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~II Das Kunstwerk~

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Die romantische Theorie des Kunstwerks ist die Theorie seiner Form. Die begrenzende Natur der Form haben die Frühromantiker mit der Begrenztheit jeder endlichen Reflexion identifiziert und durch diese einzige Erwägung den Begriff des Kunstwerks innerhalb ihrer Anschauungswelt determiniert. Ganz analog zu dem Gedanken, mit welchem in seiner ersten Schrift zur Wissenschaftslehre Fichte die Reflexion an der bloßen Form der Erkenntnis sich manifestieren sieht (s. o. p.20 f.) bekundet den Romantikern das reine Wesen der Reflexion sich an der rein formalen Erscheinung des Kunstwerks. Die Form ist also der gegenständliche Ausdruck der dem Werke eigenen Reflexion, welche sein Wesen bildet. Sie ist die Möglichkeit der Reflexion in dem Werke, sie liegt ihm also a priori als ein Daseinsprinzip zugrunde; durch seine Form ist das Kunstwerk ein lebendiges Zentrum der Reflexion. Im Medium der Reflexion, in der Kunst, bilden sich immer neue Reflexionszentren. Je nach ihrem geistigen Keim umfassen sie größere oder kleinere Zusammenhänge reflektierend. Die Unendlichkeit der Kunst kommt zunächst allein in einem solchen Zentrum als in einem Grenzwert zur Reflexion, d. h. zur Selbsterfassung und damit zur Erfassung überhaupt. Dieser Grenzwert ist die Darstellungsform des einzelnen Werkes. Auf ihr beruht die Möglichkeit einer relativen Einheit und Abgeschlossenheit des Werkes im Medium der Kunst. – Weil aber jede einzelne Reflexion in diesem Medium nur eine vereinzelte, eine zufällige sein kann, ist auch die Einheit des Werkes gegenüber der der Kunst nur eine relative; das Werk bleibt mit einem Moment der Zufälligkeit behaftet. Diese besondere Zufälligkeit als eine prinzipiell notwendige, d. h. unvermeidliche einzugestehen, sie durch die strenge Selbstbeschränkung der Reflexion zu bekennen, ist die genaue Funktion der Form. Praktische, d. h. bestimmte Reflexion, Selbstbeschränkung bilden Individualität und Form des Kunstwerks. Denn damit die Kritik, wie oben (s. o. p. 67) ausgeführt wurde, Aufhebung aller Begrenzung sein könne, muß das Werk auf dieser beruhen. Ihre Aufgabe erfüllt die Kritik, indem sie, je geschlossener die Reflexion, je strenger die Form des Werkes ist, desto vielfacher und intensiver diese aus sich heraustreibt, die ursprüngliche Reflexion in einer höheren auflöst und so fortfährt. In dieser Arbeit beruht sie auf den Keimzellen der Reflexion, den positiv formalen Momenten des Werkes, die sie zu universal formalen auflöst. So stellt sie die Beziehung des einzelnen Werkes auf die Idee der Kunst und damit die Idee des einzelnen Werkes selbst dar.

Friedrich Schlegel gibt zwar, besonders um 1800, auch über den Inhalt des wahren Kunstwerks Bestimmungen, sie beruhen jedoch auf jenen schon genannten Überdeckungen und Trübungen des Grundbegriffs des Reflexionsmediums, in denen er seine methodische Kraft verliert. Wo er das absolute Medium nicht mehr als Kunst, sondern als Religion bestimmt, erfaßt er das Kunstwerk von der Seite seines Inhalts nur unklar, er vermag sich seine Ahnung von einem würdigen Inhalt trotz aller Mühe nicht zu verdeutlichen, dieser bleibt Tendenz; er verlangt in ihm186 die eigentümlichen Züge seines religiösen Kosmos wiederzufinden, während zugleich, zum Zeichen jener Unklarheit, seine Idee der Form um nichts gewinnt.187 Vor dieser Veränderung seines Weltbildes und wo die älteren Lehren noch ferner wirksam blieben, hat er gemeinschaftlich mit Novalis einen strengen Begriff des Werkes in Verbindung mit einem Formbegriff, der auf der Philosophie der Reflexion beruht, als neue Errungenschaft im Namen der romantischen Schule vertreten: »Was Ihr in den philosophischen Büchern von der Kunst und von der Form gesagt findet, reicht ungefähr hin, um die Uhrmacherkunst zu erklären. Von höherer Kunst und Form findet Ihr auch nirgends nur die leiseste Ahnung«.188 Die höhere Form ist die Selbstbeschränkung der Reflexion. In diesem Sinne handelt das 37. Lyzeumsfragment von »Wert und … Würde der Selbstbeschränkung, die doch für den Künstler wie für den Menschen … das Notwendigste und das Höchste ist. Das Notwendigste: denn überall, wo man sich nicht selbst beschränkt, beschränkt einen die Welt; wodurch man ein Knecht wird. Das Höchste: denn man kann sich nur in den Punkten und an den Seiten selbst beschränken, wo man unendliche189 Kraft hat; Selbstschöpfung und Selbstvernichtung … Ein Schriftsteller …, der sich rein ausreden will und kann, … ist sehr zu beklagen. Nur vor … Fehlern hat man sich zu hüten. Was unbedingte Willkür … scheint und scheinen soll, muß dennoch im Grunde auch wieder schlechthin notwendig … sein; sonst … entsteht Illiberalität, und aus Selbstbeschränkung wird Selbstvernichtung«. Diese »liberale Selbstbeschränkung«, die Enders mit Recht »eine strenge Forderung romantischer Kritik«190 nennt, leistet die Darstellungsform des Werkes. Nirgends findet sich das Wesentliche dieser Anschauung klarer ausgesprochen als in einem Fragment des Novalis, welches sich nicht auf die Kunst, sondern auf die staatliche Sitte bezieht: »Da nun in der höchsten Belebung der Geist zugleich am wirksamsten ist, die Wirkungen des Geistes Reflexionen sind, die Reflexion aber, ihrem Wesen nach, bildend ist, mit der höchsten Belebung also die schöne oder vollkommene Reflexion verknüpft ist, so wird auch der Ausdruck des Staatsbürgers in der Nähe des Königs Ausdruck der höchsten zurückgehaltenen Kraftfülle, Ausdruck der lebhaftesten Regungen, beherrscht durch die achtungsvollste Besonnenheit … sein«.191. Hier ist nur für den Staatsbürger das Kunstwerk, für den König das Absolutum der Kunst einzusetzen, um aufs klarste gesagt zu finden, wie die bildende Kraft der Reflexion die Form des Werkes nach der Anschauung der Frühromantik prägt. Der Ausdruck »Werk« ist für das also bestimmte Gebilde von Friedrich Schlegel mit Betonung gebraucht worden. Der »Lothario« des »Gesprächs über die Poesie« spricht von dem Selbständigen, Insichvollendeten, wofür er »nun eben kein anderes Wort finde, als das von Werken, und es darum gern für diesen Gebrauch behalten möchte«.192 Im gleichen Zusammenhang liest man die folgende Wechselrede: »Lothario: … Nur dadurch, daß es Eins und Alles ist, wird ein Werk zum Werk. Nur dadurch unterscheidet sich’s vom Studium. Antonio: Ich wollte Ihnen doch Studien nennen, die dann in Ihrem Sinne zugleich Werke sind«.193 Hier enthält die Antwort einen berichtigenden Hinweis auf die Doppelnatur des Werkes: es ist nur eine relative Einheit, bleibt ein Essay, in welchem Ein und Alles sich angelegt findet. Noch in der Anzeige von Goethes Werken aus dem Jahre 1808 heißt es bei Schlegel: »… an Fülle der inneren Durchbildung geht der ›Meister‹ vielleicht jedem andern Werke unseres Dichters vor, keines ist in dem Grade ein Werk«.194 Zusammenfassend bezeichnet Schlegel die Bedeutung der Reflexion für Werk und Form mit folgenden Worten: »Gebildet ist ein Werk, wenn es überall scharf begrenzt, innerhalb der Grenzen aber grenzenlos … ist, wenn es sich selbst ganz treu, überall gleich und doch über sich selbst erhaben ist«195. Wenn kraft seiner Form das Kunstwerk ein Moment des absoluten Mediums der Reflexion ist, so hat Novalis’ Satz: »Jedes Kunstwerk hat ein Ideal a priori, eine Notwendigkeit bei sich, da zu sein«196 nichts Unklares an sich; eine Formulierung, in der die prinzipielle Überwindung des dogmatischen Rationalismus in der Ästhetik vielleicht am deutlichsten ist. Denn dies ist ein Standpunkt, zu dem eine Einschätzung des Werkes nach Regeln niemals führen konnte, ebensowenig wie eine Theorie, welche das Werk nur als Produkt eines genialischen Kopfes verstand. »Halten Sie es etwa für unmöglich, zukünftige Gedichte a priori zu konstruieren?«197 fragt ganz übereinstimmend der Ludoviko bei Schlegel.

Neben der Shakespeareübersetzung ist die bleibende dichterische Leistung der Romantik die Eroberung der romanischen Kunstformen für die deutsche Literatur gewesen. Ihr Streben war mit vollem Bewußtsein auf die Eroberung, Ausbildung und Reinigung der Formen gerichtet. Doch war ihr Verhältnis zu ihnen ein ganz anderes als das der vorhergehenden Generationen. Die Romantiker faßten nicht, wie die Aufklärung, die Form als eine Schönheitsregel der Kunst, ihre Befolgung als eine notwendige Vorbedingung für die erfreuliche oder erhebende Wirkung des Werkes auf. Die Form galt ihnen weder selbst als Regel noch auch als abhängig von Regeln. Diese Auffassung, ohne welche das wahrhaft bedeutende italienische, spanische und portugiesische Übersetzungswerk A. W. Schlegels undenkbar ist, hat sein Bruder philosophisch intentioniert. Jede Form als solche gilt als eine eigentümliche Modifikation der Selbstbegrenzung der Reflexion, einer andern Rechtfertigung bedarf sie nicht, weil sie nicht Mittel zur Darstellung eines Inhalts ist. Das romantische Bemühen um Reinheit und Universalität im Gebrauch der Formen beruht auf der Überzeugung, in der kritischen Auflösung ihrer Prägnanz und Vielfältigkeit (in der Absolutierung der in ihnen gebundenen Reflexion) auf ihren Zusammenhang als Momente im Medium zu stoßen. Die Idee der Kunst als eines Mediums schafft also zum ersten Male die Möglichkeit eines undogmatischen oder freien Formalismus, eines liberalen Formalismus, wie die Romantiker sagen würden. Die frühromantische Theorie begründet die Geltung der Formen unabhängig vom Ideal der Gebilde. Die ganze philosophische Tragweite dieser Einstellung nach ihrer positiven und negativen Seite zu bestimmen, ist eine Hauptaufgabe der vorliegenden Abhandlung. – Wenn also Friedrich Schlegel von der Denkweise über die Gegenstände der Kunst verlangt, daß sie »absolute Liberalität mit absolutem Rigorismus vereinigt«198 enthalte, so darf man diese Forderung auch auf das Kunstwerk selbst, hinsichtlich seiner Form, beziehen. Eine solche Vereinigung hieße ihm in »dem edleren und ursprünglichen Sinne des Worts korrekt, da es absichtliche Durchbildung … des Innersten … im Werke nach dem Geist des Ganzen, praktische199 Reflexion des Künstlers bedeutet«.200

Dies ist die Struktur des Werkes, für das die Romantiker eine immanente Kritik verlangen. Dieses Postulat birgt eine eigentümliche Paradoxie in sich. Denn es ist nicht abzusehen, wie ein Werk an seinen eigenen Tendenzen kritisiert werden könnte, weil diese Tendenzen, soweit sie einwandfrei feststellbar, erfüllt, und soweit sie unerfüllt, nicht einwandfrei feststellbar sind. Diese letzte Möglichkeit muß im extremen Falle die Gestalt annehmen, daß innere Tendenzen überhaupt fehlen und sonach die immanente Kritik unmöglich werden würde. Der romantische Begriff der Kunstkritik ermöglicht die Auflösung dieser beiden Paradoxien. Die immanente Tendenz des Werkes und demgemäß der Maßstab seiner immanenten Kritik ist die ihm zugrunde liegende und in. seiner Form ausgeprägte Reflexion. Diese ist jedoch in Wahrheit nicht sowohl der Maßstab der Beurteilung, als zuvörderst und in erster Linie die Grundlage einer völlig anderen, nicht beurteilend eingestellten Art von Kritik, deren Schwergewicht nicht in der Einschätzung des einzelnen Werkes, sondern in der Darstellung seiner Relationen zu allen übrigen Werken und endlich zu der Idee der Kunst liegt. Friedrich Schlegel bezeichnet es als die Tendenz seines kritischen Werkes »trotz eines oft peinlichen Fleißes im einzelnen … dennoch alles im ganzen nicht sowohl beurteilend zu würdigen, als zu verstehen und zu erklären«.201 Kritik ist also, ganz im Gegensatz zur heutigen Auffassung ihres Wesens, in ihrer zentralen Absicht nicht Beurteilung, sondern einerseits Vollendung, Ergänzung, Systematisierung des Werkes, andrerseits seine Auflösung im Absoluten. Beide Prozesse fallen letzten Endes, wie sich noch zeigen wird, zusammen. Das Problem der immanenten Kritik verliert seine Paradoxie202 in der romantischen Definition dieses Begriffs, nach welchem er nicht eine Beurteilung des Werkes meint, für die einen ihm immanenten Maßstab anzugeben widersinnig wäre. Kritik des Werkes ist vielmehr seine Reflexion, welche selbstverständlich nur den ihm immanenten Keim derselben zur Entfaltung bringen kann.

Diese Theorie der Kritik erstreckt ihre Folgerungen allerdings auch auf die Theorie der Beurteilung der Werke. In drei Grundsätzen lassen diese Folgerungen sich aussprechen, welche ihrerseits die unmittelbare Entgegnung auf die oben aufgeworfene Paradoxie des Gedankens der immanenten Beurteilung geben. Diese drei Grundsätze der romantischen Theorie der Beurteilung von Kunstwerken lassen sich formulieren als das Prinzip von der Mittelbarkeit der Beurteilung, von der Unmöglichkeit einer positiven Wertskala und von der Unkritisierbarkeit des Schlechten.

Das erste Prinzip, eine klare Folgerung aus dem Dargelegten, besagt, daß die Beurteilung eines Werkes niemals eine explizite, sondern stets eine im Faktum seiner romantischen Kritik (d. h. seiner Reflexion) implizierte sein muß. Denn der Wert des Werkes hängt einzig und allein davon ab, ob es seine immanente Kritik überhaupt möglich macht oder nicht. Ist diese möglich, liegt also im Werke eine Reflexion vor, welche sich entfalten, absolutieren und im Medium der Kunst auflösen läßt, so ist es ein Kunstwerk. Die bloße Kritisierbarkeit eines Werkes stellt das positive Werturteil über dasselbe dar; und dieses Urteil kann nicht durch eine gesonderte Untersuchung, vielmehr allein durch das Faktum der Kritik selbst gefällt werden, weil es gar keinen andern Maßstab, kein Kriterium für das Vorhandensein einer Reflexion gibt, als die Möglichkeit ihrer fruchtbaren Ent! faltung, die Kritik heißt. Jene implizite Beurteilung der Kunstwerke in der romantischen Kritik ist zweitens dadurch bemerkenswert, daß ihr keine Wertskala zur Verfügung steht. Ist ein Werk kritisierbar, so ist es ein Kunstwerk, andernfalls ist es keines – ein Mittleres zwischen diesen beiden Fällen ist undenkbar, unerfindlich aber auch ein Kriterium der Wertunterscheidung unter den wahren Kunstwerken selbst. Das meint Novalis mit den Worten: »Kritik der Poesie ist ein Unding. Schwer schon ist zu entscheiden, doch einzig mögliche Entscheidung, ob etwas Poesie sei oder nicht«.203 Und Friedrich Schlegel formuliert das gleiche, wenn er sagt, daß der Stoff der Kritik »nur das Klassische und schlechthin Ewige sein kann«.204 In dem Grundsatz von der Unkritisierbarkeit des Schlechten liegt eine der charakteristischsten Ausprägungen der romantischen Konzeption der Kunst und ihrer Kritik vor. Am deutlichsten hat ihn Schlegel im Abschluß des Lessingaufsatzes ausgesprochen: Es »kann … wahre Kritik gar keine Notiz nehmen von Werken, die nichts beitragen zur Entwicklung der Kunst …; ja es ist sonach eine wahre Kritik auch nicht einmal möglich von dem, was nicht in Beziehung steht auf jenen Organismus der Bildung und des Genies, von dem, was fürs Ganze und im Ganzen eigentlich nicht existiert«.205 »Es wäre illiberal, nicht vorauszusetzen, ein jeder Philosoph sei … rezensibel; … Aber anmaßend wäre es, Dichter ebenso zu behandeln; es müßte denn einer durch und durch Poesie und gleichsam ein lebendes und handelndes Kunstwerk sein,« heißt es im 67. Athenäumsfragment. Der romantische terminus technicus für das Verhalten, welches nicht nur in der Kunst, sondern auf allen Gebieten des Geisteslebens dem Grundsatz der Unkritisierbarkeit des Schlechten entspricht, heißt »annihilieren«. Er bezeichnet die indirekte Widerlegung des Nichtigen durch Stillschweigen, durch seine ironische Lobpreisung oder durch die Lobeserhebung des Guten. Die Mittelbarkeit der Ironie ist im Sinne Schlegels der einzige Modus, unter dem die Kritik dem Nichtigen geradezu entgegenzutreten vermag.

Es soll wiederholt werden, daß die Frühromantiker diese wichtigen sachlichen Bestimmungen über die Kunstkritik nicht im Zusammenhange gegeben haben, daß ihnen die geprägten Formulierungen in ihrer systematischen Schärfe zum Teil gewiß fern lagen, daß keiner der drei Grundsätze in ihrer Praxis streng befolgt worden ist. Hier handelt es sich weder um die Untersuchung ihrer kritischen Gepflogenheiten, noch um die Zusammenstellung dessen, was in diesem oder jenem Sinne bei ihnen über Kunstkritik zu finden ist, sondern um die Analysis dieses Begriffs nach seinen eigensten philosophischen Intentionen. Kritik, welche für die heutige Auffassung das Subjektivste ist, war für die Romantiker das Regulativ aller Subjektivität, Zufälligkeit und Willkür im Entstehen des Werkes. Während sie sich nach heutigen Begriffen aus der sachlichen Erkenntnis und der Wertung des Werkes zusammensetzt, ist es das Auszeichnende des romantischen Kritikbegriffs, eine besondere subjektive Einschätzung des Werkes im Geschmacksurteil nicht zu kennen. Die Wertung ist der sachlichen Untersuchung und Erkenntnis des Werkes immanent. Nicht der Kritiker fällt über dieses das Urteil, sondern die Kunst selbst, indem sie entweder im Medium der Kritik das Werk in sich aufnimmt oder es von sich abweist und eben dadurch unter aller Kritik schätzt. Die Kritik sollte mit dem, was sie behandelt, die Auslese unter den Werken herstellen. Ihre objektive Intention hat sich nicht allein in ihrer Theorie ausgesprochen. Wenigstens ist, wenn in ästhetischen Dingen die historische Geltungsdauer der Einschätzungen einen Hinweis auf das, was man allein sinngemäß ihre Objektivität nennen kann, gibt, die Geltung der kritischen Urteile der Romantik bestätigt worden. Sie haben die Grundeinschätzung der historischen Werke Dantes, Boccaccios, Shakespeares, Cervantes’, Calderons ebenso wie die der ihnen gegenwärtigen Erscheinung Goethes bis auf die Gegenwart bestimmt.206

Die Kraft der objektiven Intentionen in der Frühromantik ist von den meisten Autoren gering eingeschätzt worden. Da Friedrich Schlegel selbst von der Epoche seiner »revolutionären Objektivitätwut«, von der unbedingten Verehrung des griechischen Kunstgeistes sich bewußt abgewandt hatte, suchte man in den Schriften seiner reiferen Zeit vor allem nach den Dokumenten der Reaktion gegen diese Jugendideen, und man fand sie im reichsten Maße. So zahlreiche Belege einer übermütigen Subjektivität sich aber in diesen Schriften in der Tat finden, so ist doch schon die Erwägung der ultraklassizistischen Anfänge und des streng katholischen Ausgangs dieses Schriftstellers geeignet, die Betonung der subjektivistischen Formeln oder Formulierungen aus der Zeit von 1796 bis 1800 zu mäßigen. Denn um bloße Formulierungen handelt es sich in seinen subjektivsten Aussprüchen zum Teil in der Tat; es sind Prägungen, die man nicht immer für bare Münze zu nehmen hat. Man hat den philosophischen Standpunkt Friedrich Schlegels zur Athenäumszeit meist durch seine Theorie der Ironie gekennzeichnet. Sie ist an dieser Stelle einmal darum zu behandeln, weil unter ihrem Titel prinzipielle Einwendungen gegen die Betonung der objektiven Momente seines Denkens nahe liegen; ferner aber, weil jene Theorie in einer bestimmten Hinsicht mit diesen Momenten, weit entfernt, ihnen zu widersprechen, in einem engen Zusammenhang steht.

Zahlreiche Elemente sind in den verschiedenen Auslassungen über die Ironie zu unterscheiden, ja es dürfte zum Teil ganz unmöglich sein, diese verschiedenartigen Elemente in einem Begriff ohne Widersprüche zu vereinigen. Der Ironiebegriff hat eben für Schlegel seine zentrale Bedeutung nicht nur durch seine Beziehung auf bestimmte Sachverhalte in einem theoretischen Sinn, sondern mehr noch als eine lediglich intentionale Einstellung erhalten. Als solche hatte diese Einstellung nicht einen Sachverhalt im Auge, sondern lag als Äußerung einer stets lebendigen Opposition gegen herrschende Ideen und häufig als Maske der Hilflosigkeit ihnen gegenüber in Bereitschaft. Nicht in seiner Bedeutung für die Individualität, wohl aber für das Weltbild Schlegels kann daher der Ironiebegriff leicht überschätzt werden. Die klare Einsicht in diesen Begriff wird endlich dadurch erschwert, daß auch da, wo er unstreitig auf gewisse Sachverhalte anspielt, unter den mannigfachen Beziehungen, die er eingeht, es nicht immer leicht ist, die im einzelnen Fall gemeinten, und sehr schwer, die allgemein maßgebenden festzustellen. Soweit diese Sachverhalte nicht die Kunst, sondern Erkenntnistheorie und Ethik betreffen, müssen sie hier unberücksichtigt bleiben.

Für die Kunsttheorie hat der Ironiebegriff eine doppelte Bedeutung, in deren einer er in der Tat Ausdruck eines reinen Subjektivismus ist. Allein in dieser ist er bisher in der Literatur über die Romantik aufgefaßt und eben infolge dieser einseitigen Auffassung als Zeugnis des besagten Subjektivismus durchaus überschätzt worden. Die romantische Poesie anerkennt »als ihr erstes Gesetz …, daß die Willkür des Dichters kein Gesetz über sich leide«207, heißt es scheinbar ganz unzweideutig. Allein bei genauer Betrachtung erhebt sich die Frage, ob mit diesem Satz eine positive Aussage über die Rechtssphäre des schaffenden Künstlers oder nur eine überschwengliche Formulierung der Forderung, welche die romantische Poesie an ihren Dichter stellt, gegeben sein soll. In beiden Fällen wird man sich entschließen müssen, interpretierend den Satz sinnvoll und verständlich zu machen. Vom zweiten Fall ausgehend, hätte man zu verstehen, daß der romantische Dichter »durch und durch Poesie«208 sein solle, wie Schlegel es an andrer Stelle als paradoxes Ideal ungläubig aufstellt. Ist der Künstler die Poesie selbst, so duldet allerdings seine Willkür kein Gesetz über sich, weil sie nichts anderes ist als eine dürftige Metapher der Autonomie der Kunst. Der Satz bleibt leer. Im ersten Falle dagegen wird man den Satz als ein Urteil über den Machtbereich des Künstlers begreifen, muß sich aber dann entschließen, unter dem Dichter etwas anderes zu verstehen als ein Wesen, das etwas macht, das es selbst ein Gedicht nennt. Man muß unter dem Dichter den wahren, den urbildlichen Dichter verstehen und hat damit unmittelbar die Willkür als Willkür des wahren Dichters verstanden, die begrenzt ist. Der Autor echter Kunstwerke ist in denjenigen Beziehungen eingeschränkt, in denen das Kunstwerk einer objektiven Gesetzlichkeit der Kunst unterworfen ist; wenn man nicht (wie im andern Fall der Interpretation) den Autor als die bloße Personifikation der Kunst verstehen will, was vielleicht in diesem Falle und jedenfalls an mehreren andern Stellen Schlegels Meinung war. Die objektive Gesetzlichkeit, welcher das Kunstwerk durch die Kunst unterworfen ist, besteht, wie dargelegt worden, in dessen Form. Die Willkür des wahren Dichters hat also ihren Spielraum allein im Stoff, und sie wird, soweit sie bewußt und spielerisch waltet, zur Ironie. Dies ist die subjektivistische Ironie. Ihr Geist ist der des Autors, der sich über die Stofflichkeit des Werkes erhebt, indem er sie mißachtet. Es spielt dabei übrigens bei Schlegel der Gedanke hinein, daß etwa der Stoff selbst in solchem Verfahren »poetisiert«, veredelt werden mag, wenn es auch wohl dazu nach seiner Ansicht noch anderer, positiver Momente, der Ideen der Lebenskunst, bedarf, welche im Stoffe dargestellt werden. Richtig nennt Enders Ironie die Fähigkeit, »sich unmittelbar von dem in der Erfindung Dargestellten zum darstellenden Zentrum zu bewegen und von da das erstere zu betrachten«,209 ohne jedoch zu berücksichtigen, daß dieses Verhalten allein dem Stoffe gegenüber nach der romantischen Anschauung stattfinden kann.

Dennoch gibt es, wie ein Blick auf die poetische Produktion der Frühromantik zeigt, eine Ironie, welche nicht nur die Stoffe angreift, sondern auch über die Einheit der dichterischen Form sich hinwegsetzt. Diese Ironie ist es, welche die Meinung von einem romantischen Subjektivismus sans phrase210 begünstigt hat, weil die vollständige Verschiedenheit dieser Ironisierung der Kunstform von der des Stoffes nicht mit genügender Klarheit erkannt worden ist. Diese beruht auf einem Verhalten des Subjekts, jene stellt ein objektives Moment am Werke dar. Wie an den meisten Unklarheiten, welche über ihre Lehren bestehen, tragen auch an dieser die Romantiker ihren Anteil. Sie selber haben die sachlich deutliche Scheidung als eine solche niemals zum Ausdruck gebracht. – Die Ironisierung der Form besteht in ihrer freiwilligen Zerstörung, wie sie unter den romantischen Produktionen, und wohl in der ganzen Literatur überhaupt, Tiecks Komödien in der extremsten Form zeigen. Die dramatische Form läßt sich im höchsten Maße und am eindrucksvollsten unter allen ironisieren, weil sie das höchste Maß von Illusionskraft enthält und dadurch die Ironie in hohem Grade in sich aufnehmen kann, ohne sich völlig aufzulösen. Von der Zerstörung der Illusion in der aristophanischen Komödie sagt Schlegel: »Diese Verletzung ist nicht Ungeschicklichkeit, sondern besonnener Mutwille, überschäumende Lebensfülle und tut oft gar keine üble Wirkung, erhöht sie vielmehr, denn vernichten kann sie die Täuschung doch nicht. Die höchste Regsamkeit des Lebens … verletzt …, um zu reizen, ohne zu zerstören«.211 Denselben Gedanken gibt Pulver wieder, wenn er schreibt: »Fassen wir zusammen, was Friedrich Schlegel zur höchsten Wertschätzung einer vollkommen gedachten Komödie bewog, so ist es« ihr »schöpferisches Spiel mit sich selbst, ihr rein ästhetischer Staat, den keine Durchbrechung und Verletzung der Illusion zu zerstören vermag«.212 Die Ironisierung der Form greift also nach diesen Äußerungen dieselbe an, ohne sie doch zu zerstören, und auf diese Irritation soll die Illusionsstörung in der Komödie es absehen. Dieses Verhältnis zeigt eine auffallende Verwandtschaft mit der Kritik, welche unwiderruflich und ernsthaft die Form auflöst, um das einzelne Werk ins absolute Kunstwerk zu verwandeln, zu romantisieren.

Ja, auch das Werk, das teuer erkaufte, es bleibe Dir köstlich;

Aber so Du es liebst, gib ihm Du selber den Tod,

Haltend im Auge das Werk, das der Sterblichen keiner wohl endet:

Denn von des Einzelnen Tod blüht ja des Ganzen Gebild.213

»Wir müssen uns über unsre eigne Liebe erheben und, was wir anbeten, in Gedanken vernichten können, sonst fehlt uns … der Sinn für das Unendliche«.214 In diesen Äußerungen hat Schlegel sich über das Zerstörende in der Kritik, über ihre Zersetzung der Kunstform deutlich ausgesprochen. Weit entfernt, eine subjektive Velleität des Autors darzustellen, ist also diese Zerstörung der Form die Aufgabe der objektiven Instanz in der Kunst, der Kritik. Und andererseits macht Schlegel genau das gleiche zum Wesen der ironischen Äußerung des Dichters, wenn er die Ironie als eine Stimmung bezeichnet, »welche alles übersieht und sich über alles Bedingte unendlich erhebt, auch über eigne Kunst, Tugend oder Genialität«215. Es ist also bei dieser Art der Ironie, welche aus der Beziehung auf das Unbedingte entspringt, nicht die Rede von Subjektivismus und Spiel, sondern von der Angleichung des begrenzten Werkes an das Absolute, von seiner völligen Objektivierung um den Preis seines Untergangs. Diese Form der Ironie stammt aus dem Geiste der Kunst, nicht aus dem Willen des Künstlers. Es versteht sich von selbst, daß sie, wie die Kritik, sich nur in der Reflexion darstellen kann.216 Reflexiv ist auch die Ironisierung des Stoffes, doch beruht diese auf einer subjektiven, spielerischen Reflexion des Autors. Die Ironie des Stoffes vernichtet diesen; sie ist negativ und subjektiv, positiv und objektiv dagegen die der Form. Die eigentümliche Positivität dieser Ironie ist zugleich ihr unterscheidendes Merkmal von der ebenfalls objektiv gerichteten Kritik. Wie verhält sich die Zerstörung der Illusion in der Kunstform durch die Ironie zur Zerstörung des Werkes durch die Kritik? Die Kritik opfert um des Einen Zusammenhanges willen das Werk gänzlich. Dasjenige Verfahren dagegen, welches unter Erhaltung des Werkes selbst dennoch seine völlige Bezogenheit auf die Idee der Kunst zu veranschaulichen vermag, ist die (formale) Ironie. Sie zerstört nicht allein das Werk nicht, das sie angreift, sondern sie nähert es selbst der Unzerstörbarkeit. Durch die Zerstörung der bestimmten Darstellungsform des Werkes in der Ironie wird die relative Einheit des Einzelwerkes tiefer in die der Kunst als des Universalwerkes zurückgestoßen, sie wird, ohne verloren zu gehen, völlig auf diese bezogen. Denn nur graduell ist die Einheit des Einzelwerkes von der der Kunst, in welche sie sich jederzeit in Ironie und Kritik verschiebt, unterschieden. Die Romantiker selbst hätten die Ironie nicht als künstlerisch empfinden können, wenn sie in ihr die absolute Zersetzung des Werkes gesehen hätten. Daher betont Schlegel in der genannten Bemerkung (s. o. p.84) die Unzerstörbarkeit des Werkes. – Um dieses Verhältnis abschließend deutlich zu machen, ist ein doppelter Formbegriff einzuführen. Die bestimmte Form des einzelnen Werkes, die man als Darstellungsform bezeichnen möge, wird das Opfer ironischer Zersetzung. Über ihr aber reißt die Ironie einen Himmel ewiger Form, die Idee der Formen, auf, die man die absolute Form nennen mag, und sie erweist das Überleben des Werkes, das aus dieser Sphäre sein unzerstörbares Bestehen schöpft, nachdem die empirische Form, der Ausdruck seiner isolierten Reflexion, von ihr verzehrt wurde. Die Ironisierung der Darstellungsform ist gleichsam der Sturm, der den Vorhang vor der transzendentalen Ordnung der Kunst aufhebt und diese und in ihr das unmittelbare Bestehen des Werkes als eines Mysteriums enthüllt. Das Werk ist nicht, wie es Herder betrachtete, wesentlich eine Offenbarung und ein Mysterium schöpferischer Genialität, die man wohl ein Mysterium der Substanz nennen dürfte, es ist ein Mysterium der Ordnung, Offenbarung seiner absoluten Abhängigkeit von der Idee der Kunst, seines ewigen unzerstörbaren Aufgehobenseins in derselben. In diesem Sinne kennt Schlegel »Grenzen des sichtbaren Werkes«,217 jenseits deren der Bereich des unsichtbaren Werkes, der Idee der Kunst sich öffnet. Der Glaube an die Unzerstörbarkeit des Werkes, wie er in Tiecks ironischen Dramen, in Jean Pauls zerfetzten Romanen sich ausspricht, war eine mystische Grundüberzeugung der Frühromantik. Nur aus ihr wird es verständlich, warum die Romantiker sich nicht mit der Forderung der Ironie als einer Gesinnung des Künstlers begnügten, sondern sie im Werke dargestellt zu sehen verlangten. Sie hat eine andere Funktion als Gesinnungen, die, so wünschenswert sie sein mögen, eben weil sie nur in Hinsicht auf den Künstler zu fordern sind, im Werk nicht selbständig hervortreten dürfen. Die formale Ironie ist nicht, wie Fleiß oder Aufrichtigkeit, ein intentionales Verhalten des Autors. Sie kann nicht, wie es üblich ist, als Index einer subjektiven Schrankenlosigkeit verstanden, sondern muß als objektives Moment im Werke selbst gewürdigt werden. Sie stellt den paradoxen Versuch dar, am Gebilde noch durch Abbruch zu bauen: im Werke selbst seine Beziehung auf die Idee zu demonstrieren.

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Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke

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