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Es hängt mit der Technik des Films genau wie mit der des Sports zusammen, daß jeder den Leistungen, die sie ausstellen, als halber Fachmann beiwohnt. Man braucht nur einmal eine Gruppe von Zeitungsjungen, auf ihre Fahrräder gestützt, die Ergebnisse eines Radrennens diskutieren gehört zu haben, um diesem Zusammenhang auf die Spur zu kommen. Für den Film beweist die Wochenschau klipp und klar, daß jeder einzelne in die Lage kommen kann, gefilmt zu werden. Aber mit dieser Möglichkeit ist es nicht getan. Jeder heutige Mensch hat einen A n s p r u c h, gefilmt zu werden. Diesen Anspruch verdeutlicht am besten ein Blick auf die geschichtliche Situation des heutigen Schrifttums. Jahrhundertelang lagen im Schrifttum die Dinge so, daß einer geringen Zahl von Schreibenden eine vieltausendfache Zahl von Lesenden gegenüberstand. Darin trat gegen Ende des vorigen Jahrhunderts ein Wandel ein. Mit der ungeheuren Ausdehnung der Presse, die immer neue politische, religiöse, wissenschaftliche, berufliche, lokale Organe der Leserschaft zur Verfügung stellte, gerieten immer größere Teile der Leserschaft – zunächst fallweise – unter die Schreibenden. Es begann damit, daß die Tagespresse ihr ihren »Briefkasten« eröffnete und es steht heute so, daß es kaum einen im Arbeitsprozeß stehenden Europäer gibt, der nicht grundsätzlich irgendwo Gelegenheit zur Publikation einer Arbeitserfahrung, einer Beschwerde, einer Reportage oder dergleichen finden könnte. Damit ist die Unterscheidung zwischen Autor und Publikum im Begriff, ihren grundsätzlichen Charakter zu verlieren. Sie wird eine funktionelle, von Fall zu Fall so oder anders verlaufende. Der Lesende ist jederzeit bereit ein Schreibender zu werden. Als Sachverständiger, der er wohl oder übel in einem äußerst spezialisierten Arbeitsprozeß werden mußte – sei es auch nur als Sachverständiger einer geringen Verrichtung – gewinnt er einen Zugang zur Autorschaft. Die Arbeit selbst kommt zu Wort. Und ihre Darstellung im Wort macht einen Teil des Könnens, das zu ihrer Ausübung erforderlich ist. Die literarische Befugnis wird nicht mehr in der spezialisierten sondern in der polytechnischen Ausbildung begründet, und so Gemeingut.

Alles das läßt sich ohne weiteres auf den Film übertragen, wo Verschiebungen, die im Schrifttum Jahrhunderte in Anspruch genommen haben, sich im Laufe eines Jahrzehnts vollzogen. Denn in der Praxis des Films – vor allem der russischen – ist diese Verschiebung stellenweise schon realisiert. Ein Teil der im russischen Film begegnenden Darsteller sind nicht Darsteller in unserm Sinn sondern Leute, die sich – und zwar in erster Linie in ihrem Arbeitsprozeß – darstellen. In Westeuropa verbietet die kapitalistische Ausbeutung des Films dem legitimen Anspruch, den der heutige Mensch auf sein Reproduziertwerden hat, die Berücksichtigung. Im übrigen verbietet sie auch die Arbeitslosigkeit, welche große Massen von der Produktion ausschließt, in deren Arbeitsgang sie in erster Linie ihren Anspruch auf Reproduktion hätten. Unter diesen Umständen hat die Filmindustrie alles Interesse, die Anteilnahme der Massen durch illusionäre Vorstellungen und durch zweideutige Spekulationen zu stacheln. Das gelingt ihr zumal bei den Frauen. Zu diesem Zweck hat sie einen gewaltigen publizistischen Apparat in Bewegung gesetzt; sie hat die Karriere und das Liebesleben der Stars in ihren Dienst gestellt, sie hat Plebiscite veranstaltet, sie hat Schönheitskonkurrenzen einberufen. Alles das, um das ursprüngliche und berechtigte Interesse der Massen am Film – ein Interesse der Selbst- und somit auch der Klassenerkenntnis – auf korruptivem Weg zu verfälschen. Es gilt daher vom Filmkapital im besondern, was vom Faschismus im allgemeinen gilt, daß er das unabweisliche Bedürfnis nach neuen sozialen Verfassungen insgeheim im Interesse einer besitzenden Minderheit ausbeutet. Die Enteignung des Filmkapitals ist schon darum eine dringende Forderung des Proletariats.

Jede ausgebildete Kunstform steht im Schnittpunkt dreier Entwicklungslinien. Es arbeitet nämlich einmal die Technik auf eine bestimmte Kunstform hin. Ehe der Film auftrat, gab es Photobüchlein, deren Bilder durch einen Daumendruck schnell am Beschauer vorüberhuschend einen Boxkampf oder ein Tennismatch vorführten; es gab die Automaten in den Passagen, deren Bilderablauf durch eine Drehung der Kurbel in Bewegung erhalten wurde. Es arbeiten zweitens die überkommenen Kunstformen in gewissen Stadien ihrer Entwicklung angestrengt auf Effekte hin, welche späterhin zwanglos von der neuen Kunstform erzielt werden. Ehe der Film zur Geltung gekommen war, suchten die Dadaisten durch ihre Veranstaltungen ins Publikum eine Bewegung zu bringen, die ein Chaplin dann auf natürlichere Weise zu Wege brachte. Es arbeiten drittens, oft unscheinbare, gesellschaftliche Veränderungen auf eine Veränderung der Rezeption hin, die erst der neuen Kunstform zugute kommt. Ehe der Film sein Publikum zu bilden begonnen hatte, wurden im Kaiserpanorama bereits Bilder (die begonnen hatten, sich in Bewegung zu setzen) von einem versammelten Publikum rezipiert. Nun gab es ein solches zwar auch in Gemäldesalons – aber ohne daß deren Inneneinrichtung – wie z. B. die der Theater – imstande wäre, es zu organisieren. Im Kaiserpanorama dagegen sind Sitzplätze vorgesehen, deren Verteilung vor den verschiedenen Stereoskopen eine Mehrzahl von Bildbetrachtern verspricht. Leere kann in einer Gemäldegalerie angenehm sein, im Kaiserpanorama schon nicht mehr und im Kino um keinen Preis. Und doch hat im Kaiserpanorama noch jeder – wie zumeist in Gemäldegalerien – sein eignes Bild. So kommt die Dialektik der Sache gerade darin zum Ausdruck, daß hier, kurz ehe die Bildbetrachtung im Film ihren Umschlag erfährt und zu einer kollektiven wird, das Prinzip der Bildbetrachtung durch einen Einzelnen noch einmal mit einer Schärfe heraustritt wie einst in der Betrachtung des Götterbilds durch den Priester im Allerheiligsten.

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Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke

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