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Der Majoratsherr Oskar fuhr um ein Uhr mit seiner Frau Anna fort. Sie waren bei den Herren von Drüdefeld auf Schornhof eingeladen. Man hatte wichtige Dinge zu besprechen. Die Drüdefelds waren nach den Hagendörps die grössten Grundherren im Fürstentum. Abgesehen natürlich vom Fürsten selbst, dem ein grosser Teil des Fürstentums persönlich gehörte, so dass er über vierzigtausend Morgen doppelt verfügen konnte, einmal als Grundherr, einmal als Landesherr. Die Drüdefelds opponierten immer grundsätzlich dem Fürsten, weil ihre Familie gut zweihundert Jahre älter war als die fürstliche. Wenn es aber um Wegeabgaben ging wie jetzt, so opponierten sie auch aus einfachem Ärger. Zum Abend waren alle Hagendörps zu den Töches eingeladen. Anna Hagendörp nahm die Gesellschaftskleider für Juliane und Hans Adalbert schon jetzt im Wagen mit. Denn die beiden wollten dann abends nach Quennfeld hinüberreiten.

Das Mittagessen mit Juliane und Ali, Clemens und Marianne war sehr lustig. Hans Adalbert veranstaltete ein „umgekehrtes“ Diner. Mit der Süssspeise fing man an, und Bouillon in Tassen schloss das Essen. Die Stühle standen mit den Lehnen zum Tisch. Den Kindern wurde zuerst gereicht, und sie durften die Erwachsenen fortdauernd ermahnen. „Man spricht nur, wenn man gefragt ist“, piepste Mariane und hob wie ihre Mutter drohend die Hand gegen Tante Juliane.

„Fleisch bekommt nur der, der auch tüchtig Gemüse nimmt!“ rief Clemens drohend. Worauf Marianne: „Lass das Geschaukele mit dem Stuhl, Onkel Ali.“ Und Clemens zu Juliane: „Gerade sitzen, Maul halten, Hände auf den Tisch.“ Und Marianne, als Onkel Ali aufbegehren wollte: „Es ist zu deinem Besten, wenn du jetzt gehorchst. Wer nicht gehorchen lernt, kann nie befehlen.“

Nach dem Essen lag Juliane auf ihrem Bett und versuchte zu schlafen. Es gelang ihr aber nicht. Sie starrte die Decke an, wollte ihre Gedanken verscheuchen, aber es nutzte nichts. Es war ihr ganz klar, dass Hans Adalbert nun in eine Lage geraten war, aus der er nicht herauskam, ohne etwas falsch zu machen. Ja, er konnte sogar gefährlich festfahren, wenn man ihm nicht half. Sie musste ihm helfen. Wenn sie ihm aber helfen sollte, so musste sie die Frau kennenlernen. Sie musste also zu ihr gehen. Hans Adalbert hatte ihr schon von der Begegnung bei der Stella matutina berichtet. Dass er nicht stehenbleiben konnte, weil gerade zwei alte Klatschtanten von B. die Strasse heruntergekommen waren, und dass er jetzt nicht wusste, ob er hingehen durfte, ohne die Frau heillos zu kompromittieren. Gut, er brauchte ja nicht hinzugehen, aber sie würde hingehen. Sobald wie möglich. Gleich nachher.

Auch Ali lag auf seinem Bett, er las in einem Roman, gähnte, warf das Buch in die Ecke. Er holte den Brief aus der Brieftasche und las ihn noch einmal. Er schüttelte den Kopf. Komisch. Gestern hatte ihn das gepackt, gestern war er drauf und dran gewesen, sich auf die Bahn zu setzen und nach Braunschweig zurückzufahren. Gestern hörte er, als er ihren Brief las, ihre Stimme, diese etwas gedeckte Stimme, die jeden Mann im Theater aufhorchen liess. „Liebster Ali. Es mag sein, dass ich schuld bin. Ich hatte wirklich nicht gedacht, dass Du plötzlich würdest kommen können, und ich glaubte, es mache Dir auch Freude, wenn ich vergnügt bin ...

Gestern klang das alles richtig, weil er sie sprechen hörte, heute aber las er es mit seiner trockenen Hagendörpschen Stimme. Da stimmte es nicht. Schön: sie konnte ja mit ihren Leuten, mit diesem jugendlichen Helden Bossmann und dem Charakterkomiker Schwieger tanzen gehen. Was ging es ihn an? Er ging auf das Liebesmahl, und sie tanzte eben in Heinemanns Festsälen. Schadete das jemand? Sicher nicht. Und wenn dann die Kameraden am anderen Tag erzählten, sie hätten die Garberding bei Heinemann tanzen gesehen, war denn etwas dabei? Sicherlich nicht. Sie erzählte es ihm ja selbst. Sie hatte das beste Gewissen. Die Sache war nicht der Rede wert. Nur: eigentlich, als Dame jedenfalls, durfte sie nicht in Heinemanns Festsälen tanzen. Das ging eben nicht. Als Schauspielerin ... natürlich, als Schauspielerin durfte sie es. Verstand sie nun, dass sie ihn in eine fatale Lage gebracht hatte? Nein, sie verstand es nicht, und da hatte man den hauchdünnen Sprung im Sevresporzellan. Es gab endlose Aussprachen über Schicklichkeit und Künstlertum. Ach, er konnte nicht gegen sie ansprechen. Sie redete so überzeugend wie ihr Vater, der Volksschullehrer. Sie sprach, und wenn sie sprach, vergass er alles und hörte nur zu. Er hörte nicht auf ihre Worte, sondern auf ihre Stimme. Wenn sie sprach, hatte sie recht, einerlei, was sie sagte. Aber wenn er allein war, dann hatte sie unrecht, einerlei, was sie gesprochen hatte. Darum hatte sie jetzt mit ihrem Brief unrecht. Aber wenn sie diesen selben Brief sprechen würde, wenn sie ihn dann ansehen würde mit ihren hellen, schwärmerischen Augen, dann war er ja doch wieder verloren.

Er lag mit einem verbissenen Gesicht im Bett. Wenn er hinging, das war nun klar, dann war er verloren. Aber wenn er nicht hinging, war er feige. Was also hatte er zu tun? Hinzugehen, das war klar. Und so beschloss er, ebenso wie seine Schwester, die Garberding aufzusuchen, bevor sie zu den Töches hinüberritten.

Mit diesem Entschluss schlief er ein und schlief ebenso fest wie Juliane nach ihrem Entschluss. Dass sie beide nicht dazu kamen, an diesem Tag zur Garberding zu gehen, hatte einen seltsamen Grund. Und dieser Grund war Grossmann.

Grossmann hatte am frühen Vormittag mit seinem Sekretär Dr. Boose und der Sekretärin Fley den Prospekt über die Aktien der Gesellschaft für industrielle Unternehmungen fertiggestellt. Es war dies kein Prospekt für den Druck, sondern eigentlich mehr ein Bericht, den der Bankier Wiedenbein seinen einzelnen Kunden vorlegen wollte. Grossmann fand in diesem Bericht immer neue Begründungen für die sogenannte Horizontalverkuppelung seiner Hotel-A.-G. mit der Elektrifizierungs-A.-G. und der Kanalisations-G. m. b. H. Er bewies haargenau, dass man auf diesem Umweg allein zu dem eigentlichen Projekt kam, zur Erschliessung der Stadt als Schlammbad, zur Errichtung eines Kurhauses, das im ganzen Fürstentum und noch über die engen Grenzen hinaus konkurrenzlos war.

Er hatte während dieser Arbeit verschiedene Gespräche mit Berlin. Es war eine sehr peinliche Unterredung mit dem Direktor einer Grossbank dabei. Trotzdem blieb Grossmann heiter. Er brauchte Berlin nur so lange, bis hier alles stand.

Von elf bis zwei hatte Grossmann den Ansturm der Bedenklichen und der Spekulanten von B. auszuhalten. Es kam der Papierhändler Kussler, der den grössten schwarzen Bart im Fürstentum trug, und der Zeitungsbesitzer Freund, es kam Rittmeister von Schwiering, der Grossmanns grosser Gegner war, und der Kleiderhändler Rossberg, der eleganteste Mann von B., es kam der Juwelier König, als Vorstand der Schützengilde Schützenkönig genannt, und der Buchhändler Kaiser, der aber eigentlich nur mit Postkarten, Gesangbüchern und zu Ostern mit Schulbüchern handelte. Sie hatte alle gehört, dass es bei Grossmann mehr als den Durchschnitt zu verdienen gab, und sie kamen mit barem Geld oder mit Papieren, mit Hypotheken und mit Pfandbriefen. Sie baten ihn, das Geld doch gleich dazubehalten, gegen Quittung natürlich und gegen einen Vertrag, der ihnen mindestens sieben Prozent garantierte. Dreihunderttausend Mark waren in zwei Stunden beisammen.

Danach aber kamen die Ängstlichen: Bürgermeister Koste zuerst, das glatzköpfige Oberhaupt der Stadt, der, „zufällig auf einem Spaziergang im Stadtwald begriffen“, mal eben hereinschaute, um nachzufragen, was Freund Grossmann unterdes für neue Pläne ausgeheckt habe. Es kam Bankdirektor Wiedenbein, der seine Bedenken in runden Zahlen aussprechen konnte: 150 000 hatte die Elektrifizierung von B. gekostet, 30 Mark also auf den Kopf der Bevölkerung. Wenn man jetzt 300 000 in die Kanalisation steckte, so belastete man jeden Bürger von B. einschliesslich der Kinder und Armen mit weiteren 60 Mark. Wo sollte dann noch Geld für ein Schlammbad und ein Kurhaus herkommen?

Nach Wiedenbein kam Klusemann, der Anwalt, der nicht als Wirtschaftler sprach, sondern als Freund. Bis jetzt sei der Fürst noch recht gnädig gestimmt. Aber wenn Grossmann nun immer wieder mit neuen Projekten kam, dann würde eines Tages der Fürst sehr verstimmt sein. Und in dieselbe Kerbe haute Wüstefeld, der zwei Zentner schwere Kalkwerksbesitzer. Er war selbstverständlich für das Projekt, an das er ja sein Kalkwerk anzuhängen hoffte. Aber der Boden war noch nicht genügend beackert. Vor allem: die führenden Familien waren noch nicht gewonnen. Wenn etwa der Fürst mit einemmal gegen alle Projekte sein würde, wer konnte dann vermitteln?

Grossmann liess sich nicht verblüffen. Er war ja in B. aufgewachsen und kannte deshalb den schwachen Punkt seines Aufbaues. Aber das durfte er diesem Wüstefeld nicht zugeben, und so sagte er denn: „Gut, ich werde bei den Hagendörps vorbeifahren. Ich werde den Freiherrn bitten, in den Vorstand der AG. einzutreten.“

Er hatte schon das Telefon in der Hand. Er liess den Wagen anspannen. Nein ... nicht den Vierspänner, sondern den Landauer sollte man nehmen und die beiden Rappen, die gerade aus Celle gekommen waren. Und der Trompeter konnte zu Hause bleiben. Grossmann war jetzt wirklich entschlossen, die Hagendörps anzugehen. Die Baroness Juliane hatte bei den Töches und bei den Quandts doch wirklich besonders nett und lebhaft mit ihm geplaudert. Vielleicht liesse sich auch mit dem Majoratsherrn reden. Vielleicht war es ihm ganz recht, im Aufsichtsrat ein paar tausend im Jahr einzustecken. Grossmann hatte in seinem Berliner Aufsichtsrat ausgezeichnete Namen. Vielleicht bekam er wirklich jetzt den Hagendörp.

Vorbei ...

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