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Draussen am Portal stand Kuntze, der Diener, mit den beiden Kindern, Clemens Hagendörp, zwölf Jahre alt, und der achtjährigen Marianne. Sie begrüssten den Onkel stürmisch. Er brachte immer die schönsten fliegenden Schweine mit, Zigaretten, die ein Feuerwerk enthielten, Bonbons, die mit Essig, Mohrenköpfe, die mit Senf gefüllt waren.

„Onkel Ali“, zwitscherte Marianne, „was für einen Blödsinn schleppst du heute an?“ Und Clemens setzte erklärend hinzu: „Papa meint, wenn du da bist, traut man sich nicht zu essen wegen der Pappewürstchen und der Essigschokolade.“

Jetzt erschien Juliane in der Tür, den Kragen der Jacke hochgeschlagen, die Hände in den Taschen, einen halben Kopf grösser als Hans Adalbert, sehr männlich mit ihrer Hakennase, den schmalen Lippen, den hohen, schlanken Beinen und den knochigen Hüften. „Ali“, sagte sie und zog den Bruder mit einem derben Griff an ihre Brust, „alter Bengel! Gott sei ausnahmsweise gelobt! Na, denn komm man. Die hohen Herrschaften sind in der Halle.“

Sie hakte den Bruder unter und zog ihn ins Haus. Sie wartete in der Garderobe, bis er sich die Hände gewaschen und den Scheitel neu gezogen hatte. Sie sprach eifrig in den Spiegel hinein über das Wetter, über das elektrische Licht, das man mit fünf Wochen Lärm und Dreck und mit dreitausend Mark bezahlt hatte, über die Tante Clementine, die Fürstin L., die erwartet wurde.

„Na ... denn ...“ schloss Juliane, und nun zog der ganze Tross in die Halle ein. Oskar, der Erbherr auf Hagendörp, kam dem Bruder ein paar Schritte entgegen. Die Schwägerin hob den Kopf vom Stickrahmen, lächelte und winkte. „Na ... denn ...“ sagten die Brüder, reichten sich die Hände, griffen zu ihren riesigen Zigarettenetuis und hielten sie sich gegenseitig unter die Nase. Ali — so wurde Hans Adalbert im Familienkreis genannt — bot auch der Schwägerin eine Zigarette an. Aber sie dankte. Sie rauchte niemals.

Der Willkommens-Portwein wurde serviert. Es kam der Begrüssungsgang zur Köchin, Frau Predoll, zum Gärtner, Herrn Predoll, quer über den Hof in den Pferdestall, zu den Pferden und zum Futtermeister Schwintze, es kam ein Wettlauf mit Clemens, dem Neffen, den Lindenweg hinunter bis zum Pavillon, an der fliegenden Nymphe vorbei und zurück. Ali musste sich schon ein wenig ins Zeug legen, um zu siegen. Denn Clemens rannte im Stil von Hanns Braun.

Danach gab es eine prachtvolle Überraschung für die Kinder, Leuchtballons, die man an Bindfaden steigen liess und wie künstliche Monde bis in Dachhöhe hinaufmanövrieren konnte, wo sie die Nacht über hockenblieben. Bald darauf wurde schon zu Abend gegessen. Danach spielte man Skat, und endlich war es zehn, und man ging schlafen.

Oder wenigstens das Ehepaar Hagendörp ging schlafen. Juliane aber und Hans Adalbert trafen sich zehn Minuten später in Julianens Zimmer. Juliane hatte sich schon ins Bett gelegt. Nein, sie sass, wie sie abendelang, nächtelang sass, die Beine ein wenig angezogen, einen Kissenberg im Rücken neben der Wand, die fast tapeziert war mit den unzähligen Bildern der Mutter. Zart und langschädelig, mit grossen, stillen Augen blickte sie auf ihre „unähnliche“ Juliane herab und sah auf Hans Adalbert, der ihre Züge, nur wenig ins Männliche, ins Frischere und Lustige gewandelt, jetzt durchs Leben trug.

Neben dem Bett stand ein Kühler mit zwei Flaschen Wein, Zigaretten, ein wenig Gebäck, Makronen vor allem, von Frau Predoll für Ali zubereitet. Ali zog sich den riesigen Blumenstuhl, den Stuhl der Mutter, ans Bett, und nun fing eigentlich der Urlaub an. „Prost“, sagte Juliane, „und dass es dir immer gut gehe, mein Kleiner!“

„Prost, Grosse!“ antwortete Hans Adalbert. „Und schön, dass du wenigstens hier bist. Sonst ...“ Er zog die Schultern ein wenig hoch, er rieb sich die Knie. Er stand auf und ging ans Fenster. Ein ziemlich kühler Nachtwind hatte sich aufgemacht. Der Viertelmond stand über der Blutbuche. Laura, die Wolfshündin, war gerade losgekommen und rannte bellend mit ihren drei Jungen ums Schloss. Aus der Stadt antworteten ein paar Hunde.

„Schön hier“, sagte Ali, „sehr schön, prachtvoll.“

Er setzte sich wieder in den Stuhl, schwieg. „Du sprichst schon so viel, wie Papa sprach“, sagte Juliane. „Oskar denkt auch, als Majoratsherr darf er nur wenig sprechen. Da spricht denn unsere gute Anna den ganzen Tag. ‚Meinst du nicht, liebe Juliane, dass man den Landrat schneiden sollte, wenn er erst nach vierzehn Tagen Besuch macht? Meinst du nicht, dass die Kinder lieber nicht mit diesen Kindern von Amtsrichtern, Oberlehrern, Bürgermeistern und Konditoren verkehren sollten? Neulich kam die Amtsrichterin ihre Tochter suchen. Stand mit einemmal in der Diele. Entsetzlich.“

„Aber meinst du nicht“, lachte Ali, „dass unsre Anna hier mal ein bisschen recht hat? Wenn man mit den Leuten in B. erst einen Verkehr anfängt, stehen sie plötzlich alle in der Diele. Denk’ es mir grossartig, Bürgermeister Koste oder Rechtsanwalt Klusemann unter der Sodomitischen Flucht stehend.“ „Du vergisst, dass es ohne die Leute aus B. etwas langweilig ist“, sagte Juliane. „Ich reite, ich fahre spazieren, ich komme auf die Güter zum Tee oder zum Jagdessen. Aber beim Jagdessen muss man so lange warten, bis die Herren geruhen von der Jagd zu kommen. Und sobald das Essen aus ist, muss man machen, dass man wegkommt, weil sie dann anfangen wollen, ihre unanständigen Geschichten zu erzählen. Es ist wirklich sehr langweilig.“

„Aber die Leute aus B. sind doch wahrhaftig auch nicht amüsant. Oder —?“

„Nein“, antwortete Juliane. Es klang nicht ganz überzeugend. Ali sah sie erstaunt an. Er spürte: auch die „lustige“ Juliane war nicht mehr so lustig. Wurde sie etwa, wie andere Frauen, schon mit vierunddreissig Jahren bitter? Übrigens hatte sie sich auch äusserlich verändert. Sie trug das Haar jetzt straff zurückgekämmt, in einem festen Knoten im Nacken zusammengesteckt. Sie hatte an den Schläfen ein paar Falten bekommen.

„Juli ...“ lächelte er ... „Grosse ...!“

Sie sprachen noch von B. Es waren wieder ein paar Skandale vorgekommen, die Frau des Postmeisters war ins Wasser gegangen, ein Schokoladenmädchen hatte einen Fabrikanten geheiratet, eine Beamtentochter hatte ein Kind gekriegt, ohne vorher auf dem Standesamt gewesen zu sein. Es war immer dasselbe. Neu war Grossmann mit seineu Millionen. Er besass jetzt das ehemalige „Kleine Palais“ der Fürstin Clementine L., das schönste Haus von B., drüben am Abhang des Eichenberges. Seine Schimmel waren die schönsten Pferde von B., seine Ausgaben märchenhaft, sein Auftreten musste man albern und aufreizend nennen. Juliane entwarf ein genaues Porträt Grossmanns. Er sah seinem Vater, dem Klempner, ähnlich. War breit, unscheinbar, grauhaarig, hatte einen grossen Kopf und einen kleinen Spitzbart. Trug graue, steife Hüte wie ein Engländer, weisse Gamaschen wie ein französischer Bühnengraf. Machte wilde Anstrengungen, im Schloss zu verkehren. Aber bisher war es ihm nicht gelungen. Juliane hatte ihn nur bei Quandts in Schwendorf getroffen und bei Töches in Quennfeld. „Übrigens hörst du gar nicht zu“, unterbrach sie sich, „du sitzt da und trinkst wie ein Alter und horchst und denkst. Komm mal her, mein Kleiner.“

Ali schüttelte den Kopf. „Erzähl nur weiter von diesem Grossmann. Hört sich ganz romantisch an. Heinolt war auch voll davon. Vier Schimmel und eine Trompete hinten wie vor Jericho.“

„Nein“, sagte Juliane, „genug Klatsch. Jetzt musst du mal erzählen. Komm her und schiess los.“

Hans Adalbert setzte sich gehorsam auf die Bettkante. Er nahm sich eine neue Zigarette.

Laura, die Wolfshündin, kam belfernd zurückgelaufen. Die Jungen jankten um sie herum, ein Käuzchen pfiff. Drüben auf der anderen Seite, am Inspektorhaus also, oder an den Leutehäusern, rief eine Frau, eine andere antwortete, und ein paar Männer lachten bellend.

„Euer Grossmann“, fing Ali wieder an, aber Juliane hielt ihm den Mund zu. „Nein, nein, rede du“, sagte sie, „mit dir ist was los, hast du Ärger im Dienst? Nein? Schulden? Ja? Wieviel? Knapp fünfhundert? Viel zuviel, Ali, aber nicht genug, um solche Augen zu machen. Dann ist es also rein privat.“

„Mächtig privat“, lachte Hans Adalbert. „Lass man —“

Juliane holte hinter ihrem Kissen einen Brief heraus. „Da“, sagte sie, „ich habe es mir gleich gedacht. Habe ihn deshalb aus der Post gefischt. War doch besser, wie? Oder ist es eine Verlobung, Kleiner?“

Der „Kleine“ schüttelte den Kopf. „Privat ... ganz privat.“ Er steckte den Brief ein, sagte nichts weiter, trank seinen Wein, rauchte noch zwei Zigaretten. Juliane rauchte und trank nicht. Nach zehn Minuten fing sie an zu gähnen. Sie drängte Ali zum Aufbruch, zog ihn noch einmal an sich heran. Sah ihn lange und forschend an. Auge in Auge, ein altes Spiel, das sie früher immer gespielt hatten, wenn es galt, eine Wahrheit herauszukriegen oder eine Standhaftigkeit im Verschweigen zu beweisen.

„Ali“, sagte sie dann, „wenn es eine wirkliche Liebe ist, dann musst du dich eigentlich freuen. Also freu dich. Aber sei dir klar, dass es vorübergeht. Verstehst du mich, Kleiner? Es geht vorüber. Denk dir, Henriette von Bütow hat drei Monate geweint, als der Mann auf der Jagd erschossen wurde. Jetzt, nach einem Jahr, heiratet sie den Vetter Bütow. Denk dir, so schnell geht das vorüber.“

Und nach einer Pause, als müsste sie es ihm einbläuen: „Es geht vorüber, es geht vorüber. Hörst du?“

Hans Adalbert lächelte die Schwester an. Er versuchte vergnügt auszusehen. Aber er sah grau und grämlich aus. „Ich höre“, brummte er und wies nach B. hinunter. Man hörte jetzt aus der Stadt eine Trompete heraufklingen, hell, lustig und frech.

„Grossmann tutet“, sagte Juliane und lachte. „Doll, was?“

„Ja ... ziemlich doll“, gähnte Hans Adalbert und ging hinaus.

Er stand im dunklen Gang zwischen den mächtigen Schränken. Hinten im Gang brannte noch wie früher ein auf Öl schwimmendes Licht und warf die riesigen Schatten von Geweihen und Vögeln, von grossen Kronleuchtern und Wandarmen. Leutnant von Hagendörp schlich auf den Zehenspitzen an dem Bild des Reichsgrafen Ulrich aus der mütterlichen Linie vorbei. Er zog die Tür schnell hinter sich ins Schloss, als wollte er die Schatten abschrecken, er legte sich ins Bett, löschte das Licht, warf sich unruhig hin und her, machte wieder Licht und nahm nun endlich den Brief vor. Er las, die Augenbrauen angestrengt gehoben. „Na ja“, sagte er, „natürlich ... weiss ich ja.“ Dann löschte er endgültig aus. Draussen bellte Laura, die Hündin, wild auf. Grossmanns Trompete näherte sich, bog kurz vor dem Schlossweg ab und fuhr in Richtung Schwendorf davon.

Dann war alles still, und Ali Hagendörp konnte über seinen Brief nachdenken und über Juliane, die immer gleich wusste, was los war, und wusste, wie es ausgeht ... und ob sie wohl auch diesmal recht behielt, und ob wirklich auch dies vorübergehen würde, wie jede andere Liebe? Das war doch ganz und gar unmöglich. Unmöglich! Denn sein Leben hatte sich endlich verändert.

Vorbei ...

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