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Zweiter Teil:
Die Kunstkritik ~I. Die frühromantische Theorie der Kunsterkenntnis~

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Die Kunst ist eine Bestimmung des Reflexionsmediums, wahrscheinlich die fruchtbarste, die es empfangen hat. Die Kunstkritik ist die Gegenstandserkenntnis in diesem Reflexionsmedium. In der folgenden Untersuchung ist also darzustellen, welche Tragweite die Auffassung der Kunst als eines Reflexionsmediums für die Erkenntnis ihrer Idee und ihrer Gebilde sowie für die Theorie dieser Erkenntnis hat. Die letzte Frage ist durch alles Vorhergehende soweit gefördert, daß es nur einer Rekapitulation bedarf, um die Betrachtung von der Methode der romantischen Kunstkritik zu deren sachlicher Leistung überzuführen. Selbstverständlich wäre es völlig verfehlt, bei den Romantikern nach einem besonderen Grund zu suchen, aus dem sie die Kunst als ein Reflexionsmedium betrachten. Für sie war diese Deutung alles Wirklichen, also auch der Kunst, ein metaphysisches Credo. Es ist, wie schon in der Einleitung angedeutet wurde, nicht der zentrale metaphysische Grundsatz ihrer Weltanschauung gewesen, dazu ist sein spezifisch metaphysisches Gewicht bei weitem zu gering. Aber wie sehr auch dieser Zusammenhang darauf angewiesen ist, diesen Satz nach Analogie einer wissenschaftlichen Hypothese zu behandeln, ihn nur immanent klar zu legen und an seiner Leistung für die Auffassung der Gegenstände zu entfalten, so ist nicht zu vergessen, daß in einer Untersuchung der romantischen Metaphysik, des romantischen Geschichtsbegriffs, diese metaphysische Anschauung alles Wirklichen als eines Denkenden noch andere Seiten an den Tag legen würde, als es mit Beziehung auf die Kunsttheorie geschieht, für welche ihr erkenntnistheoretischer Gehalt vor allem ins Gewicht fällt. Seine metaphysische Bedeutung dagegen wird in dieser Abhandlung nicht eigentlich erfaßt, sondern nur in der romantischen Kunsttheorie berührt, welche freilich ihrerseits unmittelbar und mit ungleich größerer Sicherheit die metaphysische Tiefe des romantischen Denkens erreicht.

An einer Stelle der Windischmannschen Vorlesungen ist noch der schwache Nachklang des Gedankens zu vernehmen, der Schlegel zur Athenäumszeit mächtig bewegte und seine Theorie der Kunst bestimmte. »Es gibt … eine Art des Denkens, die etwas produziert und daher mit dem schöpferischen Vermögen, das wir dem Ich der Natur und dem Welt-Ich zuschreiben, große Ähnlichkeit der Form hat. Das Dichten nämlich; dies erschafft gewissermaßen seinen Stoff selbst«.150. An jener Stelle hat der Gedanke keine Bedeutung mehr. Er ist jedoch der klare Ausdruck von Schlegels älterem Standpunkt, daß nämlich die Reflexion, welche er früher als Kunst dachte, absolut schöpferisch, inhaltlich erfüllt sei. So kannte er denn in der Zeit, auf welche sich diese Untersuchung bezieht, auch noch nicht jenen Moderantismus im Reflexionsbegriff, demzufolge er in den Vorlesungen der Reflexion den sie begrenzenden Willen gegenüberstellt (s. o. p.37). Früher kannte er nur eine relative, autonome Begrenzung der Reflexion durch sich selbst, die, wie sich ergeben wird, in der Kunsttheorie eine wichtige Rolle spielt. Die Schwäche und Gesetztheit des späteren Werkes beruht auf der Einschränkung der schöpferischen Allmacht der Reflexion, welche einst für Schlegel in der Kunst sich am deutlichsten offenbart hatte. Mit ähnlicher Deutlichkeit, wie an jener Stelle der Vorlesungen, hat er in der Frühzeit die Kunst als ein Reflexionsmedium nur in dem berühmten 116. Athenäumsfragment bezeichnet, in dem es von der romantischen Poesie heißt, daß sie »am meisten zwischen dem Dargestellten und dem Darstellenden151 frei von allem … Interesse auf den Flügeln der poetischen Reflexion in der Mitte schweben, diese Reflexion immer wieder potenzieren und wie in einer endlosen Reihe von Spiegeln vervielfachen« kann. Von dem produktiven und rezeptiven Verhältnis zur Kunst sagt Schlegel: »Das Wesen des poetischen Gefühls liegt vielleicht darin, daß man sich ganz aus sich selbst affizieren … kann«152. Das heißt: Der Indifferenzpunkt der Reflexion, an dem diese aus dem Nichts entspringt, ist das poetische Gefühl. Ob in dieser Formulierung eine Beziehung auf Kants Theorie vom freien Spiel der Gemütsvermögen liegt, in welchem der Gegenstand als ein Nichts zurücktritt, um nur den Anlaß einer selbsttätigen, inneren Stimmung des Geistes zu bilden, wird sich schwer entscheiden lassen. Übrigens liegt die Untersuchung des Verhältnisses der frühromantischen zu der Kantischen Kunsttheorie nicht im Rahmen dieser Monographie über den romantischen Begriff der Kunstkritik, weil von hier aus jenes Verhältnis nicht erfaßt werden kann. – In vielen Wendungen hat auch Novalis zu verstehen gegeben, daß die Grundstruktur der Kunst die des Reflexionsmediums sei. Der Satz: »Dichtkunst ist wohl nur willkürlicher, tätiger, produktiver Gebrauch unserer Organe – und vielleicht wäre Denken selbst nicht viel etwas anderes – und Denken und Dichten also einerlei«153 ähnelt sehr dem oben angezogenen Schlegelschen Ausspruch in den Vorlesungen, und weist in jene Richtung. Ganz deutlich faßt Novalis die Kunst als das Reflexionsmedium κατ’ ἐξοχὴν auf, verwendet das Wort Kunst geradezu als terminus technicus für dasselbe, wenn er sagt: »Der Anfang des Ich ist bloß idealisch … der Anfang entsteht später als das Ich; darum kann das Ich nicht angefangen haben. Wir sehen daraus, daß wir hier im Gebiet der Kunst sind«.154 Und wenn er fragt: »Gibt es eine Erfindungskunst ohne Data, eine absolute Erfindungskunst?«,155 so ist dies einerseits die Frage nach einem absoluten neutralen Ursprung der Reflexion und andererseits hat er selbst in seinen Schriften oft genug die Dichtkunst als jene absolute Erfindungskunst ohne Data gekennzeichnet. Er legt gegen die Theorie der Brüder Schlegel von der Künstlichkeit Shakespeares Verwahrung ein und erinnert sie, daß die Kunst »gleichsam die sich selbst beschauende, sich selbst nachahmende, sich selbst bildende Natur ist«.156 Dabei ist weniger die Meinung, daß die Natur das Substrat der Reflexion und der Kunst sei, als daß die Integrität und Einheit des Reflexionsmediums gewahrt bleiben solle. Für diese scheint Novalis an dieser Stelle Natur ein besserer Ausdruck als Kunst, und so soll man es nach ihm auch für die Erscheinungen der Poesie bei dieser Bezeichnung, die doch nur für das Absolute steht, belassen. Oft aber wird er ganz übereinstimmend mit Schlegel die Kunst für den Prototyp des Reflexionsmediums halten und dann sagen: »Die Natur zeugt, der Geist macht. Il est beaucoup plus commode d’être fait que de se faire lui-même (sic!)«.157. Also ist Reflexion das Ursprüngliche und Aufbauende in der Kunst wie in allem Geistigen. So entsteht Religion nur, indem »das Herz … sich selbst empfindet«,158 und für die Poesie gilt, daß sie »ein sich selbst bildendes Wesen ist«.159

Die Erkenntnis in dem Reflexionsmedium der Kunst ist die Aufgabe der Kunstkritik. Für sie gelten alle diejenigen Gesetze, welche allgemein für die Gegenstandserkenntnis im Reflexionsmedium bestehen. Die Kritik ist also gegenüber dem Kunstwerk dasselbe, was gegenüber dem Naturgegenstand die Beobachtung ist, es sind die gleichen Gesetze, die sich an verschiedenen Gegenständen modifiziert ausprägen. Wenn Novalis sagt: »Was zugleich Gedanke und Beobachtung ist, ist ein kritischer … Keim«,160 so spricht er – zwar in tautologischer Rede, denn die Beobachtung ist ein Denkprozeß – die nahe Verwandtschaft zwischen Kritik und Beobachtung aus. Kritik ist also gleichsam ein Experiment am Kunstwerk, durch welches dessen Reflexion wachgerufen, durch das es zum Bewußtsein und zur Erkenntnis seiner selbst gebracht wird. »Die echte Rezension sollte … das Resultat und die Darstellung eines philologischen Experiments und einer literarischen Recherche sein.«161 Wiederum nennt Schlegel eine »sogenannte Recherche … ein historisches Experiment«162, und im Rückblick auf seine kritische Tätigkeit, den er 1800 anstellte, sagte er: »ich werde es mir nicht versagen, mit den Werken der poetischen und der philosophischen Kunst, wie bisher, so auch ferner für mich und für die Wissenschaft zu experimentieren«.163 Das Subjekt der Reflexion ist im Grunde das Kunstgebilde selbst, und das Experiment besteht nicht in der Reflexion über ein Gebilde, welche dieses nicht, wie es im Sinn der romantischen Kunstkritik liegt, wesentlich alterieren könnte, sondern in der Entfaltung der Reflexion, d. h. für den Romantiker: des Geistes, in einem Gebilde.

Sofern Kritik Erkenntnis des Kunstwerks ist, ist sie dessen Selbsterkenntnis; sofern sie es beurteilt, geschieht es in dessen Selbstbeurteilung. Die Kritik geht in dieser letzten Ausprägung über die Beobachtung hinaus, es zeigt sich in dieser die Verschiedenheit des Kunstgegenstandes von dem der Natur, der keine Beurteilung zuläßt. Der Gedanke der Selbstbeurteilung auf der Grundlage der Reflexion ist auch außerhalb des Gebietes der Kunst den Romantikern nicht fremd. So liest man bei Novalis: »Die Philosophie der Wissenschaften hat … drei Perioden. Die thetische der Selbstreflexion der Wissenschaft, die andere der entgegengesetzten, antinomischen Selbstbeurteilung der Wissenschaft und die synkritische Selbstreflexion und Selbstbeurteilung zugleich«.164 Was die Selbstbeurteilung in der Kunst betrifft, so heißt es in der für Schlegels Theorie der Kritik bezeichnenden Rezension des »Wilhelm Meister«: »Glücklicherweise ist es eben eins von den Büchern, welche sich selbst beurteilen«.165 Novalis sagt: »Rezension ist Complement des Buchs. Manche Bücher bedürfen keiner Rezension, nur einer Ankündigung; sie enthalten schon die Rezension mit«.166

Eine Beurteilung ist allerdings diese Selbstbeurteilung in der Reflexion nur uneigentlich zu nennen. Es ist nämlich in ihr ein notwendiges Moment aller Beurteilung, das Negative, durchaus verkümmert. Zwar erhebt sich der Geist in jeder Reflexion über alle früheren Reflexionsstufen und negiert sie damit – gerade dies gibt der Reflexion zunächst die kritische Färbung –, aber das positive Moment dieser Bewußtseinssteigerung überwiegt das negative bei weitem. Diese Einschätzung des Reflexionsvorgangs spricht aus Novalis’ Worten: »Der Akt des sich selbst Überspringens ist überall der höchste, der Urpunkt, die Genesis des Lebens … So hebt alle Philosophie da an, wo der Philosophierende sich selbst philosophiert, d. h. zugleich verzehrt … und wieder erneuert … So hebt alle lebendige Moralität damit an, daß ich aus Tugend gegen die Tugend handle; damit beginnt das Leben der Tugend, durch welches vielleicht die Kapazität ins Unendliche zunimmt«.167 Genau ebenso positiv bewerten die Romantiker die Selbstreflexion im Kunstwerk. Für die Bewußtseinssteigerung des Werkes durch Kritik hat Schlegel einen höchst bezeichnenden Ausdruck in einem Witz gefunden. In einem Briefe an Schleiermacher bezeichnet er nämlich seinen Athenäumsaufsatz »Über Goethe’s Meister« kurz als den »Übermeister«,168 ein vortrefflicher Ausdruck für die letzte Intention dieser Kritik, welche mehr als jede andere mit seinem Begriff Kunstkritik überhaupt zusammenhängt. Auch sonst gebraucht er gern ähnliche Prägungen, ohne daß man entscheiden könnte, ob dabei die gleiche Stimmung zugrunde liegt, weil sie nicht in einem Worte geschrieben sind.169 Das Moment der Selbstvernichtung, die mögliche Negation in der Reflexion kann also nicht ins Gewicht fallen gegenüber dem durch und durch Positiven der Erhöhung des Bewußtseins im Reflektierenden. So führt eine Analysis des romantischen Kritikbegriffs alsbald auf jenen Zug, der sich in ihrem Fortgang immer deutlicher zeigen und vielseitiger begründen wird: die völlige Positivität dieser Kritik, in der sie von ihrem modernen Begriff, welcher in ihr eine negative Instanz erblickt, sich radikal unterscheidet.

Jede kritische Erkenntnis eines Gebildes ist als Reflexion in ihm nichts anderes, als ein höherer selbsttätig entsprungener Bewußtseinsgrad desselben. Diese Bewußtseinssteigerung in der Kritik ist prinzipiell unendlich, die Kritik ist also das Medium, auf die Unendlichkeit der Kunst bezieht und endlich in sie in dem sich die Begrenztheit des einzelnen Werkes methodisch übergeführt wird, denn die Kunst ist, wie es sich von selbst versteht, als Reflexionsmedium unendlich. Novalis hat die mediale Reflexion, wie oben angeführt, allgemein als Romantisieren bezeichnet und dabei gewiß nicht nur an die Kunst gedacht. Doch ist, was er so beschreibt, genau das Verfahren der Kunstkritik. »Absolutierung, Universalisierung, Klassifikation des individuellen Moments … ist das eigentliche Wesen des Romantisierens.«170 »Indem ich … dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es.«171 Auch vom Kritiker aus, denn als solcher ist der »wahre Leser« der folgenden Bemerkung aufzufassen, bezeichnet er die kritische Aufgabe: »Der wahre Leser muß der erweiterte Autor sein. Er ist die höhere Instanz, die die Sache von der niederen Instanz schon vorgearbeitet erhält. Das Gefühl … scheidet beim Lesen wieder das Rohe und Gebildete des Buchs, und wenn der Leser das Buch nach seiner Idee bearbeiten würde, so würde ein zweiter Leser noch mehr läutern, und so wird … die Masse endlich … Glied des wirksamen Geistes«.172 Das heißt, es soll das einzelne Kunstwerk im Medium der Kunst aufgelöst werden, dieser Prozeß kann aber durch eine Vielheit einander ablösender Kritiker nur dann sinngemäß dargestellt sein, wenn diese nicht empirische Intellekte, sondern personifizierte Reflexionsstufen sind. Es liegt auf der Hand, daß die Potenzierung der Reflexion im Werk auch als solche in seiner Kritik bezeichnet werden kann, welche ja selbst unendlich viele Stufen hat. In diesem Sinne heißt es bei Schlegel: »Jede philosophische173 Rezension sollte zugleich Philosophie der Rezensionen sein«174. – Niemals kann dieses kritische Verhalten in Konflikt mit der ursprünglichen, rein gefühlsmäßigen Aufnahme des Kunstwerkes geraten, denn es ist, wie die Steigerung des Werkes selbst, so auch die seines Erfassens und Empfangens. In der Kritik des »Wilhelm Meister« sagt Schlegel: »Es ist schön und notwendig, sich dem Eindruck eines Gedichtes ganz hinzugeben … und etwa nur im Einzelnen das Gefühl durch Reflexion zu bestätigen und zum Gedanken zu erheben und … zu ergänzen … Aber nicht minder notwendig ist es, von allem Einzelnen abstrahieren zu können, das Allgemeine schwebend zu fassen«.175 Dies Erfassen des Allgemeinen heißt schwebend, weil es Sache der unendlich sich erhöhenden Reflexion ist, die sich in keiner Betrachtung dauernd niederläßt, wie es im 116. Athenäumsfragment (s. o. p. 63) von Schlegel angedeutet wird. So erfaßt die Reflexion gerade die zentralen, d. h. allgemeinen Momente des Werkes und versenkt sie in das Medium der Kunst, wie es eben in der Kritik des »Wilhelm Meister« sichtbar sein soll. Bei genauer Betrachtung will Schlegel dort in der Rolle, welche in der Bildung des Helden die verschiedenen Kunstarten spielen, eine Systematik verborgen angedeutet finden, deren deutliche Entfaltung und Einordnung ins Kunstganze eine Aufgabe der Kritik des Werkes sei. Dabei soll diese nichts anderes tun, als die geheimen Anlagen des Werkes selbst aufdecken, seine verhohlenen Absichten vollstrecken. Im Sinne des Werkes selbst, d. h. in seiner Reflexion, soll es über dasselbe hinausgehen, es absolut machen. Es ist klar: für die Romantiker ist Kritik viel weniger die Beurteilung eines Werkes als die Methode seiner Vollendung. In diesem Sinne haben sie poetische Kritik gefordert, den Unterschied zwischen Kritik und Poesie aufgehoben und behauptet: »Poesie kann nur durch Poesie kritisiert werden. Ein Kunsturteil, welches nicht selbst ein Kunstwerk ist, … als Darstellung des notwendigen Eindrucks in seinem Werden176, … hat gar kein Bürgerrecht im Reiche der Kunst«177. »Jene poetische Kritik … wird die Darstellung von Neuem darstellen, das schon Gebildete noch einmal bilden wollen … wird das Werk ergänzen, verjüngen, neu gestalten.«178 Denn das Werk ist unvollständig: »Nur das Unvollständige kann begriffen werden, kann uns weiter führen. Das Vollständige wird nur genossen. Wollen wir die Natur begreifen, so müssen wir sie als unvollständig setzen«.179 Das gilt auch vom Kunstwerk, aber es gilt nicht als Fiktion, sondern in Wahrheit. Jedes Werk ist dem Absolutum der Kunst gegenüber mit Notwendigkeit unvollständig, oder – was dasselbe bedeutet es ist unvollständig gegenüber seiner eigenen absoluten Idee. »Daher sollte es kritische Journale geben, die die Autoren kunstmäßig medizinisch und chirurgisch behandelten und nicht bloß die Krankheit aufspürten und mit Schadenfreude bekannt machten … Echte Polizei … sucht die kränkliche Anlage zu verbessern.«180 Beispiele solcher vollendenden, positiven Kritik schweben Novalis vor, wenn er von einer gewissen Art von Übersetzungen, welche er mythische nennt, sagt: »Sie stellen den reinen, vollendeten Charakter des individuellen Kunstwerks dar. Sie geben uns nicht das wirkliche Kunstwerk, sondern das Ideal desselben. Noch existiert, wie ich glaube, kein ganzes Muster derselben. Im Geist mancher Kritiken und Beschreibungen von Kunstwerken trifft man aber helle Spuren. Es gehört ein Kopf dazu, in dem sich poetischer Geist und philosophischer Geist in ihrer ganzen Fülle durchdrungen haben«.181 Vielleicht denkt Novalis, indem er Kritik und Übersetzung einander nahe rückt, an eine mediale stetige Überführung des Werkes aus einer Sprache in die andere, eine Auffassung, die bei der unendlich rätselhaften Natur der Übersetzung von vornherein ebenso statthaft ist, wie eine andere.

»Wenn man das Charakteristikum des modernen kritischen Geistes in der Verleugnung alles Dogmatismus, in der Achtung vor der alleinigen Souveränität der produktiven Schöpferkraft des Künstlers und Denkers sehen will und muß, so haben die Schlegel diesen modernen kritischen Geist geweckt und ihn auch zur prinzipiell höchsten Offenbarung gebracht.«182 Bei diesen Worten hat Enders die ganze literarische Familie der Schlegel im Sinn. Friedrich Schlegel ist vor allen anderen Mitgliedern seiner Familie die prinzipielle Überwindung des ästhetischen Dogmatismus zu verdanken und dazu – was Enders hier nicht erwähnt – die ebenso wichtige Sicherung der Kunstkritik gegen die skeptische Toleranz, die aus dem schrankenlosen Kultus der schaffenden Kraft als bloßer Ausdruckskraft des Schöpfers zuletzt hervorgeht. In jener Hinsicht hat er die Tendenzen des Rationalismus, in dieser die zersetzenden Momente, welche in der Theorie der Stürmer und Dränger angelegt waren, überwunden, und in dieser letzten Rücksicht ist die Kritik des 19. und 20. Jahrhunderts durchaus wieder von seinem Standpunkt herabgesunken. Er hat die Gesetze des Geistes in das Kunstwerk selbst gebannt, anstatt dieses zum bloßen Nebenprodukt der Subjektivität zu machen, wie ihn die modernen Autoren dennoch, dem Zuge ihres eigenen Denkens folgend, so überaus oft mißverstanden haben. Es ist nach dem oben Ausgeführten abzuschätzen, welcher geistigen Lebendigkeit und doch auch welcher Zähigkeit es bedurfte, diesen Standpunkt zu sichern, der teilweise, als Überwindung des Dogmatismus, das mühelose Erbe der modernen Kritik geworden ist. Von deren Gesichtskreis aus, den keine Theorie, sondern allein eine deteriorierte Praxis noch bestimmt, ist freilich nicht zu ermessen, welche Fülle positiver Voraussetzungen in die Negierung der rationalistischen Dogmen eingearbeitet ist. Sie übersieht, daß diese Voraussetzungen neben ihrer befreienden Leistung einen Grundbegriff sicherten, der theoretisch vordem mit Bestimmtheit nicht eingeführt werden konnte: den des Werkes. Denn nicht nur die Freiheit von heteronomen ästhetischen Doktrinen errang Schlegels Kritikbegriff vielmehr ermöglichte er diese erst dadurch, daß er ein anderes Kriterium des Kunstwerkes aufstellte, als die Regel, das Kriterium eines bestimmten immanenten Aufbaues des Werkes selbst. Er tat das nicht mit den Allgemeinbegriffen der Harmonie und Organisation, die bei Herder oder Moritz nicht zur Stiftung einer Kunstkritik hatten führen können, sondern mit einer, wenn auch in Begriffen absorbierten, eigentlichen Theorie der Kunst: als eines Reflexionsmediums, und des Werkes: als eines Zentrums der Reflexion. Damit sicherte er von der Objekt- oder Gebilde-Seite her diejenige Autonomie im Gebiete der Kunst, welche Kant der Urteilskraft in ihrer Kritik verliehen hatte. Der Kardinalgrundsatz der kritischen Betätigung seit der Romantik, die Beurteilung der Werke an ihren immanenten Kriterien, ist auf Grund romantischer Theorien gewonnen, welche gewiß in ihrer reinen Gestalt keinen heutigen Denker völlig befriedigen. Schlegel überträgt die Betonung seines schlechthin neuen Grundsatzes der Kritik auf den »Wilhelm Meister«, indem er ihn das »schlechthin neue und einzige Buch, welches man nur aus sich selbst verstehen lernen kann«,183 nennt. Novalis ist auch in diesem Grundsatz mit Schlegel einig: »Formeln für Kunstindividuen finden, durch die sie im eigentlichsten Sinn erst verstanden werden, macht das Geschäft eines artistischen Kritikers aus, dessen Arbeiten die Geschichte der Kunst vorbereiten«.184 Vom Geschmack, auf den sich der Rationalismus für seine Regeln berief, soweit sie nicht rein historisch begründet werden, sagt er: »Der Geschmack allein beurteilt nur negativ«.185

Ein genau bestimmter Begriff des Werkes wurde also durch diese romantische Theorie zu einem Korrelatbegriff des Begriffs der Kritik.

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Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke

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