Читать книгу Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke - Walter Benjamin - Страница 49

〈17〉

Оглавление

Es ist von jeher eine der wichtigsten Aufgaben der Kunst gewesen, eine Nachfrage zu erzeugen, für deren volle Befriedigung die Zeit noch nicht gekommen ist. Die Geschichte jeder Kunstform hat kritische Zeiten, in denen diese Form auf Effekte hindrängt, die sich zwanglos erst bei einem veränderten technischen Standard, d. h. in einer neuen Kunstform ergeben können. Die derart, zumal in den sogenannten »Verfallszeiten« sich ergebenden Extravaganzen und Kruditäten der Kunst gehen in Wirklichkeit aus ihrem reichsten historischen Kräftezentrum hervor. An solchen Barbarismen hat noch zuletzt der Dadaismus seine Freude gehabt. Sein Impuls dabei wird erst jetzt erkennbar: Der Dadaismus versuchte, die Effekte, die das Publikum heute im Film sucht, mit den Mitteln der Malerei (beziehungsweise der Literatur) zu erzeugen.

Jede von Grund auf neue, bahnbrechende Erzeugung von Nachfrage wird über ihr Ziel hinausschießen. Der Dadaismus tut das in dem Grade, daß er die Marktwerte, die dem Film in so hohem Maß eignen, zugunsten bedeutsamerer Intentionen – die ihm natürlich in der hier beschriebnen Gestalt nicht bewußt sind – opfert. Auf die merkantile Verwertbarkeit ihrer Kunstwerke legten die Dadaisten viel weniger Gewicht als auf ihre Unverwertbarkeit als Gegenstände kontemplativer Versenkung. Diese Unverwertbarkeit suchten sie nicht zum wenigsten durch eine grundsätzliche Entwürdigung ihres Materials zu erreichen. Ihre Gedichte sind »Wortsalat«, sie enthalten obszöne Ausrufe und allen nur vorstellbaren Abfall der Sprache. Garnicht anders ihre Gemälde, denen sie Knöpfe oder Fahrscheine aufmontierten. Was sie mit solchen Mitteln erreichen, ist eine rücksichtslose Vernichtung der Aura ihrer Hervorbringungen, denen sie mit den Mitteln der Produktion das Brandmal einer Reproduktion aufdrücken. Es ist unmöglich, vor einem Bild von Arp oder einem Gedicht August Stramms sich wie vor einem Bild Derains oder einem Gedicht von Rilke Zeit zur Sammlung und Stellungnahme zu lassen. Der Versenkung, die in der Entartung des Bürgertums eine Schule asozialen Verhaltens wurde, tritt die Ablenkung als eine Spielart sozialen Verhaltens gegenüber. Das durch den Dadaismus provozierte soziale Verhalten ist: Anstoß nehmen. In der Tat gewährleisteten seine Kundgebungen eine recht vehemente Ablenkung indem sie das Kunstwerk zum Mittelpunkt eines Skandals machten. Dieses Kunstwerk hatte vor allem einer Forderung Genüge zu leisten: öffentliches Ärgernis zu erregen. Aus einem lockenden Augenschein oder einem überredenden Klanggebilde wurde es zu einem Geschoß. Es stieß dem Betrachter zu. Und es stand damit im Begriff, die taktile Qualität, die der Kunst in den großen Umbauepochen der Geschichte die unentbehrlichste ist, für die Gegenwart zurückzugewinnen.

Daß alles Wahrgenommene, Sinnenfällige ein uns Zustoßendes ist – diese Formel der Traumwahrnehmung, die zugleich die taktile Seite der künstlerischen umfaßt – hat der Dadaismus von neuem in Kurs gesetzt. Damit hat er die Nachfrage nach dem Film begünstigt, dessen ablenkendes Element ebenfalls in erster Linie ein taktiles ist, nämlich auf dem Wechsel der Schauplätze und Einstellungen beruht, welche stoßweise auf den Beschauer eindringen. Der Film hat also die physische Chockwirkung, welche der Dadaismus gleichsam in der moralischen noch verpackt hielt, aus dieser Emballage befreit. In seinen vorgeschrittensten Werken, vor allem bei Chaplin, hat er beide Chockwirkungen auf einer neuen Stufe vereinigt.

Man vergleiche die Leinwand, auf der der Film abrollt, mit der Leinwand, auf der sich das Gemälde befindet. Das Bild auf der einen verändert sich, das Bild auf der andern nicht. Das letztere lädt den Betrachter zur Kontemplation ein; vor ihm kann er sich seinem Assoziationsablauf überlassen. Vor der Filmaufnahme kann er das nicht. Kaum hat er sie ins Auge gefaßt, so hat sie sich schon verändert. Sie kann nicht fixiert werden, weder wie ein Gemälde noch wie etwas Wirkliches. Der Assoziationsablauf dessen, der sie betrachtet, wird sofort durch ihre Veränderung unterbrochen. Darauf beruht die Chockwirkung des Films, die wie jede Chockwirkung durch gesteigerte Geistesgegenwart aufgefangen sein will. Der Film ist die der betonten Lebensgefahr, in der die Heutigen leben, entsprechende Kunstform. Er entspricht tiefgreifenden Veränderungen des Apperzeptionsapparats – Veränderungen wie sie im Maßstab der Privatexistenz jeder Passant im Großstadtverkehr, wie sie im weltgeschichtlichen Maßstab jeder Kämpfer gegen die heutige Gesellschaftsordnung erlebt.

—————

Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke

Подняться наверх