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Der erste, der von der Geschichte etwas Genaueres erfuhr, war Clemens, der zwölfjährige Majoratserbe. Er hatte nämlich die Luftballons, die sie am Abend vorher aufsteigen liessen, von der Dachluke aus in Sicherheit gebracht und festgestellt, dass er mit einer Wäscheleine leicht in das offene Fenster des Onkel Ali hineinkommen konnte. Er fand, dass Ali jetzt um neun Uhr endlich aufstehen könne. Denn wann sollte man wohl Tennis spielen, schiessen, reiten, wann sollte man rudern, schwimmen, wettlaufen, Pflaumen ernten und zum Hirscheschreien fahren, wenn man nicht gleich mit irgend etwas anfing? Er bewaffnete sich also mit einer wassergefüllten Blumenspritze, band sich eine Wäscheleine um, die er auf dem Dachboden um eine starke Säule wand, und rutschte über das Dach abwärts bis zur Regenrinne. Von hier aus schwang er sich in den Wipfel der mächtigen Edelkastanie, die mit gelben Blättern leuchtend vor dem Fenster des Onkels stand. In der Kastanie konnte er wie auf einer Treppe bis zur Fensterhöhe hinuntersteigen und auf einem ziemlich starken Ast so ans Fenster herankommen, dass er mit einem kleinen Klimmzug im Fenster sass.

Er stieg vorsichtig hinein und hatte schon auf den schlafenden Ali gezielt, als er einen Brief auf dem Bett liegen sah. Den musste man besser wegnehmen. Denn sonst gab es durch die nasse Tinte eine Riesenschweinerei, und Mamsell Wenig würde sehr schimpfen und ihn bei der Mutter verpetzen. Clemens nahm also den Brief vorsichtig mit zwei Fingerspitzen fort. Dabei las er: „Liebster Ali ... müssen zu Ende sprechen ... so nicht auszuhalten ... werde einfach morgen nachfahren ... nicht böse ...“

Clemens warf den Brief zornig in die Ecke ... einfach: „nachfahren“ ... Natürlich! Als ob es nicht schon genug Erwachsene um Ali herum gab. Gleich waren sie da: die Töches und die Brenningstedts, die Kusinen Klinke und die Marschallmädchen, und jetzt war es nicht genug mit denen, die schon hier waren, jetzt fuhren ihm auch noch die Damen von auswärts nach. „Liebster Ali ...“

„Hallo!“ rief er ... „Onkel Ali, eins ... zwei ... drei ... Augen auf und Hände hoch, oder ich schiesse.“

„Schiesse“, gähnte Ali und streckte sich, ohne die Augen aufzumachen.

„Eins ... zwei ...“ begann Clemens ... „drei ...“ schloss Ali und hatte die Ladung Wasser im Gesicht. Clemens wollte natürlich ausreissen. Aber er hatte vergessen, die Leine abzuknüpfen, mit der er durchs Fenster gestiegen war, und blieb darum, als die Leine zu Ende war, in der Tür hängen wie der Fisch an der Angel.

Die Szene endete mit einer ordentlichen Tracht Prügel und der feierlichen Überreichung einer neuen Luftpistole, die Onkel Ali gegen den ausdrücklichen Befehl des Vaters und der Mutter nun doch mitgebracht hatte. Er schärfte dem Neffen Vorsicht ein. Er dürfte höchstens oben auf dem Dachboden schiessen oder hinten im Park am Pavillon und natürlich überall im Wald.

Clemens zog strahlend ab. Er holte sich eine alte Schiessscheibe vom Offiziersschiessen der Halberstädter Kürassiere, auf der ein Hirsch von vielen Kugeln durchlöchert war und um deren Blattschuss geschrieben stand: Oskar Freiherr von Hagendörp. Nach dieser Scheibe schoss Clemens den halben Vormittag über hinten im Park. Auf fünfundzwanzig Schritt traf er zweimal die Stelle, die sein Vater schon einmal durchschossen hatte. Trotzdem blieb er verbissen und ernst. Gegen elf Uhr kamen Ali und Juliane Arm in Arm den Weg hinunter. Als sie sich näherten, schwiegen sie. Also sprachen sie etwas Wichtiges. Natürlich. Tante Juliane hatte zornige Augen. Zwanzig Schritte weiter sagte sie: „Unsinn ... das erlebt jeder einmal.“

Und Hans Adalbert: „Ausser dir, Juliane, ausser dir.“

„Das ist noch nicht so sicher, Ali. Mit Vierunddreissig war unsere Grossmutter schon Grossmutter. Aber ich bin noch nicht Grossmutter. Verstehst du?“

Worauf Hans Adalbert noch einmal zu Clemens zurückkam, die Schüsse begutachtete und selber einen in den Rand der Scheibe jagte. Ali, der Meisterschütze! Aber natürlich, wenn einer mit zitternder Hand schiesst! Juliane schoss auch. Sie traf, wie immer, ins Zentrum.

Es blieb etwas Unruhiges in der Luft. Clemens spürte es genau. Gleich nach dem Mittagessen fuhren Juliane und Ali nach der Försterei Mühlenhoff. Marianne und Clemens durften mit. Sie fuhren quer durch die Stadt, hielten vor der Post. Hagendörp ging hinein, ein Telegramm aufzugeben. Marianne durfte solange die Zügel halten. Juliane ging neben dem Wagen auf und ab, blieb dann bei den Pferden stehen, streichelte ihnen den Hals. „Ruhig, Russka“, sagte sie. Dabei stand Russka still wie ein Holzpferd.

Aus dem Café Gresshorn kam ein Mann schnell über den Platz, ein ziemlich unscheinbarer Mann mit Spitzbart, mit einem grauen, steifen Hut, einem hellgrauen Schniepel oder Cutaway, wie man das damals nannte, mit weissen Gamaschen. Er trat grüssend an Juliane heran. „Fräulein von Hagendörp“, sagte er leise und hielt den Hut überhöflich in der Hand. „Ich sah von weitem nur die Pferde. Russka und Schlippe, wenn ich mich recht erinnere. Prachtvolle Kerle. Darf man fragen, wie es Ihnen geht? Ich wollte dieser Tage Ihrem Herrn Bruder schreiben. Es handelt sich da um eine städtische Angelegenheit.“

Juliane hielt die beiden Pferde an den Zügeln, als ob sie davonlaufen wollten. „Guten Tag, Herr Grossmann“, sagte sie. Sonst nichts. Grossmann konnte nun sehen, wie er die Unterhaltung in Gang hielt. Gleich weggehen mochte er nicht. Denn es standen der Rittmeister von Schwiering und der Rechtsanwalt Klusemann und der Bankdirektor Wiedenbein hinter der Efeuwand des Café Gresshorn und sahen herüber, ob Grossmann wirklich mit Juliane von Hagendörp sprechen durfte, wie er es behauptet hatte, oder ob sie ihn wegschicken würde. Er musste also bleiben, und er blieb.

Hans Adalbert aber schrieb in der Post schon das dritte Telegramm. Das erste lautete: „Garberding, Braunschweig, Hoftheater. Auf keinen Fall kommen. A.“ Das zweite mit der gleichen Adresse: „Bitte nicht kommen. Ali.“ Das dritte: „Halte nichts vom Kommen. Hans Adalbert.“ Das gab er dann endlich durch den Schalter zur Beförderung.

Als er aus dem Postgebäude trat, sah er noch gerade Herrn Grossmann den Platz überqueren und zwischen den Efeuwänden verschwinden. „Er hat gar keinen Trompeter hinter sich“, sagte Clemens, „warum tutet er nur, wenn er fährt?“

„Das ist also Grossmann“, lachte Ali, „ist viel breiter als sein Vater, der Knuppkugel-Grossmann.“

„Ja, das ist Grossmann“, sagte Juliane und gab Russka und Schlippe einen leichten Hieb, so dass sie aufsprangen und im Trab davonzogen. Ali konnte knapp auf seinen Sitz heraufkommen. „Es ist übrigens erledigt“, sagte er, und als Juliane ihn prüfend ansah: „Hoffe doch. Wenigstens vorläufig.“

„Vorläufig ... na schön“, sagte Juliane und nickte dem Bürgermeister Koste zu, der mit gezogenem Hut auf dem Bürgersteig stehengeblieben war und den Wagen vorbeifahren liess. Die Ausfahrt war im übrigen prachtvoll. Die Sonne heizte wie im Sommer. Unten am Fluss war der Wald schon leuchtend und bunt, ja er lichtete sich sogar ein wenig. Aber tief im Gehölz war er noch sommergrün und dicht. Auf der Försterei Mühlenhoff summten die Bienen durch die Jagdgeschichten des Försters und zwischen den Einmachrezepten und Schnapsrezepten der Försterin. Draussen die Heide blühte noch. Es gab einen ganzen Garten voller Astern, Herbstrosen, Tagetes, voll Löwenmaul und Nelken. Auf dem Rückweg erzählte Hans Adalbert Reitergeschichten und Garnisonswitze. Die beiden Kinder, die so schrecklich gerne lachten und so sehr wenig zum Lachen fanden, sassen schon auf dem Anstand und platzten los, wenn ein Witz losgelassen war. Das klang im Walde besonders fröhlich zum Knirschen der Riemen, zum Schurren der Räder, zum Schnauben der Pferde. Mit diesem Nachmittag konnte man zufrieden sein. Das war ein Urlaubsnachmittag.

Am gleichen Nachmittag, kurz nach vier, traf auf dem Bahnhof von B. eine ungewöhnlich elegante Fremde ein. Für wenige Tage, dem Anschein nach, denn sie hatte nur einen Handkoffer mit, den sie selber tragen konnte, obwohl sie sehr schmal und ziemlich zart war. Man hätte sie für eine Engländerin halten können. Denn sie trug das hellgraue Kostüm, der Kontinentalmode entgegen, fussfrei. Der Hut war, verglichen mit den Hüten ihrer Mitreisenden, ziemlich klein, ein einfacher, hellgrauer Filz, von einer kleinen Feder überbuscht. Die Fremde nahm am Bahnhof die Droschke Nr. 23 und befahl dem Kutscher, eine Rundfahrt zu machen.

Sie fuhren fast genau denselben Weg, den am Tage zuvor Ali Hagendörp gefahren war, also den Schlossweg hinauf bis an die Zugbrücke, auf der man ein Schild lesen konnte, dass hier der Privatbesitz begann, Betreten polizeilich verboten. Die Fremde holte ein Theaterbinokel aus der Handtasche. Sie war anscheinend ein wenig kurzsichtig und brauchte das Perlmutterglas, das an einem Stiel getragen wurde, wie ein Lorgnon. Sie sah den sumpfigen Graben entlang, in dem ein paar Schilfpflanzen wucherten, ein paar Wasserrosen mit riesigen grünen Blättern. Sie bewunderte lange den Torbogen, der den Eingang zum Park bildete.

„Ein schönes Stück, dieser Torbogen“, sagte sie zum Kutscher, „bestes Barock. Aus derselben Zeit wie die Stadtkirche. Ein bisschen üppig alles, aber schön.“

„Och“, sagte Deike, „üppig ist ja nicht so schlimm.“

Das war die Unterhaltung des Kutschers mit der Fremden. Sonst hatte sie nur immer den Weg angegeben. Sie hatte sich an den Hotels vorbeifahren lassen. Aber das Schwarze Lamm, das doch allein in Frage kam, lag ihr zu sehr mitten in der Stadt, das Hotel Deutscher Kaiser zu nahe am Bahnhof. Schliesslich kam sie in der besten Pension von B. unter: Pension Stella matutina, zu deutsch Morgenstern. So hiess die Besitzerin wirklich. Ihr Mann, längst verstorben, ein klassischer Philologe, hatte den Namen für die Villa gewählt. In der Stella matutina nahm die Fremde also Wohnung. Sie nahm das zweitbeste Zimmer mit Blick über die Strasse auf die sanften Hagenberge. Sie ging eine ganze Zeit noch draussen im Garten hin und her und sah in den langsam hereindämmernden Abend, sah, ein Tuch um die Schultern, über den Park weg in die Sonne, die schon hinter den Hagenbergen untergegangen war.

„Schön“, sagte sie lächelnd zu Frau Morgenstern, die mit dem Fremdenbuch erschienen war, um die Anmeldung zu erbitten. Die Fremde nahm ihren Füllfederhalter und schrieb mit einer steilen, grossen Lehrerinnenhandschrift: Helene Garberding, geboren in P. bei Holzminden, Staatsangehörigkeit: Braunschweig. Geburtsjahr: —, Beruf: —, Zweck des Aufenthaltes: Erholung. Derzeitiger Wohnsitz: Braunschweig.

Frau Morgenstern war also nicht viel klüger geworden.

Vorbei ...

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