichte für das Ich gilt, das gilt bei Novalis vom Naturgegenstand und wird zu einem zentralen Satz der damaligen Naturphilosophie.145 Die Bezeichnung dieser Methode als Experiment, die schon Fichte gab, lag gegenüber dem Naturgegenstand besonders nahe. Das Experiment besteht in der Evokation des Selbstbewußtseins und der Selbsterkenntnis im Beobachteten. Eine Sache beobachten, heißt nur, sie zur Selbsterkenntnis bewegen. Ob das Experiment gelingt, hängt davon ab, wie weit der Experimentator imstande ist, durch Steigerung seines eigenen Bewußtseins, durch magische Beobachtung, wie man sagen darf, sich dem Gegenstand zu nähern und ihn endlich in sich einzubeziehen. In diesem Sinn sagt Novalis vom echten Experimentator: Die Natur »offenbart sich umso vollkommener durch ihn, je harmonischer seine Konstitution mit ihr ist«,146 und vom Experiment, daß es »die bloße Erweiterung, Zerteilung, Vermannigfaltigung, Verstärkung des Gegenstandes«147 sei. Darum zitiert er beifällig die Meinung Goethes: »daß jede Substanz seine (sic!) engeren Rapports mit sich selbst habe, wie das Eisen im Magnetism«.148 In diesen Rapports erblickt er die Reflexion des Gegenstandes; wieweit er damit Goethes Meinung traf, muß hier dahingestellt bleiben. – Das Medium der Reflexion, des Erkennens und des Wahrnehmens fällt bei den Romantikern zusammen. Der Terminus der Beobachtung spielt auf diese Identität der Medien an; was im gewöhnlichen Experiment als Wahrnehmung und planmäßige Einrichtung des Versuchsverlaufs getrennt ist, ist in der magischen Beobachtung vereinigt, die ja selbst ein Experiment, nach dieser Theorie das einzig mögliche Experiment ist. Man darf diese magische Beobachtung im Sinn der Romantiker auch eine ironische nennen. Sie beobachtet nämlich an ihrem Gegenstand nichts Einzelnes, nichts Bestimmtes. Keine Frage an die Natur liegt diesem Experiment zugrunde. Vielmehr faßt die Beobachtung nur die aufkeimende Selbsterkenntnis im Gegenstand ins Auge, oder vielmehr, sie, die Beobachtung ist das aufkeimende Gegenstandsbewußtsein selbst. Mit Recht darf sie also eine ironische heißen, weil sie im Nicht-Wissen – im Zuschauen – besser weiß, – identisch mit dem Gegenstand ist. Es wäre also erlaubt, wenn es nicht richtiger wäre, diese Korrelation überhaupt aus dem Spiel zu lassen, von einer Koinzidenz der objektiven und der subjektiven Seite in der Erkenntnis zu sprechen. Simultan jeder Erkenntnis eines Gegenstandes ist das eigentliche Werden dieses Gegenstands selbst. Denn die Erkenntnis ist, nach dem Grundsatz der Gegenstandserkenntnis, ein Prozeß, der das zu Erkennende erst zu dem, als was es erkannt wird, macht. Daher sagt Novalis: »Der Beobachtungsprozeß ist ein zugleich subjektiver und objektiver Prozeß, ideales und reales Experiment zugleich. Satz und Produkt müssen zugleich fertig werden, wenn er recht vollkommen ist. Ist der beobachtete Gegenstand ein Satz schon und der Prozeß durchaus in Gedanken, so wird das Resultat … derselbe Satz nur in höherem Grade sein«.149 Mit dieser letzten Bemerkung geht Novalis über die Theorie der Naturbeobachtung zur Theorie der Beobachtung geistiger Gebilde über. Der »Satz« in seinem Sinne kann ein Kunstwerk sein.

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Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke

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