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Оглавление»Wer blind wählet, dem schlägt Opferdampf in die Augen.«
Klopstock
Die vorliegende Literatur über Dichtungen legt es nahe, Ausführlichkeit in dergleichen Untersuchungen mehr auf Rechnung eines philologischen als eines kritischen Interesses zu setzen. Leicht könnte daher die folgende, auch im einzelnen eingehende Darlegung der Wahlverwandtschaften über die Absicht irre führen, in der sie gegeben wird. Sie könnte als Kommentar erscheinen; gemeint jedoch ist sie als Kritik. Die Kritik sucht den Wahrheitsgehalt eines Kunstwerks, der Kommentar seinen Sachgehalt. Das Verhältnis der beiden bestimmt jenes Grundgesetz des Schrifttums, demzufolge der Wahrheitsgehalt eines Werkes, je bedeutender es ist, desto unscheinbarer und inniger an seinen Sachgehalt gebunden ist. Wenn sich demnach als die dauernden gerade jene Werke erweisen, deren Wahrheit am tiefsten ihrem Sachgehalt eingesenkt ist, so stehen im Verlaufe dieser Dauer die Realien dem Betrachtenden im Werk desto deutlicher vor Augen, je mehr sie in der Welt absterben. Damit aber tritt der Erscheinung nach Sachgehalt und Wahrheitsgehalt, in der Frühzeit des Werkes geeint, auseinander mit seiner Dauer, weil der letzte immer gleich verborgen sich hält, wenn der erste hervordringt. Mehr und mehr wird für jeden späteren Kritiker die Deutung des Auffallenden und Befremdenden, des Sachgehaltes, demnach zur Vorbedingung. Man darf ihn mit dem Paläographen vor einem Pergamente vergleichen, dessen verblichener Text überdeckt wird von den Zügen einer kräftigern Schrift, die auf ihn sich bezieht. Wie der Paläograph mit dem Lesen der letztern beginnen müßte, so der Kritiker mit dem Kommentieren. Und mit einem Schlag entspringt ihm daraus ein unschätzbares Kriterium seines Urteils: nun erst kann er die kritische Grundfrage stellen, ob der Schein des Wahrheitsgehaltes dem Sachgehalt oder das Leben des Sachgehaltes dem Wahrheitsgehalt zu verdanken sei. Denn indem sie im Werk auseinandertreten, entscheiden sie über seine Unsterblichkeit. In diesem Sinne bereitet die Geschichte der Werke ihre Kritik vor und daher vermehrt die historische Distanz deren Gewalt. Will man, um eines Gleichnisses willen, das wachsende Werk als den flammenden Scheiterhaufen ansehn, so steht davor der Kommentator wie der Chemiker, der Kritiker gleich dem Alchimisten. Wo jenem Holz und Asche allein die Gegenstände seiner Analyse bleiben, bewahrt für diesen nur die Flamme selbst ein Rätsel: das des Lebendigen. So fragt der Kritiker nach der Wahrheit, deren lebendige Flamme fortbrennt über den schweren Scheitern des Gewesenen und der leichten Asche des Erlebten.
Dem Dichter wie dem Publikum seiner Zeit wird sich nicht zwar das Dasein, wohl aber die Bedeutung der Realien im Werke zumeist verbergen. Weil aber nur von ihrem Grunde das Ewige des Werkes sich abhebt, umfaßt jede zeitgenössische Kritik, so hoch sie auch stehen mag, in ihm mehr die bewegende als die ruhende Wahrheit, mehr das zeitliche Wirken als das ewige Sein. Doch wie wertvoll immer Realien für die Deutung des Werkes sein mögen – kaum braucht es gesagt zu werden, daß das Goethesche Schaffen nicht wie das eines Pindar sich betrachten läßt. Vielmehr war gewiß nie eine Zeit, der mehr als Goethes der Gedanke fremd gewesen ist, daß die wesentlichsten Inhalte des Daseins in der Dingwelt sich auszuprägen, ja ohne solche Ausprägung sich nicht zu erfüllen vermögen. Kants kritisches Werk und Basedows Elementarwerk, das eine dem Sinn, das andere der Anschauung der damaligen Erfahrung gewidmet, geben auf sehr verschiedene, doch gleichermaßen bündige Weise Zeugnis von der Armseligkeit ihrer Sachgehalte. In diesem bestimmenden Zuge der deutschen – wenn nicht der gesamteuropäischen – Aufklärung darf eine unerläßliche Vorbedingung des Kantischen Lebenswerks einerseits, des Goetheschen Schaffens andererseits erblickt werden. Denn genau um die Zeit, da Kants Werk vollendet und die Wegekarte durch den kahlen Wald des Wirklichen entworfen war, begann das Goethesche Suchen nach den Samen ewigen Wachstums. Es kam jener Richtung des Klassizismus, welche weniger das Ethische und Historische zu erfassen suchte als das Mythische und Philologische. Nicht auf die werdenden Ideen, sondern auf die geformten Gehalte, wie sie Leben und Sprache verwahrten, ging ihr Denken. Nach Herder und Schiller nahmen Goethe und Wilhelm von Humboldt die Führung. Wenn der erneuerte Sachgehalt, der in Goethes Altersdichtungen vorlag, seinen Zeitgenossen entging, wo er nicht wie im Divan sich betonte, so kam dies, ganz im Gegensatz zur entsprechenden Erscheinung im antiken Leben, daher, daß selbst das Suchen nach einem solchen denselben fremd war.
Wie klar in den erhabensten Geistern der Aufklärung die Ahnung des Gehalts oder die Einsicht in die Sache war, wie unfähig dennoch selbst sie, zur Anschauung des Sachgehalts sich zu erheben, wird angesichts der Ehe zwingend deutlich. An ihr als einer der strengsten und sachlichsten Ausprägungen menschlichen Lebensgehalts bekundet zugleich am frühesten, in den Goetheschen Wahlverwandtschaften, sich des Dichters neue, auf synthetische Anschauung der Sachgehalte hingewendete Betrachtung. Kants Definition der Ehe aus der »Metaphysik der Sitten«, deren einzig als Exempel rigoroser Schablone oder als Kuriosum der senilen Spätzeit hin und wieder gedacht wird, ist das erhabenste Produkt einer ratio, welche, unbestechlich treu sich selber, in den Sachverhalt unendlich tiefer eindringt, als gefühlvolles Vernünfteln tut. Zwar bleibt der Sachgehalt selbst, welcher allein philosophischer Anschauung – genauer: philosophischer Erfahrung – sich ergibt, beiden verschlossen, aber wo das eine ins Bodenlose führt, trifft die andere genau auf den Grund, wo die wahre Erkenntnis sich bildet. Sie erklärt demnach die Ehe als »die Verbindung zweier Personen verschiedenen Geschlechts zum lebenswierigen wechselseitigen Besitz ihrer Geschlechtseigenschaften. – Der Zweck Kinder zu erzeugen und zu erziehen mag immer ein Zweck der Natur sein, zu welchem sie die Neigung der Geschlechter gegen einander einpflanzte; aber daß der Mensch, der sich verehelicht, diesen Zweck sich vorsetzen müsse, wird zur Rechtmäßigkeit dieser seiner Verbindung nicht erfordert; denn sonst würde, wenn das Kinderzeugen aufhört, die Ehe sich zugleich von selbst auflösen«. Freilich war es der ungeheuerste Irrtum des Philosophen, daß er meinte, aus dieser Definition, die er von der Natur der Ehe gab, ihre sittliche Möglichkeit, ja Notwendigkeit durch Ableitung darlegen und dergestalt ihre rechtliche Wirklichkeit bestätigen zu können. Ableitbar aus der sachlichen Natur der Ehe wäre ersichtlich nur ihre Verworfenheit – und darauf läuft es bei Kant unversehens hinaus. Allein das ist ja das Entscheidende, daß niemals ableitbar ihr Gehalt sich zur Sache verhält, sondern daß er als das Siegel erfaßt werden muß, das sie darstellt. Wie die Form eines Siegels unableitbar ist aus dem Stoff des Wachses, unableitbar aus dem Zweck des Verschlusses, unableitbar sogar aus dem Petschaft, wo konkav ist, was dort konvex, wie es erfaßbar erst demjenigen ist, der jemals die Erfahrung des Siegelns hatte und evident erst dem, der den Namen kennt, den die Initialen nur andeuten, so ist abzuleiten der Gehalt der Sache weder aus der Einsicht in ihren Bestand, noch durch die Erkundung ihrer Bestimmung, noch selbst aus der Ahnung des Gehalts, sondern erfaßbar allein in der philosophischen Erfahrung ihrer göttlichen Prägung, evident allein der seligen Anschauung des göttlichen Namens. Dergestalt fällt zuletzt die vollendete Einsicht in den Sachgehalt der beständigen Dinge mit derjenigen in ihren Wahrheitsgehalt zusammen. Der Wahrheitsgehalt erweist sieh als solcher des Sachgehalts. Dennoch ist ihre Unterscheidung – und mit ihr die von Kommentar und von Kritik der Werke – nicht müßig, sofern Unmittelbarkeit zu erstreben nirgends verworrener als hier, wo das Studium der Sache und ihrer Bestimmung wie die Ahnung ihres Gehalts einer jeden Erfahrung vorherzugehen haben. In solcher sachlichen Bestimmung der Ehe ist Kants Thesis vollendet und im Bewußtsein ihrer Ahnungslosigkeit erhaben. Oder vergißt man, über seine Sätze belustigt, was ihnen vorhergeht? Der Beginn jenes Paragraphen lautet: »Geschlechtsgemeinschaft (commercium sexuale) ist der wechselseitige Gebrauch, den ein Mensch von eines andern Geschlechtsorganen und -vermögen macht (usus membrorum et facultatum sexualium alterius), und entweder ein natürlicher (wodurch seinesgleichen erzeugt werden kann) oder unnatürlicher Gebrauch und dieser entweder an einer Person ebendesselben Geschlechts oder einem Tier von einer anderen als der Menschengattung«. So Kant. Hält man diesem Abschnitt der »Metaphysik der Sitten« Mozarts Zauberflöte zur Seite, so scheinen die extremsten und zugleich die tiefsten Anschauungen sich darzustellen, die das Zeitalter von der Ehe besaß. Denn die Zauberflöte hat, soweit überhaupt einer Oper das möglich ist, gerade die eheliche Liebe zu ihrem Thema. Dies scheint selbst Cohen, mit dessen später Schrift über Mozarts Operntexte sich die beiden genannten Werke in einem so würdigen Geiste begegnen, nicht durchaus erkannt zu haben. Weniger das Sehnen der Liebenden als die Standhaftigkeit der Gatten ist der Inhalt der Oper. Es ist nicht nur, einander zu gewinnen, daß sie Feuer und Wasser durchschreiten sollen, sondern um auf immer vereinigt zu bleiben. Hier ist, so sehr der Geist der Freimaurerei alle sachlichen Bindungen auflösen mußte, die Ahnung des Gehalts zum reinsten Ausdruck im Gefühl der Treue gekommen.
Ist wirklich Goethe in den Wahlverwandtschaften dem Sachgehalt der Ehe näher als Kant und Mozart? Leugnen müßte man es schlechtweg, wollte man ernsthaft, im Gefolge der ganzen Goethephilologie, Mittlers Worte darüber für solche des Dichters nehmen. Nichts erlaubt diese Annahme, allzuvieles erklärt sie. Suchte doch der schwindelnde Blick einen Anhalt in dieser Welt, die wie in Strudeln kreisend versinkt. Da waren nur die Worte des verkniffenen Polterers, die man froh war nehmen zu können wie man sie fand. »Wer mir den Ehstand angreift, rief er aus, wer mir durch Wort, ja durch Tat diesen Grund aller sittlichen Gesellschaft untergräbt, der hat es mit mir zu tun; oder wenn ich sein nicht Herr werden kann, habe ich nichts mit ihm zu tun. Die Ehe ist der Anfang und der Gipfel aller Kultur. Sie macht den Rohen mild, und der Gebildetste hat keine bessere Gelegenheit, seine Milde zu beweisen. Unauflöslich muß sie sein, denn sie bringt so vieles Glück, daß alles einzelne Unglück dagegen gar nicht zu rechnen ist. Und was will man von Unglück reden? Ungeduld ist es, die den Menschen von Zeit zu Zeit anfällt, und dann beliebter, sich unglücklich zu finden. Lasse man den Augenblick vorübergehen, und man wird sich glücklich preisen, daß ein so lange Bestandnes noch besteht. Sich zu trennen, gibt’s gar keinen hinlänglichen Grund. Der menschliche Zustand ist so hoch in Leiden und Freuden gesetzt, daß gar nicht berechnet werden kann, was ein Paar Gatten einander schuldig werden. Es ist eine unendliche Schuld, die nur durch die Ewigkeit abgetragen werden kann. Unbequem mag es manchmal sein, das glaub ich wohl, und das ist eben recht. Sind wir nicht auch mit dem Gewissen verheiratet, das wir oft gerne los sein möchten, weil es unbequemer ist, als uns je ein Mann oder eine Frau werden könnte?« Hier hätte nun selbst denen, die den Pferdefuß des Sittenstrengen nicht sahen, zu denken geben müssen, daß nicht einmal Goethe, der oft skrupellos genug sich erwiesen hat, wenn es galt, den Bedenklichen heimzuleuchten, auf die Worte Mittlers zu deuten verfallen ist. Vielmehr ist es höchst bezeichnend, daß jene Philosophie der Ehe einer zum besten gibt, der ehelos selber lebend als der tiefststehende unter allen Männern des Kreises erscheint. Wo irgend bei wichtigen Anlässen er seiner Rede den Lauf läßt, ist sie fehl am Ort, sei es bei der Taufe des Neugeborenen, sei es beim letzten Weilen der Ottilie mit den Freunden. Und wird dort das Abgeschmackte in ihr hinreichend an den Wirkungen fühlbar, so hat nach seiner berühmten Apologie der Ehe Goethe geschlossen: »So sprach er lebhaft und hätte wohl noch lange fortgesprochen«. Unbeschränkt läßt sich in der Tat solche Rede verfolgen, die, um mit Kant zu sprechen, ein »ekelhafter Mischmasch« ist, »zusammengestoppelt« aus haltlosen humanitären Maximen und trüben, trügerischen Rechtsinstinkten. Niemandem sollte das Unreine darin entgehen, jene Gleichgültigkeit gegen die Wahrheit im Leben der Gatten. Alles läuft auf den Anspruch der Satzung hinaus. Doch hat in Wahrheit die Ehe niemals im Recht die Rechtfertigung, das wäre als Institution, sondern einzig als ein Ausdruck für das Bestehen der Liebe, die ihn von Natur im Tode eher suchte als im Leben. Dem Dichter jedoch blieb in diesem Werk die Ausprägung der Rechtsnorm unerläßlich. Wollte er doch nicht, wie Mittler, die Ehe begründen, vielmehr jene Kräfte zeigen, welche im Verfall aus ihr hervorgehn. Dieses aber sind freilich die mythischen Gewalten des Rechts und die Ehe ist in ihnen nur Vollstreckung eines Unterganges, den sie nicht verhängt. Denn nur darum ist ihre Auflösung verderblich, weil nicht höchste Mächte sie erwirken. Und allein in diesem aufgestörten Unheil liegt das unentrinnbar Grauenvolle des Vollzugs. Damit aber rührte Goethe in der Tat an den sachlichen Gehalt der Ehe. Denn wenn auch unverbildet diesen darzutun in seinem Sinne nicht lag, so bleibt die Einsicht in das untergehende Verhältnis gewaltig genug. Im Untergange erst wird es das rechtliche als das Mittler es hochhält. Goethen aber fiel es, wiewohl er von dem moralischen Bestande dieser Bindung eine reine Einsicht gewiß nie gewonnen, doch nicht bei, die Ehe im Eherecht zu begründen. Es ist die Moralität der Ehe für ihn im tiefsten und verschwiegenen Grunde am wenigsten zweifelsfrei gewesen. Was er im Gegensatz zu ihr an der Lebensform des Grafen und der Baronesse darzulegen wünscht, ist das Unmoralische nicht so sehr als das Nichtige. Dies eben bezeugt sich darin, daß sie weder der sittlichen Natur ihres gegenwärtigen Verhältnisses sich bewußt sind, noch der rechtlichen derjenigen, aus denen sie getreten sind. – Der Gegenstand der Wahlverwandtschaften ist nicht die Ehe. Nirgends wären ihre sittlichen Gewalten darin zu suchen. Von Anfang an sind sie im Verschwinden, wie der Strand unter Wassern zur Flutzeit. Kein sittliches Problem ist hier die Ehe und auch kein soziales. Sie ist keine bürgerliche Lebensform. In ihrer Auflösung wird alles Humane zur Erscheinung und das Mythische verbleibt allein als Wesen.
Dem widerspricht freilich der Augenschein. Nach ihm ist eine höhere Geistigkeit in keiner Ehe denkbar als in der, wo selber der Verfall es nicht vermag, die Sitte der Betroffenen zu mindern. Aber im Bereich der Gesittung ist das Edle an ein Verhältnis der Person zur Äußerung gebunden. Es steht, wo nicht die edle Äußerung jener gemäß, der Adel in Frage. Und dieses Gesetz, dessen Geltung man freilich unbeschränkt nicht ohne großen Irrtum nennen dürfte, erstreckt sich über den Bereich der Gesittung hinaus. Gibt es ohne Frage Äußerungsbereiche, deren Inhalte unangesehen dessen gelten, der sie ausprägt, ja sind dies die höchsten, so bleibt jene bindende Bedingung unverbrüchlich für das Gebiet der Freiheit im weitesten Sinne. Ihm gehört die individuelle Ausprägung des Schicklichen, ihm die individuelle Ausprägung des Geistes an: alles dasjenige, was Bildung genannt wird. Die bekunden die Vertrauten vor allem. Ist das wahrhaft ihrer Lage gemäß? Weniger Zögern möchte Freiheit, weniger Schweigen möchte Klarheit, weniger Nachsicht die Entscheidung bringen. So wahrt Bildung ihren Wert nur da, wo ihr freisteht, daß sie sich bekunde. Dies erweist auch sonst die Handlung deutlich.
Ihre Träger sind, als gebildete Menschen, fast frei vom Aberglauben. Wenn er bei Eduard hin und wieder hervortritt, so anfangs nur in der liebenswerteren Form eines Hangens an den glücklichen Vorzeichen, während einzig der banalere Charakter Mittlers, trotz dem selbstgenügsamen Gebaren, Spuren jener eigentlich abergläubischen Angst vor den bösen Omen erblicken läßt. Ihn als einzigen hält nicht die fromme sondern abergläubische Scheu davor zurück, Friedhofsgrund wie anderen zu betreten, indessen den Freunden weder dort zu lustwandeln anstößig, noch zu schalten verboten scheint. Ohne Bedenken, ja ohne Rücksicht werden die Grabsteine an der Kirchenmauer aufgereiht und der geebnete Grund, den ein Fußpfad durchzieht, bleibt zur Kleesaat dem Geistlichen überlassen. Keine bündigere Lösung vom Herkommen ist denkbar, als die von den Gräbern der Ahnen vollzogene, die im Sinne nicht nur des Mythos sondern der Religion den Boden unter den Füßen der Lebenden gründen. Wohin führt ihre Freiheit die Handelnden? Weit entfernt, neue Einsichten zu erschließen, macht sie sie blind gegen dasjenige, was Wirkliches dem Gefürchteten einwohnt. Und dies daher, weil sie ihnen ungemäß ist. Nur die strenge Bindung an ein Ritual, die Aberglaube einzig heißen darf, wo sie ihrem Zusammenhange entrissen rudimentär überdauert, kann jenen Menschen Halt gegen die Natur versprechen, in der sie leben. Geladen, wie nur mythische Natur es ist, mit übermenschlichen Kräften, tritt sie drohend ins Spiel. Wessen Macht, wenn nicht ihre, ruft den Geistlichen hinab, welcher auf dem Totenacker seinen Klee baute? Wer, wenn nicht sie, stellt den verschönten Schauplatz in ein fahles Licht? Denn ein solches durchwaltet – eigentlicher oder umschriebener verstanden – die ganze Landschaft. An keiner Stelle erscheint sie im Sonnenlicht. Und niemals, soviel auch vom Gute gesprochen wird, ist von seinen Saaten die Rede oder von ländlichen Geschäften, die nicht der Zierde, sondern dem Unterhalt dienten. Die einzige Andeutung derart – Aussicht auf die Weinlese – führt vom Schauplatz der Handlung fort auf das Gut der Baronin. Desto deutlicher spricht die magnetische Kraft des Erdinnern. Von ihr hat in der Farbenlehre – um dieselbe Zeit möglicherweise – Goethe gesagt, daß die Natur dem Aufmerksamen »nirgends tot noch stumm; ja dem starren Erdkörper hat sie einen Vertrauten zugegeben, ein Metall, an dessen kleinsten Teilen wir dasjenige, was in der ganzen Masse vorgeht, gewahr werden sollten«. Mit dieser Kraft haben Goethes Menschen Gemeinschaft und im Spiel mit dem Unten gefallen sie sich wie in ihrem Spiel mit dem Oben. Und doch, was sind zuletzt ihre unermüdlichen Anstalten zu dessen Verschönerung anderes als der Wandel von Kulissen einer tragischen Szene. So manifestiert sich ironisch eine verborgene Macht in dem Dasein der Landedelleute.
Ihren Ausdruck trägt wie das Tellurische so das Gewässer. Nirgends verleugnet der See seine unheilvolle Natur unter der toten Fläche des Spiegels. Von dem »dämonisch-schauerlichen Schicksal, das um den Lustsee waltet«, spricht bezeichnend eine ältere Kritik. Das Wasser als das chaotische Element des Lebens droht hier nicht in wüstem Wogen, das dem Menschen den Untergang bringt, sondern in der rätselhaften Stille, die ihn zu Grunde gehn läßt. Die Liebenden gehen, soweit Schicksal waltet, zu Grunde. Sie verfallen, wo sie den Segen des festen Grundes verschmähen, dem Unergründlichen, das im stehenden Gewässer vorweltlich erscheint. Buchstäblich sieht man dessen alte Macht sie beschwören. Denn zuletzt läuft jene Vereinigung der Wasser, wie sie schrittweis festem Lande Abbruch tut, auf die Wiederherstellung des einstigen Bergsees hinaus, der sich in der Gegend befand. In alledem ist die Natur es selbst, die unter Menschenhänden übermenschlich sich regt. In der Tat: sogar der Wind, »der den Kahn nach den Platanen treibt«, »erhebt sich« – wie der Rezensent der »Kirchenzeitung« höhnisch mutmaßt – »wahrscheinlich auf Befehl der Sterne«.
Die Menschen selber müssen die Naturgewalt bekunden. Denn sie sind ihr nirgends entwachsen. Ihnen gegenüber macht dies die besondere Begründung jener allgemeinern Erkenntnis aus, nach welcher die Gestalten keiner Dichtung je der sittlichen Beurteilung unterworfen sein können. Und zwar nicht, weil sie, wie die von Menschen, alle Menscheneinsicht überstiege. Vielmehr untersagen bereits die Grundlagen solcher Beurteilung deren Beziehung auf Gestalten unwidersprechlich. Die Moralphilosophie hat es stringent zu erweisen, daß die erdichtete Person immer zu arm und zu reich ist, sittlichem Urteil zu unterstehen. Vollziehbar ist es nur an Menschen. Von ihnen unterscheidet die Gestalten des Romans, daß sie völlig der Natur verhaftet sind. Und nicht sittlich über sie zu befinden, sondern das Geschehn moralisch zu erfassen, ist geboten. Töricht bleibt, wie Solger, später auch Bielschowsky es getan, ein verschwommenes sittliches Geschmacksurteil, das sich nie hervorwagen dürfte, da an Tag zu legen, wo es noch am ersten den Beifall erhaschen kann. Die Figur des Eduard tut es niemand zu Dank. Aber wieviel tiefer als jene sieht Cohen, dem es – nach den Darlegungen seiner »Ästhetik« – sinnlos gilt, Eduards Erscheinung in dem Ganzen des Romans zu isolieren. Dessen Unzuverlässigkeit, ja Roheit ist der Ausdruck flüchtiger Verzweiflung in einem verlorenen Leben. Er erscheint »in der ganzen Disposition dieser Verbindung genau so, wie er sich selbst« Charlotten gegenüber »bezeichnet: ›Denn eigentlich hänge ich doch nur von Dir ab‹. Er ist der Spielball, nicht zwar für die Launen, die Charlotte überhaupt nicht hat, aber für das Endziel der Wahlverwandtschaften, auf das ihre zentrale Natur mit ihrem festen Schwerpunkt aus allen Schwankungen heraus hinstrebt«. Von Anfang an stehen die Gestalten unter dem Banne von Wahlverwandtschaften. Aber ihre wundersamen Regungen begründen, nach Goethes tiefer, ahnungsvoller Anschauung, nicht ein inniggeistiges Zusammenstimmen der Wesen, sondern einzig die besondere Harmonie der tiefern natürlichen Schichten. Diese nämlich sind mit der leisen Verfehltheit gemeint, die jenen Fügungen ohne Ausnahme anhaftet. Wohl paßt Ottilie sich Eduards Flötenspiel an, aber es ist falsch. Wohl duldet Eduard lesend bei Ottilie, was er Charlotten verwehrte, aber es ist eine Unsitte. Wohl fühlt er sich wunderbar von ihr unterhalten, aber sie schweigt. Wohl leiden selbst die beiden gemeinsam, aber es ist nur ein Kopfschmerz. Nicht natürlich sind diese Gestalten, denn Naturkinder sind – in einem fabelhaften oder wirklichen Naturzustande – Menschen. Sie jedoch unterstehen auf der Höhe der Bildung den Kräften, welche jene als bewältigt ausgibt, ob sie auch stets sich machtlos erweisen mag, sie niederzuhalten. Für das Schickliche ließen, sie ihnen Gefühl, für das Sittliche haben sie es verloren. Nicht ein Urteil über ihr Handeln ist hier gemeint, sondern eines über ihre Sprache. Denn fühlend doch taub, sehend doch stumm gehen sie ihren Weg. Taub gegen Gott und stumm gegen die Welt. Rechenschaft mißlingt ihnen nicht durch ihr Handeln sondern durch ihr Sein. Sie verstummen.
Nichts bindet den Menschen so sehr an die Sprache wie sein Name. Kaum in irgend einer Literatur wird es eine Erzählung vom Umfang der Wahlverwandtschaften geben, in der so wenige Namen sich finden. Diese Kargheit der Namengebung ist einer Deutung außer jener landläufigen fähig, die da auf die Goethesche Neigung zu typischem Gestalten verweist. Sie gehört vielmehr innigst zum Wesen einer Ordnung, deren Glieder unter einem namenlosen Gesetze dahinleben, einem Verhängnis, das ihre Welt mit dem matten Licht der Sonnenfinsternis erfüllt. Alle Namen, bis auf den des Mittler, sind bloße Taufnamen. In diesem ist keine Spielerei, mithin keine Anspielung des Dichters zu sehen, sondern eine Wendung, die das Wesen des Trägers unvergleichlich sicher bezeichnet. Er hat als ein Mann zu gelten, dessen Selbstliebe keine Abstraktion von den Andeutungen gestattet, die ihm in seinem Namen gegeben scheinen und der ihn damit entwürdigt. Sechs Namen finden sich außer dem seinen in der Erzählung: Eduard, Otto, Ottilie, Charlotte, Luciane und Nanny. Von diesen ist aber der erste gleichsam unecht. Er ist willkürlich, seines Klanges wegen gewählt worden, ein Zug, in dem durchaus eine Analogie zum Versetzen der Grabsteine erblickt werden darf. Auch schließt sich eine Vorbedeutung an den Doppelnamen, denn es sind seine Initialen E und O, die eins der Gläser aus des Grafen Jugendzeit zum Pfande seines Liebesglücks bestimmen.
Nie ist die Fülle vorverkündender und paralleler Züge im Roman den Kritikern entgangen. Sie gilt als nächstgelegner Ausdruck seiner Art schon längst für genugsam gewürdigt. Dennoch scheint – von seiner Deutung völlig abgesehen – wie tief er das gesamte Werk durchdringt, nie voll erfaßt. Erst wenn dies aufgehellt im Blickfeld steht wird klar, daß weder ein bizarrer Hang des Autors, noch gar bloße Spannungssteigerung darinnen liegt. Dann erst tritt auch genauer an den Tag, was diese Züge allermeist enthalten. Es ist eine Todessymbolik. »Daß es zu bösen Häusern hinaus gehn muß, sieht man ja gleich im Anfang« heißt es mit einer seltsamen Redewendung bei Goethe. (Sie ist möglicherweise astrologischen Urprungs; das Grimmsche Wörterbuch kennt sie nicht.) Bei anderer Gelegenheit hat der Dichter auf das Gefühl der »Bangigkeit« hingewiesen, das mit dem moralischen Verfall in den Wahlverwandtschaften beim Leser sich einfinden soll. Auch daß Goethe Gewicht darauf legte, »wie rasch und unaufhaltsam er die Katastrophe herbeigeführt« wird berichtet. In den verborgensten Zügen ist das ganze Werk von jener Symbolik durchwebt. Ihre Sprache aber nimmt allein das Gefühl, dem sie vertraut ist, mühelos in sich auf, wo der gegenständlichen Auffassung des Lesers nur erlesene Schönheiten sich bieten. An wenigen Stellen hat Goethe auch ihr einen Hinweis gegeben und dies sind im Ganzen die einzigen geblieben, die bemerkt wurden. Sie schließen sich alle an die Episode vom kristallnen Becher an, der, zum Zerschellen bestimmt, im Wurfe aufgefangen und erhalten wird. Es ist das Bauopfer, das bei der Einweihung des Hauses zurückgewiesen wird, das Ottiliens Sterbehaus ist. Aber auch hier wahrt Goethe das verborgene Verfahren, da er aus dem freudigen Überschwang die Gebärde herleitet, welche dieses Zeremonial vollzieht. Deutlicher ist eine Gräbermahnung in den freimaurerisch gestimmten Worten der Grundsteinlegung enthalten: »Es ist ein ernstes Geschäft und unsere Einladung ist ernsthaft: denn diese Feierlichkeit wird in der Tiefe begangen. Hier innerhalb dieses engen ausgegrabenen Raumes erweisen sie uns die Ehre, als Zeugen unsers geheimnisvollen Geschäftes zu erscheinen.« Aus der freudig begrüßten Erhaltung des Bechers geht das große Motiv der Verblendung hervor. Gerade dieses Zeichen des verschmähten Opfers sucht mit allen Mitteln Eduard sich zu sichern. Um hohen Preis bringt er es nach dem Feste an sich. Sehr mit Grund heißt es in einer alten Besprechung: »Aber seltsam und schauerlich! Wie die nicht beachteten Vorbedeutungen alle eintreffen, so wird diese eine beachtete trügerisch befunden.« Und an solchen unbeachteten fehlt es in der Tat nicht. Die drei ersten Kapitel des zweiten Teils sind ganz erfüllt von Zurüstungen und Gesprächen um das Grab. Merkwürdig ist im Verlaufe der letzteren die frivole, ja banale Deutung des de mortius nihil nisi bene. »Ich hörte fragen, warum man von den Toten so unbewunden Gutes sage, von den Lebenden immer mit einer gewissen Vorsicht. Es wurde geantwortet: weil wir von jenen nichts zu befürchten haben und diese uns noch irgendwo in den Weg kommen könnten.« Wie scheint auch hier ironisch sich ein Schicksal zu verraten, durch das die Redende, Charlotte, es erfährt, wie strenge ihr zwei Verstorbene den Weg vertreten. Tage, die auf den Tod vordeuten, sind die drei, auf welche das Geburtstagsfest der Freunde fällt. Wie die Grundsteinlegung an Charlottens, so muß auch das Richtfest an Ottiliens Geburtstag unter unglücklichen Zeichen sich vollziehen. Dem Wohnhaus ist kein Segen verheißen. Friedlich aber weiht an Eduards Geburtstag seine Freundin das vollführte Grabhaus. Ganz eigen wird gegen ihr Verhältnis zur entstehenden Kapelle, deren Bestimmung freilich noch unausgesprochen ist, das der Luciane zu dem Grabmal des Mausolos gestellt. Mächtig bewegt den Erbauer Ottiliens Wesen, unvermögend bleibt Lucianens Bemühen bei verwandtem Anlaß seinen Anteil zu wecken. Dabei ist das Spiel am Tage und der Ernst geheim. Solche verborgene doch entdeckt darum nur um so schlagendere Gleichheit liegt auch in dem Motiv der Kästchen vor. Dem Geschenk an Ottilie, das den Stoff ihres Totengewandes enthält, entspricht des Architekten Behältnis mit den Funden aus Vorzeitgräbern. Von »Handelsleuten und Modehändlern« ist das eine erstanden, von dem andern heißt es, daß sein Inhalt durch die Anordnung »etwas Putzhaftes« annahm, daß »man mit Vergnügen darauf, wie auf die Kästchen eines Modehändlers hinblickte«.
Auch das dergestalt einander Entsprechende – im Genannten immer Todessymbole – ist nicht leichthin, wie es R. M. Meyer versucht, durch die Typik Goethescher Gestaltung zu erklären. Vielmehr ist erst dann die Betrachtung am Ziel, wenn sie als schicksalhaft jene Typik erkennt. Denn die »ewige Wiederkunft alles Gleichen«, wie es vor dem innerlichst verschiednen Fühlen starr sich durchsetzt, ist das Zeichen des Schicksals, mag es nun im Leben vieler sich gleichen oder in dem Einzelner sich wiederholen. Zweimal bietet Eduard dem Geschick sein Opfer an: im Kelch das erste Mal, danach – wenn auch nicht mehr willig – im eignen Leben. Diesen Zusammenhang erkennt er selbst. »Ein Glas mit unserm Namenszug bezeichnet, bei der Grundsteinlegung in die Lüfte geworfen, ging nicht zu Trümmern; es ward aufgefangen und ist wieder in meinen Händen. So will ich mich denn selbst, rief ich mir zu, als ich an diesem einsamen Ort so viel zweifelhafte Stunden verlebt hatte, mich selbst will ich an die Stelle des Glases zum Zeichen machen, ob unsere Verbindung möglich sei oder nicht. Ich gehe hin und suche den Tod, nicht als ein Rasender, sondern als einer der zu leben hofft.« Auch in der Zeichnung des Krieges, in den er sich wirft, hat man jene Neigung zum Typus als Kunstprinzip wiedergefunden. Aber selbst hier ließe sich fragen, ob nicht auch deswegen diesen Goethe so allgemein behandelt hat, weil der verhaßte gegen Napoleon ihm vorschwebte. Wie dem auch sei: nicht ein Kunstprinzip allein, sondern ein Motiv des schicksalhaften Seins vor allem ist in jener Typik zu erfassen. Diese schicksalhafte Art des Daseins, die in einem einzigen Zusammenhang von Schuld und Sühne lebende Naturen umschließt, hat der Dichter durch das Werk hin entfaltet. Sie aber ist nicht, wie Gundolf meint, der des Pflanzendaseins zu vergleichen. Kein genauerer Gegensatz zu ihr ist denkbar. Nein, nicht »nach Analogie des Verhältnisses von Keim, Blüte und Frucht ist auch Goethes Gesetzesbegriff, sein Schicksal- und Charakterbegriff in den Wahlverwandtschaften zu denken«. Goethes so wenig wie irgend ein anderer, der stichhaltig wäre. Denn Schicksal (ein anderes ist es mit dem Charakter) betrifft das Leben unschuldiger Pflanzen nicht. Nichts ist diesem ferner. Unaufhaltsam dagegen entfaltet es sich im verschuldeten Leben. Schicksal ist der Schuldzusammenhang von Lebendigem. So hat es Zelter in diesem Werke berührt, wenn er, die »Mitschuldigen« damit vergleichend, von dem Lustspiel bemerkt: »doch ist es eben darum von keiner angenehmen Wirkung, weil es vor jede Tür tritt, weil es die Guten mittrifft, und so habe ich es mit den Wahlverwandtschaften verglichen, wo auch die Besten was zu verheimlichen haben und sich selber anklagen müssen nicht auf dem rechten Weg zu sein.« Sichrer kann das Schicksalhafte nicht bezeichnet werden. Und so erscheint es in den Wahlverwandtschaften: als die Schuld, die am Leben sich forterbt. »Charlotte wird von einem Sohne entbunden. Das Kind ist aus der Lüge geboren. Zum Zeichen dessen trägt es die Züge des Hauptmanns und Ottiliens. Es ist als Geschöpf der Lüge zum Tode verurteilt. Denn nur die Wahrheit ist wesenhaft. Die Schuld an seinem Tode muß auf die fallen, die ihre Schuld an seiner innerlich unwahren Existenz nicht durch Selbstüberwindung gesühnt haben. Das sind Ottilie und Eduard. – So ungefähr wird das naturphilosophisch – ethische Schema gelautet haben, das Goethe sich für die Schlußkapitel entwarf.« Soviel ist an dieser Vermutung Bielschowskys unumstößlich: daß es ganz der Schicksalsordnung entspricht, wenn das Kind, das neugeboren in sie eintritt, nicht die alte Zerrissenheit entsühnt, sondern deren Schuld ererbend vergehen muß. Nicht von sittlicher ist hier die Rede – wie könnte das Kind sie erwerben – sondern von natürlicher, in die Menschen nicht durch Entschluß und Handlung, sondern durch Säumen und Feiern geraten. Wenn sie, nicht des Menschlichen achtend, der Naturmacht verfallen, dann zieht das natürliche Leben, das im Menschen sich die Unschuld nicht länger bewahrt als es an ein höheres sich bindet, dieses hinab. Mit dem Schwinden des übernatürlichen Lebens im Menschen wird sein natürliches Schuld, ohne daß es im Handeln gegen die Sittlichkeit fehle. Denn nun steht es in dem Verband des bloßen Lebens, der am Menschen als Schuld sich bekundet. Dem Unglück, das sie über ihn heraufbeschwört, entgeht er nicht. Wie jede Regung in ihm neue Schuld, wird jede seiner Taten Unheil auf ihn ziehen. Dies nimmt in jenem alten Märchenstoff vom Überlästigen der Dichter auf, in dem der Glückliche, der allzu reichlich gibt, das Fatum unauflöslich an sich fesselt. Auch dies das Gebaren des Verblendeten.
Ist der Mensch auf diese Stufe gesunken, so gewinnt selbst Leben scheinbar toter Dinge Macht. Sehr mit Recht hat Gundolf auf die Bedeutung des Dinghaften im Geschehen hingewiesen. Ist doch ein Kriterium der mythischen Welt jene Einbeziehung sämtlicher Sachen ins Leben. Unter ihnen war von jeher die erste das Haus. So rückt hier im Maße wie das Haus vollendet wird das Schicksal nah. Grundsteinlegung, Richtfest und Bewohnung bezeichnen ebensoviele Stufen des Unterganges. Einsam, ohne Blick auf Siedelungen liegt das Haus, und fast unausgestattet wird es bezogen,. Auf seinem Altan erscheint, indes sie abwesend ist, Charlotte, in weißem Kleide, der Freundin. Auch der Mühle im schattigen Waldgrund ist zu gedenken, wo zum ersten Male die Freunde sich im Freien versammelt haben. Die Mühle ist ein altes Symbol der Unterwelt. Mag sein, daß es aus der auflösenden und verwandelnden Natur des Mahlens sich herschreibt.
Notwendig müssen in diesem Kreis die Gewalten obsiegen, die im Zerfallen der Ehe an Tag treten. Denn es sind eben jene des Schicksals. Die Ehe scheint ein Geschick, mächtiger als die Wahl, der die Liebenden nachhängen. »Ausdauern soll man da, wo uns mehr das Geschick als die Wahl hingestellt. Bei einem Volke, einer Stadt, einem Fürsten, einem Freunde, einem Weibe festhalten, darauf Alles beziehen, deshalb Alles wirken, Alles entbehren und dulden, das wird geschätzt«. So faßt Goethe in dem Aufsatz über Winckelmann den in Rede stehenden Gegensatz. Vom Geschick her ermessen ist jede Wahl »blind« und führt blindlings ins Unheil. Ihr steht mächtig genug die verletzte Satzung entgegen, um zur Sühne der gestörten Ehe das Opfer zu fordern. Unter der mythischen Urform des Opfers also erfüllt sich die Todessymbolik in diesem Geschick. Dazu vorbestimmt ist Ottilie. Als eine Versöhnerin »steht Ottilie da in dem herrlichen« (lebenden) »Bilde; sie ist die Schmerzensreiche, die Betrübte, der das Schwert durch die Seele dringt« sagt Abeken in der vom Dichter so bewunderten Besprechung. Ähnlich Solgers gleich gemächlicher und von Goethe gleich geachteter Versuch. »Sie ist ja das wahre Kind der Natur und ihr Opfer zugleich.« Beiden Rezensenten mußte doch der Gehalt des Vorgangs völlig entgehen, weil sie nicht vom Ganzen der Darstellung sondern von dem Wesen der Heldin ausgingen. Nur im ersten Falle gibt sich das Verscheiden der Ottilie unverkennbar als Opferhandlung. Daß ihr Tod – wenn nicht im Sinn des Dichters so gewiß in dem entschiedeneren seines Werks – ein mythisches Opfer ist, erweist ein Doppeltes zur Evidenz. Zunächst: es ist dem Sinn der Romanform nicht allein entgegen, den Entschluß, aus dem Ottiliens tiefstes Wesen wie sonst nirgends spräche, ganz in Dunkelheit zu hüllen, nein, auch dem Ton der Dichtung scheint es fremd, wie unvermittelt, fast brutal sein Werk an den Tag tritt. Sodann: was jene Dunkelheit verbirgt, geht deutlich doch aus allem Übrigen hervor – die Möglichkeit, ja die Notwendigkeit des Opfers nach den tiefsten Intentionen dieses Romans. Also nicht allein als »Opfer des Geschicks« fällt Ottilie – geschweige, daß sie wahrhaft selbst »sich opfert« – sondern unerbittlicher, genauer, als das Opfer zur Entsühnung der Schuldigen. Die Sühne nämlich ist im Sinne der mythischen Welt, die der Dichter beschwört, seit jeher der Tod der Unschuldigen. Daher stirbt Ottilie, wundertätige Gebeine hinterlassend, trotz ihres Freitods als Märtyrerin.
Nirgends ist zwar das Mythische der höchste Sachgehalt, überall aber ein strenger Hinweis auf diesen. Als solchen hat es Goethe zur Grundlage seines Romans gemacht. Das Mythische ist der Sachgehalt dieses Buches: als ein mythisches Schattenspiel in Kostümen des Goetheschen Zeitalters erscheint sein Inhalt. Es liegt nahe, an eine so befremdende Auffassung dasjenige zu halten, was Goethe über sein Werk gedacht hat. Nicht als ob mit des Dichters Äußerungen der Kritik ihre Bahn vorgezeichnet sein müßte; doch je mehr sie sich von diesen entfernt, desto weniger wird sie der Aufgabe sich entziehen wollen, auch sie aus den gleichen verborgenen Ressorts wie das Werk zu verstehen. Das einzige Prinzip für ein solches Verständnis freilich kann darin nicht liegen. Biographisches nämlich, das in Kommentar und Kritik gar nicht eingeht, hat hier seine Stelle. Goethes Auslassungen über diese Dichtung sind mitbestimmt durch das Streben, zeitgenössischen Urteilen zu begegnen. Daher wäre ein Blick auf diese angezeigt, auch wenn nicht ein viel näheres Interesse, als dieser Hinweis es bezeichnet, die Betrachtung an sie weisen würde. Unter den Stimmen der Zeitgenossen wiegen wenig diejenigen – meist anonymer Beurteiler – die das Werk mit der konventionellen Achtung begrüßen, die schon damals jedem Goetheschen geschuldet wurde. Wichtig sind die ausgeprägten Sätze, wie sie unterm Namen einzelner hervorragender Berichterstatter erhalten sind. Sie sind darum nicht untypisch. Vielmehr gab es gerade unter ihren Schreibern am ersten solche, die das auszusprechen wagten, was Geringere nur aus Achtung vor dem Dichter nicht bekennen wollten. Dieser hat nichtsdestoweniger die Gesinnung seines Publikums gefühlt und aus bittrer, unverfälschter Rückerinnerung gemahnt er 1827 Zeltern, daß es, wie er sich wohl erinnern werde, gegen seine Wahlverwandtschaften sich »wie gegen das Kleid des Nessus gebärdet« habe. Kopfscheu, dumpf, wie geschlagen stand es vor einem Werke, in dem es nur die Hilfe aus den Wirrnissen des eignen Lebens suchen zu sollen meinte, ohne selbstlos in das Wesen eines fremden sich versenken zu wollen. Hierfür ist das Urteil in Frau von Staёls »De l’Allemagne« repräsentativ. Es lautet: »On ne saurait nier qu’il n’y ait dans ce livre … une profonde connaissance du coeur humain, mais une connaissance decourageante; la vie y est representee comme une chose assez indifferente, de quelque maniere qu’on la passe; triste quand on l’approfondit, assez agreable quand on l’esquive, susceptible de maladies morales qu’il faut guerir si l’on peut, et dont il faut mourir si l’on n’en peut guerir.« Nachdrücklicher scheint etwas Ähnliches mit Wielands lakonischer Wendung bezeichnet zu sein – sie ist einem Brief entnommen, dessen Adressatin unbekannt ist –: »ich gestehe Ihnen, meine Freundin, daß ich dieses wirklich schauerliche Werk nicht ohne warmen Anteil zu nehmen gelesen habe.« Die sachlichen Motive einer Ablehnung, die dem gemäßigten Befremden kaum bewußt sein mochten, treten kraß in dem Verdikt der kirchlichen Partei zutage. Den begabteren Fanatikern in ihr konnten die offenkundigen paganischen Tendenzen in dem Werke nicht entgehen. Denn wiewohl der Dichter jenen finstern Mächten alles Glück der Liebenden zum Opfer gab, vermißte ein untrüglicher Instinkt das Göttlich-Transzendente des Vollzugs. Konnte doch ihr Untergang in diesem Dasein nicht genügen – was verbürgte, daß sie in einem höheren nicht triumphierten? Ja schien nicht eben dies Goethe in den Schlußworten andeuten zu wollen? Eine »Himmelfahrt der bösen Lust« nennt daher F. H. Jacobi den Roman. In seiner evangelischen Kirchenzeitung gab Hengstenberg noch ein Jahr vor Goethes Tode wohl die breiteste Kritik von allen. Seine aufgestachelte Empfindung, welcher keinerlei Esprit zu Hilfe kommt, bot ein Muster hämischer Polemik dar. Weit jedoch bleibt dies alles hinter Werner zurück. Zacharias Werner, dem im Augenblick seiner Bekehrung am wenigsten der Spürsinn für die düstern Ritualtendenzen dieses Ablaufs fehlen konnte, sandte an Goethe – gleichzeitig mit der Nachricht von dieser – sein Sonett »Die Wahlverwandtschaften« – eine Prosa, der in Brief und Gedicht noch nach hundert Jahren der Expressionismus nichts Arrivierteres an die Seite zu setzen hätte. Spät genug merkte Goethe, woran er war und ließ dieses denkwürdige Schreiben den Schluß des Briefwechsels bilden. Das beiliegende Sonett lautet:
Die Wahlverwandtschaften
Vorbei an Gräbern und an Leichensteinen
Die schön vermummt die sichre Beut’ erwarten
Hin schlängelt sich der Weg nach Edens Garten
Wo Jordan sich und Acheron vereinen.
Erbaut auf Triebsand will getürmt erscheinen
Jerusalem; allein die gräßlich zarten
Meernixe, die sechstausend Jahr schon harrten.
Lechzen im See, durch Opfer sich zu reinen.
Da kommt ein heilig freches Kind gegangen,
Des Heiles Engel trägts, den Sohn der Sünden.
Der See schlingt alles! Weh uns! – Es war Scherz!
Will Helios die Erde denn entzünden?
Er glüht ja nur sie liebend zu umfangen!
Du darfst den Halbgott lieben. zitternd Herz!
Eins scheint gerade aus dergleichen tollem, würdelosen Lob und Tadel zu erhellen: daß der mythische Gehalt des Werkes den Zeitgenossen Goethes nicht der Einsicht, aber dem Gefühl nach gegenwärtig war. Dem ist heute anders, da die hundertjährige Tradition ihr Werk vollzogen und die Möglichkeit ursprünglicher Erkenntnis fast verschüttet hat. Wird doch, wenn ein Werk von Goethe heute seinen Leser fremd anmutet oder feindlich, bald benommenes Schweigen sich dessen bemächtigen und den wahren Eindruck ersticken. – Mit unverhohlener Freude begrüßte Goethe die beiden, die solchem Urteil entgegen, wenn auch schwächlich, sich hören ließen. Solger war der eine, Abeken der andere. Was die wohlmeinenden Worte des Letzteren betrifft, so ruhte Goethe nicht eher, bis die Form einer Kritik ihnen verliehen war, in der sie an sichtbarer Stelle erschienen. Denn in ihnen fand er das Humane betont, das die Dichtung so planvoll zur Schau stellt. Niemandem scheint es mehr den Blick auf den Grundgehalt getrübt zu haben, als Wilhelm von Humboldt: »Schicksal und innere Notwendigkeit vermisse ich vor allen Dingen darin« urteilt er seltsam genug.
Dem Streit der Meinungen nicht schweigend zufolgen, hatte Goethe einen doppelten Anlaß. Er hatte sein Werk zu verteidigen – das war der eine. Er hatte dessen Geheimnis zu wahren – das war der andere. Beide wirken zusammen, um seiner Erklärung einen ganz anderen Charakter zu geben als jenen der Deutung. Sie hat einen apologetischen und mystifizierenden Zug, welche sich trefflich in ihrem Hauptstück vereinigen. Man könnte es die Fabel von der Entsagung nennen. An ihr fand Goethe den gegebenen Halt, dem Wissen tiefem Zugang zu versagen. Zugleich war sie auch als Erwiderung auf so manchen philiströsen Angriff zu verwenden. So hat sie Goethe in dem Gespräch verlautbart. das durch Riemers Überlieferung fürder das traditionelle Bild von dem Roman bestimmte. Dort sagt er: der Kampf des Sittlichen mit der Neigung ist »hinter die Szene verlegt und man sieht, daß er vorgegangen sein müsse. Die Menschen betragen sich wie vornehme Leute, die bei allem innern Zwiespalt doch das äußere Decorum behaupten. – Der Kampf des Sittlichen eignet sich niemals zu einer ästhetischen Darstellung. Denn entweder siegt das Sittliche oder es wird überwunden. Im ersteren Falle weiß man nicht, was und warum es dargestellt worden; im andern ist es schmählich. das mit anzusehen; denn am Ende muß doch irgendein Moment dem Sinnlichen das Übergewicht über das Sittliche geben, und eben dieses Moment gibt der Zuschauer gerade nicht zu, sondern verlangt ein noch schlagenderes, das der Dritte immer wieder eludiert, je sittlicher er selbst ist. – In solchen Darstellungen muß stets das Sinnliche Herr werden; aber bestraft durch das Schicksal, d. h. durch die sittliche Natur, die sich durch den Tod ihre Freiheit salviert. – So muß der Werther sich erschießen, nachdem er die Sinnlichkeit Herr über sich werden lassen. So muß Ottilie χαρτερieren und Eduard desgleichen, nachdem sie ihrer Neigung freien Lauf gelassen. Nun feiert erst das Sittliche seinen Triumph.« Auf diese zweideutigen Sätze wie auch sonst auf jeden Drakonismus, den er im Gespräch hierüber zu betonen liebte, mochte Goethe pochen, da dem rechtlichen Vergehen in der Verletzung der Ehe, der mythischen Verschuldung, ihre Sühne mit dem Untergang der Helden so reichlich verliehen war. Nur daß dies in Wahrheit nicht Sühne aus der Verletzung, sondern Erlösung aus der Verstrickung der Ehe war. Nur daß allen jenen Worten zum Trotz zwischen Pflicht und Neigung ein Kampf weder sichtbar noch heimlich sich abspielt. Nur daß niemals triumphierend hier das Sittliche, sondern einzig und allein im Unterliegen lebt. So liegt der moralische Gehalt dieses Werkes in viel tiefern Schichten als es Goethes Worte vermuten lassen. Ihre Ausflüchte sind weder möglich noch nötig. Denn nicht allein unzulänglich sind seine Erörterungen in ihrem Gegensatz zwischen Sinnlichem und Sittlichem, sondern offenkundig unhaltbar in ihrer Ausschließung des innern ethischen Kampfes als eines Gegenstandes dichterischen Bildens. Was bliebe anders wohl vom Drama, vom Roman selbst übrig? Wie aber auch moralisch der Gehalt dieser Dichtung sich fassen lasse – ein fabula docet enthält sie nicht und in der matten Mahnung zur Entsagung, mit welcher die gelehrige Kritik seit jeher ihre Abgründe und Gipfel nivellierte, ist sie von fern nicht berührt. Zudem ist von Mézières bereits mit Recht auf die epikuräische Tendenz, die Goethe dieser Haltung leiht, verwiesen worden. Daher trifft viel tiefer das Geständnis aus dem »Briefwechsel mit einem Kinde«, und nur widerstrebend läßt man von der Wahrscheinlichkeit sich überzeugen, daß Bettina, der dieser Roman in vieler Hinsicht fern stand, es erdichtet hat. Dort steht, er habe sich »hier die Aufgabe gemacht, in diesem einen erfundenen Geschick wie in einer Grabesurne die Tränen für manches Versäumte zu sammeln«. Man nennt aber das, dem man entsagte, nicht Versäumtes. So ist denn wohl nicht Entsagung in so manch einem Verhältnis seines Lebens das erste in Goethe gewesen sondern die Versäumnis. Und als er die Unwiederbringlichkeit des Versäumten, die Unwiederbringlichkeit aus Versäumnis erkannte, da erst mag ihm die Entsagung sich ergeben haben und ist nur der letzte Versuch, Verlorenes im Gefühl noch zu umfangen. Das mag auch Minna Herzlieb gegolten haben.
Das Verständnis der Wahlverwandtschaften aus des Dichters eigenen Worten darüber erschließen zu wollen, ist vergebene Mühe. Gerade sie sind ja dazu bestimmt, der Kritik den Zugang zu verlegen. Dafür aber ist der letzte Grund nicht die Neigung Torheit abzuwehren. Vielmehr liegt er eben in dem Streben, alles jenes unvermerkt zu lassen, was des Dichters eigene Erklärung verleugnet. Der Technik des Romans einerseits, dem Kreise der Motive andererseits war ihr Geheimnis zu wahren. Der Bereich poetischer Technik bildet die Grenze zwischen einer oberen, freiliegenden und einer tieferen, verborgenen Schichtung der Werke. Was der Dichter als seine Technik bewußt hat, was auch schon der zeitgenössischen Kritik grundsätzlich erkennbar als solche, berührt zwar die Realien im Sachgehalt, bildet aber die Grenze gegen ihren Wahrheitsgehalt, der weder dem Dichter noch der Kritik seiner Tage restlos bewußt sein kann. In der Technik, welche – zum Unterschied von der Form – nicht durch den Wahrheitsgehalt, sondern durch die Sachgehalte allein entscheidend bestimmt wird, sind diese notwendig bemerkbar. Denn dem Dichter ist die Darstellung der Sachgehalte das Rätsel, dessen Lösung er in der Technik zu suchen hat. So konnte Goethe sich durch die Technik der Betonung der mythischen Mächte in seinem Werke versichern. Welche letzte Bedeutung sie haben, mußte ihm wie dem Zeitgeist entgehn. Diese Technik aber suchte der Dichter als sein Kunstgeheimnis zu hüten. Hierauf scheint es anzuspielen, wenn er sagt, er habe den Roman nach einer Idee gearbeitet. Diese darf als technische begriffen werden. Anders wäre kaum der Zusatz verständlich, der den Wert von solchem Vorgehn in Frage stellt. Sehr wohl aber ist begreiflich, daß dem Dichter die unendliche Subtilität, die die Fülle der Beziehung in dem Buch verbarg, einmal zweifelhaft erscheinen konnte. »Ich hoffe, Sie sollen meine alte Art und Weise darin finden. Ich habe viel hineingelegt, manches hineinversteckt. Möge auch Ihnen dies offenbare Geheimnis zur Freude gereichen.« So schreibt Goethe an Zelter. Im gleichen Sinne pocht er auf den Satz, daß in dem Werke mehr enthalten sei »als irgend jemand bei einmaligem Lesen aufzunehmen imstande wäre«. Deutlicher als alles spricht aber die Vernichtung der Entwürfe. Denn es möchte schwerlich Zufall sein, daß von diesen nicht einmal ein Bruchstück aufbehalten blieb. Vielmehr hat der Dichter offenbar ganz vorsätzlich alles dasjenige zerstört, was die durchaus konstruktive Technik des Werkes gezeigt hätte. – Ist das Dasein der Sachgehalte dergestalt versteckt, so verbirgt ihr Wesen sich selbst. Alle mythische Bedeutung sucht Geheimnis. Daher konnte gerade von diesem Werk Goethe selbstgewiß sagen, das Gedichtete behaupte sein Recht wie das Geschehene. Solches Recht wird hier in der Tat, in dem sarkastischen Sinne des Satzes, nicht der Dichtung sondern dem Gedichteten verdankt – der mythischen Stoffschicht des Werkes. In diesem Bewußtsein durfte Goethe unnahbar, zwar nicht über, jedoch in seinem Werke verharren, gemäß den Worten, welche Humboldts kritische Sätze beschließen: »Ihm aber darf man so etwas nicht sagen. Er hat keine Freiheit über seine eigenen Sachen und wird stumm, wenn man im Mindesten tadelt.« So steht Goethe im Alter aller Kritik gegenüber: als Olympier. Nicht im Sinne des leeren epitheton ornans oder schön erscheinender Gestalt, den die Neuern ihm geben. Dieses Wort – Jean Paul wird es zugeschrieben – bezeichnet die dunkle, in sich selbst versunkene, mythische Natur, die in sprachloser Starre dem Goetheschen Künstlertum innewohnt. Als Olympier hat er den Grundbau des Werkes gelegt und mit kargen Worten das Gewölbe geschlossen.
In dessen Dämmerung trifft der Blick auf das, was am verborgensten in Goethe ruht. Solche Züge und Zusammenhänge, die im Lichte der alltäglichen Betrachtung sich nicht zeigen, werden klar. Und wiederum ist es allein durch sie, wenn mehr und mehr der paradoxe Schein von der vorangegangenen Deutung schwindet. So erscheint ein Urgrund Goetheschen Forschens in Natur nur hier. Dieses Studium beruht auf bald naivem, bald auch wohl bedachterem Doppelsinn in dem Naturbegriff. Er bezeichnet nämlich bei Goethe sowohl die Sphäre der wahrnehmbaren Erscheinungen wie auch die der anschaubaren Urbilder. Niemals hat doch Goethe Rechenschaft von dieser Synthesis erbringen können. Vergebens suchen seine Forschungen statt philosophischer Ergründung den Erweis für die Identität der beiden Sphären empirisch durch Experimente zu führen. Da er die »wahre« Natur nicht begrifflich bestimmte, ist er ins fruchtbare Zentrum einer Anschauung niemals gedrungen, die ihn die Gegenwart »wahrer« Natur als Urphänomen in ihren Erscheinungen suchen hieß, wie er in den Kunstwerken sie voraussetzte. Solger gewahrt diesen Zusammenhang, der insbesondere gerade zwischen den Wahlverwandtschaften und Goethescher Naturforschung besteht, wie ihn auch die Selbstanzeige betont. Bei ihm heißt es: »Die Farbenlehre hat mich … gewissermaßen überrascht. Weiß Gott, wie ich mir vorher gar keine bestimmte Erwartung davon gebildet hatte; meistens glaubte ich bloße Experimente darin zu finden. Nun ist es ein Buch, worin die Natur lebendig, menschlich und unumgänglich geworden ist. Mich dünkt, es gibt auch den Wahlverwandtschaften einiges Licht.« Die Entstehung der Farbenlehre ist auch zeitlich der des Romans benachbart. Goethes Forschungen im Magnetismus vollends greifen deutlich in das Werk selbst ein. Diese Einsicht in Natur, an der der Dichter die Bewährung seiner Werke stets vollziehen zu können glaubte, vollendete seine Gleichgültigkeit gegen Kritik. Ihrer bedurfte es nicht. Die Natur der Urphänomene war der Maßstab, ablesbar jeden Werkes Verhältnis zu ihr. Aber auf Grund jenes Doppelsinns im Naturbegriff wurde zu oft aus den Urphänomenen als Urbild die Natur als das Vorbild. Niemals wäre diese Ansicht mächtig geworden, wenn – in Auflösung der gedachten Äquivokation – es sich Goethe erschlossen hätte, daß adäquat im Bereich der Kunst allein die Urphänomene – als Ideale – sich der Anschauung darstellen, während in der Wissenschaft die Idee sie vertritt, die den Gegenstand der Wahrnehmung zu bestrahlen, doch in der Anschauung nie zu wandeln vermag. Die Urphänomene liegen der Kunst nicht vor, sie stehen in ihr. Von Rechts wegen können sie niemals Maßstäbe abgeben. Scheint bereits in dieser Kontamination des reinen und empirischen Bereichs die sinnliche Natur den höchsten Ort zu fordern, so triumphiert ihr mythisches Gesicht in der Gesamterscheinung ihres Seins. Es ist für Goethe nur das Chaos der Symbole. Als solche nämlich treten bei ihm ihre Urphänomene, in Gemeinschaft mit den andern auf, wie so deutlich unter den Gedichten das Buch »Gott und Welt« es vorstellt. Nirgends hat der Dichter je versucht, eine Hierarchie der Urphänomene zu begründen. Seinem Geiste stellt die Fülle ihrer Formen nicht anders sich dar als dem Ohre die verworrene Tonwelt. In dieses Gleichnis mag erlaubt sein, eine Schilderung, die er von ihr bietet, zu wenden, weil sie selbst so deutlich wie nur weniges den Geist, in dem er die Natur betrachtet, kund gibt. »Man schließe das Auge, man öffne, man schärfe das Ohr, und vom leisesten Hauch bis zum wildesten Geräusch, vom einfachsten Klang bis zur höchsten Zusammenstimmung, von dem heftigsten leidenschaftlichen Schrei bis zum sanftesten Worte der Vernunft ist es nur die Natur, die spricht, ihr Dasein, ihre Kraft, ihr Leben und ihre Verhältnisse offenbart, so daß ein Blinder, dem das unendlich Sichtbare versagt ist, im Hörbaren ein unendlich Lebendiges fassen kann.« Wenn im extremsten Sinne also selbst die »Worte der Vernunft« zum Habe der Natur geschlagen werden, was Wunder, wenn für Goethe der Gedanke niemals ganz das Reich der Urphänomene durchleuchtete. Damit aber beraubte er sich der Möglichkeit Grenzen zu ziehen. Unterscheidungslos verfällt das Dasein dem Begriffe der Natur, der ins Monströse wächst, wie das Fragment von 1780 lehrt. Und zu den Sätzen dieses Bruchstücks – »der Natur« – hat Goethe noch im späten Alter sich bekannt. Ihr Schlußwort lautet: »Sie hat mich hereingestellt, sie wird mich auch herausführen. Ich vertraue mich ihr. Sie mag mit mir schalten; sie wird ihr Werk nicht hassen. Ich sprach nicht von ihr; nein, was wahr ist und was falsch ist, Alles hat sie gesprochen. Alles ist ihre Schuld, Alles ist ihr Verdienst.« In dieser Weltbetrachtung ist das Chaos. Denn darein mündet zuletzt das Leben des Mythos, welches ohne Herrscher oder Grenzen sich selbst als die einzige Macht im Bereiche des Seienden einsetzt.
Die Abkehr von aller Kritik und die Idololatrie der Natur sind die mythischen Lebensformen im Dasein des Künstlers. Daß sie in Goethe eine höchste Prägnanz erhalten, dies wird man im Namen des Olympiers bedeutet sehn dürfen. Er bezeichnet zugleich im mythischen Wesen das Lichte. Aber ein Dunkles entspricht ihm, das aufs Schwerste das Dasein des Menschen beschattet hat. Davon lassen sich Spuren in »Wahrheit und Dichtung« erkennen. Doch das wenigste drang in Goethes Bekenntnisse durch. Einzig der Begriff des Dämonischen steht, wie ein unabgeschliffener Monolith, in ihrer Ebene. Mit ihm leitete Goethe den letzten Abschnitt des autobiographischen Werkes ein. »Man hat im Verlaufe dieses biographischen Vortrags umständlich gesehen, wie das Kind, der Knabe, der Jüngling sich auf verschiedenen Wegen dem Übersinnlichen zu nähern gesucht; erst mit Neigung nach einer natürlichen Religion hingeblickt, dann mit Liebe sich an eine positive festgeschlossen; ferner durch Zusammenziehung in sich selbst seine eignen Kräfte versucht und sich endlich dem allgemeinen Glauben freudig hingegeben. Als er in den Zwischenräumen dieser Regionen hin und wieder wanderte, suchte, sich umsah, begegnete ihm manches, was zu keiner von allen gehören mochte, und er glaubte mehr und mehr einzusehen, daß es besser sei, den Gedanken von dem Ungeheuren, Unfaßlichen abzuwenden. – Er glaubte in der Natur, der belebten und unbelebten, der beseelten und unbeseelten, etwas zu entdecken, das sich nur in Widersprüchen manifestierte und deshalb unter keinen Begriff, noch viel weniger unter ein Wort gefaßt werden könnte. Es war nicht göttlich, denn es schien unvernünftig; nicht menschlich, denn es hatte keinen Verstand; nicht teuflisch, denn es war wohltätig; nicht englisch, denn es ließ oft Schadenfreude merken. Es glich dem Zufall, denn es bewies keine Folge; es ähnelte der Vorsehung, denn es deutete auf Zusammenhang. Alles, was uns begrenzt, schien für dasselbe durchdringbar; es schien mit den notwendigen Elementen unsres Daseins willkürlich zu schalten; es zog die Zeit zusammen und dehnte den Raum aus. Nur im Unmöglichen schien es sich zu gefallen und das Mögliche mit Verachtung von sich zu stoßen. – Dieses Wesen, das zwischen alle übrigen hineinzutreten, sie zu sondern, sie zu verbinden schien, nannte ich dämonisch, nach dem Beispiel der Alten und Derer, die etwas Ähnliches gewahrt hatten. Ich suchte mich vor diesem furchtbaren Wesen zu retten«. Es bedarf kaum des Hinweises, daß in diesen Worten, nach mehr als fünfunddreißig Jahren, die gleiche Erfahrung unfaßbarer Naturzweideutigkeit sich kundtut, wie in dem berühmten Fragmente. Die Idee des Dämonischen, die abschließend noch im Egmont-Zitat von »Wahrheit und Dichtung«, anführend in der ersten Stanze der »Orphischen Urworte« sich findet, begleitet Goethes Anschauung sein Leben lang. Sie ist es, die in der Schicksalsidee der Wahlverwandtschaften hervortritt, und wenn es noch zwischen beiden der Vermittlung bedürfte, so fehlt auch sie, die seit Jahrtausenden den Ring beschließt, bei Goethe nicht. Greifbar weisen die Urworte, andeutend die Lebenserinnerungen auf die Astrologie als den Kanon des mythischen Denkens. Mit der Hindeutung aufs Dämonische schließt, mit der aufs Astrologische beginnt »Wahrheit und Dichtung«. Und nicht gänzlich scheint dies Leben astrologischer Betrachtung entzogen. Goethes Horoskop, wie es halb spielend und halb ernst Bolls »Sternglaube und Sterndeutung« gestellt hat, verweist von seiner Seite auf die Trübung dieses Daseins. »Auch daß der Aszendent dem Saturn dicht folgt und dabei in dem schlimmen Skorpion liegt, wirft einige Schatten auf dieses Leben; mindestens eine gewisse Verschlossenheit wird das als ›rätselhaft‹ geltende Tierkreiszeichen, im Verein mit dem versteckten Wesen des Saturn, im höheren Lebensalter verursachen; aber auch« – und dies weist auf das Folgende voraus – »als ein auf der Erde kriechendes Tierkreiswesen, in dem der ›erdige Planet‹ Saturn steht, jene starke Diesseitigkeit, die sich ›in derber Liebeslust mit klammernden Organen‹ an die Erde hält.«
»Ich suchte mich vor diesem furchtbaren Wesen zu retten«. Den Umgang der dämonischen Kräfte erkauft die mythische Menschheit mit Angst. Sie hat aus Goethe oft unverkennbar gesprochen. Ihre Manifestationen sind aus der anekdotischen Vereinzelung, in der fast widerwillig von den Biographen ihrer gedacht wird, in das Licht einer Betrachtung zu stellen, die freilich schreckhaft deutlich die Gewalt uralter Mächte in dem Leben dieses Mannes zeigt, der doch nicht ohne sie zum größten Dichter seines Volks geworden ist. Die Angst vorm Tod, die jede andere einschließt, ist die lauteste. Denn er bedroht die gestaltlose Panarchie des natürlichen Lebens am meisten, die den Bannkreis des Mythos bildet. Die Abneigung des Dichters gegen den Tod und gegen alles, was ihn bezeichnet, trägt ganz die Züge äußerster Superstition. Es ist bekannt, daß bei ihm niemand je von Todesfällen reden durfte, weniger bekannt, daß er niemals ans Sterbebette seiner Frau getreten ist. Seine Briefe bekunden dem Tode des eigenen Sohnes gegenüber dieselbe Gesinnung. Nichts bezeichnender als jenes Schreiben, in dem er Zeltern den Verlust vermeldet und seine wahrhaft dämonische Schlußformel: »Und so, über Gräber, vorwärts!« In diesem Sinne setzt die Wahrheit der Worte, die man dem Sterbenden in den Mund gelegt hat, sich durch. Darinnen hält die mythische Lebendigkeit zuletzt dem nahen Dunkel ihren ohnmächtigen Lichtwunsch entgegen. Auch wurzelte in ihr der beispiellose Selbstkultus der letzten Lebensjahrzehnte. »Wahrheit und Dichtung«, die »Tag- und Jahreshefte«, die Herausgabe des Briefwechsels mit Schiller, die Sorge für denjenigen mit Zelter sind ebensoviele Bemühungen, den Tod zu vereiteln. Noch klarer spricht die heidnische Besorgnis, welche statt als Hoffnung die Unsterblichkeit zu hüten als ein Pfand sie fordert, aus alledem, was er vom Fortbestand der Seele sagt. Wie die Unsterblichkeitsidee des Mythos selbst als ein »Nicht-Sterben-Können« aufgezeigt ward, so ist sie auch im Goetheschen Gedanken nicht der Zug der Seele in das Heimatreich, sondern eine Flucht vom Grenzenlosen her ins Grenzenlose. Vor allem das Gespräch nach Wielands Tod, das Falk überliefert, will die Unsterblichkeit naturgemäß und auch, wie zur Betonung des Unmenschlichen in ihr, nur großen Geistern eigentlichst zugebilligt wissen.
Kein Gefühl ist reicher an Varianten als die Angst. Zur Todesangst gesellt sich die vorm Leben, wie zum Grundton seine zahllosen Obertöne. Auch das barocke Spiel der Lebensangst vernachlässigt, verschweigt die Tradition. Ihr gilt es eine Norm in Goethe aufzustellen und dabei ist sie weit davon entfernt, den Kampf der Lebensformen, den er in sich austrug, zu gewahren. Zu tief hat Goethe ihn in sich verschlossen. Daher die Einsamkeit in seinem Leben und, bald schmerzlich und bald trotzig, das Verstummen. Gervinus hat in seiner Schrift »Über den Goetheschen Briefwechsel« in der Schilderung der Weimarer Frühzeit gezeigt, wie bald sich das einstellt. Am ersten und am sichersten von allen hat er die Aufmerksamkeit auf diese Phänomene im Goetheschen Leben gelenkt; er vielleicht als einziger hat ihre Bedeutung geahnt, wie irrig er auch über ihren Wert geurteilt habe. So entgeht ihm weder das schweigende Insichversunkensein der Spätzeit noch ihr ins Paradoxe gesteigerter Anteil an den Sachgehalten des eignen Lebens. Aus beiden aber spricht die Lebensangst: die Angst vor seiner Macht und Breite aus dem Sinnen, die Angst vor seiner Flucht aus dem Umfassen. Gervinus bestimmt in seiner Schrift den Wendepunkt, der das Schaffen des alten Goethe von dem der früheren Perioden trennt und er setzt ihn in das Jahr 1797, in die Zeit der projektierten italienischen Reise. In einem gleichzeitigen Schreiben an Schiller handelt Goethe von Gegenständen, die ohne »ganz poetisch« zu sein, eine gewisse poetische Stimmung in ihm erweckt hätten. Er sagt: »Ich habe daher die Gegenstände, die einen solchen Effekt hervorbringen, genau betrachtet und zu meiner Verwunderung bemerkt, daß sie eigentlich symbolisch sind.« Das Symbolische aber ist das, worin die unauflösliche und notwendige Bindung eines Wahrheitsgehaltes an einen Sachgehalt erscheint. »Wenn man«, so heißt es in dem gleichen Brief, »künftig bei weitern Fortschritten der Reise nicht sowohl aufs Merkwürdige, sondern aufs Bedeutende seine Aufmerksamkeit richtete, so müßte man für sich und andere doch zuletzt eine schöne Ernte gewinnen. Ich will es erst noch hier versuchen, was ich Symbolisches bemerken kann, besonders aber an fremden Orten, die ich zum ersten Mal sehe, mich üben. Gelänge das, so müßte man ohne die Erfahrung in die Breite verfolgen zu wollen, doch wenn man auf jedem Platz, in jedem Moment, soweit es einem vergönnt wäre, in die Tiefe ginge, noch immer genug Beute aus bekannten Ländern und Gegenden davon tragen.« »Man darf« – so schließt Gervinus an – »wohl sagen, daß dies in seinen spätern poetischen Produkten fast durchgängig der Fall ist und daß er darin Erfahrungen, die er ehedem in sinnlicher Breite, wie es die Kunst verlangt, vorgeführt hatte, nach einer gewissen geistigen Tiefe mißt, wobei er sich oft ins Bodenlose verliert. Schiller durchschaut diese so mysteriös verhüllte neue Erfahrung sehr scharf … eine poetische Forderung ohne eine poetische Stimmung und ohne poetischen Gegenstand scheine sein Fall zu sein. In der Tat komme es hier viel weniger auf den Gegenstand an, als auf das Gemüt, ob ihm der Gegenstand etwas bedeuten solle.« (Und nichts ist kennzeichnender für den Klassizismus als dieses Streben in dem gleichen Satz das Symbol zu erfassen und zu relativieren.) »Das Gemüt sei es, das hier die Grenze steckt, und das Gemeine und Geistreiche kann er auch hier wie überall nur in der Behandlung, nicht in der Wahl des Stoffes finden. Was ihm jene beiden Plätze waren, meint er, wäre ihm in aufgeregter Stimmung jede Straße, Brücke usw. gewesen. Wenn Schiller die unternehmbaren Folgen dieser neuen Betrachtungsweise in Goethe hätte ahnen können, so würde er ihn schwerlich ermuntert haben, sich ihr ganz zu überlassen, weil durch eine solche Ansicht der Gegenstände in das Einzelne eine Welt gelegt werde … Denn so ist es gleich die nächste Folge, daß Goethe anfängt, sich Reisebündel von Akten anzulegen, worin er alle öffentlichen Papiere, Zeitungen, Wochenblätter, Predigtauszüge, Komödienzettel, Verordnungen, Preiscourante usw. einheftet, seine Bemerkungen hinzufügt, diese mit der Stimme der Gesellschaft vergleicht, seine eigene Meinung mit dieser berichtigt, die neue Belehrung wieder ad acta nimmt und so Materialien für einen künftigen Gebrauch zu erhalten hofft!! Dies bereitet schon völlig zu der später ganz ins Lächerliche entwickelten Bedeutsamkeit vor, mit der er auf Tagebücher und Notizen die höchsten Stücke hält, mit der er jede elendeste Sache mit pathetischer Weisheitsmiene betrachtet. Seitdem ist ihm jede Medaille, die man ihm schenkt, und jeder Granitstein; den er verschenkt, ein Gegenstand von höchster Wichtigkeit; und wenn er Steinsalz bohrt, das Friedrich der Große trotz aller Befehle nicht hatte auffinden können, so sieht er ich weiß nicht welche Wunder dabei und schickt seinem Freunde Zelter eine symbolische Messerspitze voll davon nach Berlin. Es gibt nichts Bezeichnenderes für diese seine spätere Sinnesart, die sein steigendes Alter stets mehr ausbildete, als daß er es sich zum Grundsatze macht, dem alten nil admirari mit Eifer zu widersprechen. Alles vielmehr zu bewundern, Alles ›bedeutend, wundersam, incalculabel‹ zu finden!« An dieser Haltung, die Gervinus so unübertrefflich, ohne Übertreibung, malt, hat zwar Bewunderung Anteil aber auch die Angst. Der Mensch erstarrt im Chaos der Symbole und verliert die Freiheit, die den Alten nicht bekannt war. Er gerät im Handeln unter Zeichen und Orakel. In Goethes Leben haben sie nicht gefehlt. Solch ein Zeichen wies den Weg nach Weimar. Ja, in »Wahrheit und Dichtung« hat er erzählt, wie er auf einer Wanderung, zwiespältig über seinen Ruf zu Dichtung oder Malkunst, ein Orakel eingesetzt. Die Angst vor Verantwortung ist die geistigste unter allen, denen Goethe durch sein Wesen verhaftet war. Sie ist ein Grund der konservativen Gesinnung, die er Politischem, Gesellschaftlichem und im Alter auch wohl Literarischem entgegenbrachte. Sie ist die Wurzel der Versäumnis in seinem erotischen Leben. Daß sie auch seine Auslegung der Wahlverwandtschaften bestimmte ist gewiß. Denn gerade diese Dichtung wirft ein Licht in solche Gründe seines eigenen Lebens, die, weil sie sein Bekenntnis nicht verrät, auch einer Tradition verborgen blieben, die sich von dessen Bann noch nicht befreit hat. Nicht aber darf dies mythische Bewußtsein mit der trivialen Floskel angesprochen werden, unter der man oft ein Tragisches im Leben des Olympiers sich gefiel zu erkennen. Tragisches gibt es allein im Dasein der dramatischen, d. h. der sich darstellenden Person, niemals in dem eines Menschen. Am allerwenigsten aber in dem quietistischen eines Goethe, in dem kaum darstellende Momente sich finden. So gilt es auch für dieses Leben wie für jedes menschliche nicht die Freiheit des tragischen Helden im Tode, sondern die Erlösung im ewigen Leben.
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