Читать книгу Vorbei ... - Walther von Hollander - Страница 9

6

Оглавление

Niemand hatte damit gerechnet, dass es regnen würde. Aber es regnete. Zuerst noch sanft und tropfenweise. Dann mit dem Aufkommen eines Südwestwindes ziemlich scharf, landregenmässig. Es blieb dabei merkwürdigerweise warm. Aber was nützte das?

Was nützte das dem Fräulein Garberding, die seit sieben Uhr wach lag und dem Plätschern der Traufe zuhörte, dem Stuckern der Teppichkehrmaschine, die Frau Morgenstern persönlich durch das Esszimmer und den Flur hin und her fuhr.

Da hatte sie es also! Die lustige Kollegin Techemeier, die einzige, die von ihrer Geschichte mit Hagendörp wusste, hatte es ihr gesagt: „Du wirst hinfahren und in einer hässlichen Pension sitzen, und es wird regnen, und du wirst deinen Hagendörp nicht zu sehen bekommen. Denn er sitzt in seinem Schloss verschanzt. Was glaubst du wohl? Glaubst du, wir würden viere lang abgeholt werden und gebeten, dort zu bleiben? Das kommt wohl vor, aber uns Soubretten passiert es nicht. Dir passiert es vielleicht. Du bist schliesslich Tragödin. Das ist viel feiner.“

Das hatte sie im ersten Augenblick getröstet. Aber nun wusste sie, dass es Unsinn war. Gerade Soubretten und Tänzerinnen wurden geheiratet und Tragödinnen nicht. Wie hatte Ali noch bei der letzten Unterredung gesagt: „Mach nicht solches Niobegesicht, Lena. Keine Medea-Augen, bitte, nein, auch keine flehenden Iphigenienarme. Komm. Ich mag das nicht.“

Helene Garberding stand noch lange am Fenster, starrte in den Regen hinaus, starrte über die Gärten hin bis zu den hellgelben Edelkastanien, die unter dem grauen Himmel aussahen wie stehengebliebener Sonnenschein. Was sollte sie tun? Einen Brief schreiben? Ja, sie würde einen Brief schreiben und ihn hinüberschicken! Natürlich, das musste sie tun. Das war doch ganz einfach. Oder? Ja zum Donnerwetter, wenn sie nicht einmal das wollte, was wollte sie dann eigentlich? Wenn sie die hundert Kilometer zwischen Braunschweig und B. überwunden hatte, würde sie die fünfhundert Meter auch noch überwinden. Oder waren es mehr als fünfhundert Meter? Ja, viel mehr! Es war da jenes Missverständnis zwischen ihnen, das hundertmal besprochene und weggeräumte, das immer wieder erschien wie Schimmel auf Fruchtsaft.

Drüben, fünfhundert Meter entfernt, standen Clemens von Hagendörp und Hans Adalbert am Fenster von Alis Zimmer. Sie waren beide sehr ärgerlich über den Regen, denn sie hatten eigentlich einen Geländeritt in die Hagenberge geplant. Nun schossen sie Edelkastanien vom Baum. Gar nicht einfach mit einer Luftpistole, freihändig natürlich und ohne langes Zielen. Ziel von unten angehen. Peng. Sie hatten bis jetzt mit zwanzig Schüssen sechzehn Kastanien heruntergeholt. Von den Fehlschüssen hatte Clemens drei geliefert und war nach jedem Fehler rot geworden. Jetzt hatte er gerade die einundzwanzigste geholt, und nun kam der Onkel dran.

„Wir haben gestern abend im Park eine junge Dame getroffen“, sagte Clemens und starrte scheinbar gebannt in die Edelkastanie hinein. „Peng“, antworte Ali, „leider nur den Stengel abgeschossen. Aber unten ist sie. Was sagtest du? Eine Dame? Jung und knusprig? Wie, du verstehst das noch nicht? Kommt auch noch, Clemente. Wie alt bist du? Zwölf! Da hat es noch ein bisschen Zeit. Erst schiessen, dann reiten, dann heiraten ... das ist der Weg des Menschen.“

„Ich will ja gar nicht heiraten“, sagte Clemens und lud die Pistole neu, „ich finde das gar nicht so schön. Oder findest du? Sag mal ehrlich?“

„Ich habe es noch nicht ausprobiert“, sagte Hans Adalbert, „aber ich denke es mir auch nur mittelschön und ...“

„Peng“, unterbrach Clemens, „zum viertenmal vorbeigeschossen. Übrigens, die junge Dame gestern war sehr hübsch! Woher ich das weiss? Papa sagte es. ‚Apart‘, sagte er. ‚Augen wie Sahneschokolade‘, sagte er. Sie ist übrigens bestimmt nicht von hier. Klar. Die Hiesigen kennen ja Laura. ‚Die Wölfin‘, sagen sie und gehen nicht in den Park.“

„Also nun lassen wir die Dame im Park stehen“, schloss Hans Adalbert, „und gehen frühstücken.“

Clemens säuberte die Pistole, Hans Adalbert band mit vielem Seufzen über die „albernen Angewohnheiten der Zivilisten“ seine Krawatte. Dann gingen sie Arm in Arm die Treppe hinunter. Unten in der Halle, unter der Sodomitischen Flucht, hielt der Onkel den Neffen am Arm fest. „Sag mal“, probierte er vorsichtig, „diese Dame ging also einfach spazieren? Ist doch komisch. Was war denn das für eine Dame?“

„Sie hatte eine ganz moderne halblange Jacke an“, sagte Clemens. „Mama wollte neulich so eine halblange Jacke haben. Aber Papa meinte, das tragen nur die kleinen Bürgerfrauen. Ich fand die halblange Jacke ganz schön.“

„So“, sagte Ali und ging schnell ins Frühstückszimmer. Juliane sass drin hinter der Zeitung. Sie rauchte eine Zigarette aus einem Zigarettenring, den sie sich auf den Finger gestülpt hatte.

„Keine Post?“ fragte Hans Adalbert. „Doch!“ Juliane hob einen Brief hoch. „Von den Töches.“ „Sicher eine Einladung. Stimmt’s?“ Ja, es stimmte. Eine Einladung für den Abend. Na, passte ja ganz gut. Beim Regen konnte man doch nichts Vernünftiges unternehmen.

„Sonst keine Post?“ fragte Ali noch einmal und schlug ärgerlich einem Ei die Kappe ab.

„Wir essen nur selten Briefe zum Frühstück“, sagte Juliane, „die Dame wird wohl selbst kommen.“ Dann vertiefte sie sich wieder in die Zeitung, nahm auch noch den Anzeiger von B. vor und studiete ihn genau.

Clemens hatte schnell fertiggefrühstückt und ging hinaus.

„Es könnte sein, Juli“, flüsterte Hans Adalbert, „es könnte sein, dass sie schon da ist.“

„Oskar erzählte mir von einer Parkdame“, antwortete Juliane. „War sehr angetan von ihr. Ich dachte mir gleich so etwas. Was machst du nun?“

„Ich kann sie nicht ausklingeln lassen“, sagte Hans Adalbert böse. „Also kann ich gar nichts tun.“

Juliane legte endlich die Zeitung weg. „Ich finde“, fing sie in ihrer vorsichtigen Art an, „dass die Hagendörps reichlich passiv geworden sind. Oskar ist schon seit ein paar Jahren zu vornehm, um irgend etwas anzupacken. So sitzen wir, und wenn der Inspektor gut ist und die Ernte gut ist, dann geht es auch uns ganz gut. Wenn aber Inspektor und Ernte schlecht sind, dann geht es auch uns schlecht. Das kann man nicht ändern, sagt Oskar, und nun kommst du auch, mein Sohn, und lässt die Dinge an dich herankommen, oder besser: du lässt sie in einiger Entfernung vor dir stehen und denkst, es wird schon nicht ganz herankommen. Da ist doch noch ein alter Wassergraben um das Schloss, eine Zugbrücke, schade eigentlich, nicht wahr, dass man sie nicht hochziehen kann.“

„Ich habe nichts für Zugbrücken übrig“, fiel Hans Adalbert ein. Aber Juliane fuhr unbeirrt fort: „Schön, dann hast du nichts für Zugbrücken übrig. Aber für: ‚Betreten verboten! Die Ortspolizeibehörde‘. Ihr wisst genau, dass die Menschen hochachtungsvoll vor eurem Schild stehenbleiben. Ist auch der Torbogen da. Unser gewaltiges Bauwerk. Für Touristen drei Sterne. Aber die meisten Touristen begnügen sich mit der Vorderseite der schönen Dame und lassen die Hinterseite dem Vergnügen der Schlossbewohner. Also, man kann immer noch nicht sehr gut an uns heran.“

„Ich weiss nicht“, versuchte Hans Adalbert, „was diese Ansprache eigentlich soll.“

Juliane war aufgestanden. Sie ging, wie immer die Hände in den Taschen, langsam hin und her. Sie sagte: „Das gehört auch zu euch, dies ‚Ich verstehe nicht ganz‘. Und die Hoffnung, der andere wird zu schüchtern sein, um deutlich zu werden. Ich bin aber nicht so schüchtern, Ali. Ich sage, was ich meine. Und ich meine, du solltest tapfer und klar und anständig sein.“

„Du findest also, dass ich feige bin?“ fragte Hans Adalbert ziemlich böse.

Juliane lächelte: „So leicht mache ich es dir nicht, Kleiner. Wenn ich jetzt sage: ja, du bist feige, dann brauchst du nicht mehr zuzuhören. Dann schreist du: ‚Was? Ich, ein Hagendörp, einer der besten Reiter der Armee, ein Kunstschütze, ein tollkühner Bergsteiger, ich soll feige sein?‘ Darum erkläre ich dir: Du bist natürlich nicht feige, du wirst jede Attacke gegen jedes Maschinengewehr reiten. Auch wenn du weisst, dass du bestimmt draufgehst. Aber hier, Kleiner, hier.“

Sie hatte die Hand auf ihr Herz gelegt. Sie kam auf ihn zu. „Hier“, wiederholte sie, „hier bist nicht nur du feige. Hier sind wir alle feige. Oskar natürlich und Anna, seine Gattin, und vielleicht sogar Tante Clementine. Und vor allem ich.“

„Also schön, ich bin feige“, antwortete Hans Adalbert leise, „ich gebe es zu. Wenn ich über einen Graben rüber soll und weiss nicht, wie breit er ist, dann kriege ich Herzklopfen ...“ Er machte eine Pause. Denn Kuntze, der Diener, kam abräumen. Sie gingen in die Halle hinaus und wanderten dort unter der Sodomitischen Flucht auf und ab, vorbei am Porträt des alten Oskar von Hagendörp und am Bilde seiner Frau, der geborenen Schwalenbeeck, und am Bilde des Freiherrn Herbert von Hagendörp, des einzigen, der nie eine Uniform getragen hatte, sondern ein Philosoph gewesen war, wie man in der Familie sagte, in Wirklichkeit ein wissenschaftlicher Landwirt, ein Anhänger von Albrecht von Thaer. Sie wanderten Arm in Arm und sprachen leise weiter, weil an jeder Tür, weil oben im Gang einer stehen konnte und zuhören oder vielleicht hinter den Säulen, hinter denen sie als Kinder oft Versteck gespielt hatten. Sie erinnerten sich genau, wie oft sie den Gesprächen der Grossen zugehört hatten, wenn sie unverständliche, gefährliche und seltsame Dinge untereinander beredeten, und sie hatten geschworen, dass sie später mit ihren Geheimnissen und ihren Schwierigkeiten vorsichtiger umgehen würden. Hans Adalbert also flüsterte:

„Natürlich, wenn sie hier ist, kann ich sie finden. Sie kann ja nur im Schwarzen Lamm oder im Waldfrieden oder gleich hier bei der alten Morgenstern wohnen. Ich kann sie also finden, falls sie da ist. Aber damit ist es ja nicht getan. Es ist da etwas anderes ... Meinst du nicht, wenn es erst einen Knacks gegeben hat, dass man es dann besser ganz wegschmeisst?“

„Hm“, sagte Juliane, „vielleicht.“

„Ich habe natürlich an Mutter gedacht“, fuhr Hans Adalbert fort, „weisst du noch, die wunderbare Sevresschüssel mit der Hirtin? Man konnte den Sprung kaum sehen, so hauchdünn war er. Aber sie schmiss das Ding doch weg.“

„Verstehe“, nickte Juliane, „du willst also wissen, ob man so eine Sevresschüssel wegschmeissen muss oder soll. Weisst du, Mutter war sehr vorschnell. Sie hat nur niemals zugegeben, wenn sie was gereut hat. Aber ich glaube, sie hätte ganz gern manchmal wieder was Weggeschmissenes zurückgeholt. Wenn es beim ersten Knacks immer zu Ende wäre, dann könnte wahrscheinlich kein Paar auf dieser Erde zusammenbleiben.“ Hans Adalbert lächelte ein wenig hochmütig oder nachsichtig. Juliane hatte ja sicher recht. Aber bei ihm war die Sache doch ein bisschen anders.

Er versuchte der Schwester klarzumachen, dass er eine noch nie dagewesene Art von Liebe empfunden hatte. Dass er bis vor kurzem bereit gewesen war, alles dafür herzugeben, was er hatte. Beruf also, Ruf und Familie. Wenn man aber so stand, dann durfte es doch keine Missverständnisse und Reibereien geben wie zwischen anderen Menschen. Und wenn es doch Missverständnisse gab, dann sollte man eben ein Ende machen. Und noch eines sollte Juliane wissen, etwas ganz und gar Verrücktes: als er annahm, dass jene Frau nicht nach B. kommen würde, da glaubte er, dass er unmöglich noch vierzehn Tage ohne sie würde weiterleben können. Er glaubte, dass er überhaupt niemals würde leben können, wenn er nicht mit ihr zusammen war. Aber nun, da er ahnte, dass sie da war, nun fing er an zu verstehen, dass er nicht würde weiterleben können, wenn er mit ihr zusammenblieb. Bitte, war das nicht ganz und gar irrsinnig? Hatte Juliane jemals so etwas Blödes, Verrücktes, Unsinniges, Albernes gehört?

Juliane war einigermassen erschrocken. Sie wusste auch wirklich wenig zu raten. Sie wusste nur, dass es viel ernster war, als sie gedacht hatte. Aber im Augenblick konnte sie nichts weiter sagen als: „Na, so blöd und verrückt ist das gar nicht, mein Junge. Das ist nur so irrsinnig ... wie eben jede Sache, die mit der Liebe zusammenhängt. Kein Mensch wird damit fertig, und doch lässt keiner die Finger davon. Was soll dabei herauskommen?“

Hans Adalbert war recht enttäuscht. Wenn sogar Juliane nichts Besseres wusste, dann konnte ihm wirklich niemand einen Rat geben.

Der Regen hatte nachgelassen. Hans Adalbert beschloss, seine Meldung beim Bataillonskommandeur zu machen. Er zog sich die Uniform an und fuhr in die Stadt. Er hatte den halboffenen Landauer genommen, sass also beinahe versteckt hinter den Wagenscheiben. Aber die Einwohner von B. hatten Augen, die durch solche halben Wände drangen, besonders an Regentagen, an denen wenig Menschen auf den Strassen waren. So wurde Hans Adalberts Fahrt zum Garnisonskommandanten von tausend Augen beobachtet, und unter diesen tausend Augen waren auch die Augen von Frau Morgenstern (Stella matutina). Sie erzählte die wichtige Tatsache ihrer Pensionärin, Fräulein Garberding, und auf diese Weise geschah es, dass auf der Rückfahrt Helene Garberding am Fenster stand, den Wagen den Schlossweg heraufkommen sah, sich weit aus dem Fenster bog und winkte. Frau Morgenstern fand dieses Benehmen recht merkwürdig. Winken durften junge Damen doch nur dem regierenden Fürsten und nicht einem Husarenleutnant. Und noch merkwürdiger war natürlich, dass der Husarenleutnant dieses Winken beantwortete. Ja, Hans Adalbert von Hagendörp stand in seinem Wagen auf, wandte sich um und winkte zurück. Er liess sogar den Wagen einen Augenblick halten und stieg aus.

Helene Garberding lief die Treppen hinunter, aus dem Haus, aus dem Garten. Aber als sie auf der Strasse angekommen war, verschwand Hagendörp in seinem Landauer, die Pferde zogen an, der Wagen bog um die Ecke.

Der Regen hatte gerade besonders heftig eingesetzt. Die Garberding stand vielleicht eine Minute erstarrt und erstaunt auf der Strasse. Aber das genügte. Sie war ganz nass, als sie hereinkam. Das dünne Sommerkleid klebte an ihren Schultern. Ihre Augen waren rot, als hätten sie einen Sturzregen von Tränen vergossen. Die alte Morgenstern kam ihr mit vorwurfsvollem Kopfschütteln entgegen. Sie sagte: „Aber ... aber ... in diesem Regen hinaus ...“

Die Garberding sah sie an, versuchte etwas zu sagen, schüttelte wie eine Stumme verzweifelt den Kopf.

Frau Morgenstern legte ihr die Hand auf das nasse Haar. „Aber Kind“, murmelte sie, „was ist denn mit Ihnen, Kindchen? Sie kennen wohl den jungen Baron Hagendörp ..? Na, sprechen Sie doch.“

Jetzt endlich nickte Helene Garberding und flüsterte: „Natürlich kenne ich ihn.“

Sie entzog sich vorsichtig der schirmenden Hand ihrer Pensionsmutter, ging ohne weitere Erklärungen in ihr Zimmer und schloss sich ein. Man hörte nichts mehr von ihr. Sie lag nämlich, den Kopf in die Kissen gepresst, und weinte, weinte, bis sie schliesslich unter dem Tropfen des Regens einschlief. Und wieder träumte sie. Aber dieses Mal floh sie, die Nymphe mit der Marmorhaut, nicht vor den Hunden der Hagendörps, sondern sie rannte atemlos mit den Hunden zusammen hinter dem Wagen Hans Adalberts her, der sich immer weiter entfernte. „Warum“, rief sie im Traum, „warum wartest du nicht? Warum wartest du nicht?“ Und in den Traum hinein spürte sie immer wieder den eisigen Schrecken, der sie gepackt hatte, als der Wagen Alis um die Ecke bog und der Regen ihr auf die Schultern klatschte. Warum war Hagendörp weggefahren?

Vorbei ...

Подняться наверх