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Es wäre möglich, die Kunstgeschichte als Auseinandersetzung zweier Polaritäten im Kunstwerk selbst darzustellen und die Geschichte ihres Verlaufs in den wechselnden Verschiebungen des Schwergewichts vom einen Pol des Kunstwerks zum anderen zu erblicken. Diese beiden Pole sind sein Kultwert und sein Ausstellungswert.825 Die künstlerische Produktion beginnt mit Gebilden, die im Dienste der Magie stehen. Von diesen Gebilden ist einzig wichtig, daß sie vorhanden sind, nicht aber, daß sie gesehen werden. Das Elentier, das der Mensch der Steinzeit an den Wänden seiner Höhle abbildet, ist ein Zauberinstrument, das er nur zufällig vor seinen Mitmenschen ausstellt; wichtig ist höchstens, daß es die Geister sehen. Der Kultwert als solcher drängt geradezu darauf hin, das Kunstwerk im Verborgenen zu halten: gewisse Götterstatuen sind nur dem Priester in der cella zugänglich, gewisse Madonnenbilder bleiben fast das ganze Jahr über verhangen, gewisse Skulpturen an mittelalterlichen Domen sind für den Betrachter zu ebener Erde nicht sichtbar. Mit der Emanzipation der einzelnen Kunstübungen aus dem Schoße des Rituals wachsen die Gelegenheiten zur Ausstellung ihrer Produkte. Die Ausstellbarkeit einer Porträtbüste, die dahin, und dorthin verschickt werden kann, ist größer als die einer Götterstatue, die ihren festen Ort im Inneren des Tempels hat. Die Ausstellbarkeit des Tafelbildes ist größer als die des Mosaiks oder Freskos, die ihm voranging. Und wenn die Ausstellbarkeit einer Messe von Hause aus vielleicht nicht geringer war als die einer Symphonie, so entstand doch die Symphonie in dem Zeitpunkt, als ihre Ausstellbarkeit größer zu werden versprach als die der Messe.

Mit den verschiedenen Methoden technischer Reproduktion des Kunstwerks ist dessen Ausstellbarkeit in so gewaltigem Maß gewachsen, daß die quantitative Verschiebung zwischen seinen beiden Polen ähnlich wie in der Urzeit in eine qualitative Veränderung seiner Natur umschlägt. Wie nämlich in der Urzeit das Kunstwerk durch das absolute Gewicht, das auf seinem Kultwert lag, in erster Linie zu einem Instrument der Magie wurde, das man als Kunstwerk gewissermaßen erst später erkannte, so wird heute das Kunstwerk durch das absolute Gewicht, das auf seinem Ausstellungswert liegt, zu einem Gebilde mit ganz neuen Funktionen, von denen die uns bewußte, die künstlerische, als diejenige sich abhebt, die man später als eine beiläufige erkennen mag. So viel ist sicher, daß gegenwärtig der Film die brauchbarsten Handhaben zu dieser Erkenntnis gibt. Sicher ist weiter, daß die geschichtliche Tragweite dieses Funktionswandels der Kunst, der im Film am vorgeschrittensten auftritt, deren Konfrontation mit der Urzeit der Kunst nicht nur methodisch, sondern auch materiell erlaubt.

Die Kunst der Urzeit hält, im Dienste der Magie, gewisse Notierungen fest, die der Praxis dienen. Und zwar wahrscheinlich als Ausübung magischer Prozeduren (das Schnitzen einer Ahnenfigur ist selbst eine magische Verrichtung), wie auch als Anweisung zu solchen (die Ahnenfigur macht eine rituelle Haltung vor), wie auch endlich als Gegenstände einer magischen Kontemplation (die Betrachtung der Ahnenfigur stärkt die Zauberkraft des Betrachtenden). Gegenstände solcher Notierungen boten der Mensch und seine Umwelt dar, und abgebildet wurden sie nach den Erfordernissen einer Gesellschaft, deren Technik nur erst verschmolzen mit dem Ritual existiert. Diese Technik ist an der maschinellen gemessen natürlich rückständig. Aber nicht das ist für die dialektische Betrachtung das Wichtige. Für sie kommt es auf den tendenziellen Unterschied zwischen jener Technik und der unsrigen an, der darin besteht, daß die erste Technik den Menschen so sehr, daß die zweite ihn so wenig wie möglich einsetzt. Die technische Großtat der ersten Technik ist gewissermaßen das Menschenopfer, die der zweiten liegt auf der Linie der fernlenkbaren Flugzeuge, die keine Bemannung brauchen. Das Ein für allemal gilt für die erste Technik (da geht es um die nie wiedergutzumachende Verfehlung oder den ewig stellvertretenden Opfertod). Das Einmal ist keinmal gilt für die zweite (sie hat es mit dem Experiment und seiner unermüdlichen Variierung der Versuchsanordnung zu tun). Der Ursprung der zweiten Technik ist da zu suchen, wo der Mensch zum ersten Mal und mit unbewußter List daran ging, Abstand von der Natur zu nehmen. Er liegt mit anderen Worten im Spiel.

Ernst und Spiel, Strenge und Unverbindlichkeit treten in jedem Kunstwerk verschränkt auf, wenn auch mit Anteilen sehr wechselnden Grades. Damit ist schon gesagt, daß die Kunst der zweiten wie der ersten Technik verbunden ist. Allerdings ist hierbei anzumerken, daß die »Naturbeherrschung« das Ziel der zweiten Technik nur auf höchst anfechtbare Weise bezeichnet; sie bezeichnet es vom Standpunkt der ersten Technik. Die erste hat es wirklich auf Beherrschung der Natur abgesehen; die zweite viel mehr auf ein Zusammenspiel zwischen der Natur und der Menschheit. Die gesellschaftlich entscheidende Funktion der heutigen Kunst ist Einübung in dieses Zusammenspiel. Insbesondere gilt das vom Film. Der Film dient, den Menschen in denjenigen Apperzeptionen und Reaktionen zu üben, die der Umgang mit einer Apparatur bedingt, deren Rolle in seinem Leben fast täglich zunimmt. Der Umgang mit dieser Apparatur belehrt ihn zugleich, daß die Knechtung in ihrem Dienst erst dann der Befreiung durch sie Platz machen wird, wenn die Verfassung der Menschheit sich den neuen Produktivkräften angepaßt haben wird, welche die zweite Technik erschlossen hat.826

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Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke

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