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Fräulein Garberding blieb an diesem Abend nicht in der Pension. Sie habe nur wenige Tage Zeit, sagte sie, und müsse sie ausnutzen. Frau Morgenstern solle auf keinen Fall mit dem Essen auf sie rechnen. Sie werde irgendwo in der Stadt essen oder gar nicht. Es sei ja nicht so wichtig.

Draussen war es schon dämmerig geworden und ziemlich kühl. Vom Fluss her stieg der Abendnebel auf, dampfte über die Wiesen das Tal entlang. Die Laternen der Uferpromenade verschwammen. Die Lichter des Regattahauses, des Ruderklubs Fortuna 06, leuchteten wie Signale über dem Nebel.

Fräulein Garberding stand eine Weile an der Ecke der Gartenstrasse und des Schlossweges, von wo aus man das Tal übersehen konnte, und sah diesem Schauspiel zu. Ihre rehbraunen Augen, die zuerst noch träumerisch geblickt hatten, bekamen immer mehr einen starren Zug, wie wenn alles Leben herbstlich nach innen sickerte. Es wurde ihr nämlich in diesem Augenblick klar, dass sie ihre Expedition hierher übereilt und ohne eigentliches Ziel angefangen hatte. Was wollte sie, ausser dieser leidigen Angelegenheit, nochmals und nochmals „zu Ende“ bringen? Was wollte sie, ausser den Freund wiedersehen, mit dem sie erst vor drei Tagen noch zusammen gewesen war?

Sie hatte doch vor wenigen Stunden noch allerlei Gründe gehabt, alles liegen zu lassen, die Proben, ja die „Iphigenie“-Aufführung mit dem Gast aus Berlin. Aber wenn sie jetzt jemand gefragt hätte, vielleicht Hans Adalbert von Hagendörp selbst, was sie denn wollte, was denn eigentlich so unaufschiebbar, so dringend war, dass sie ihre Laufbahn gefährdete, sie hätte es nicht sagen können. Die Liebe? Wenn man wirklich liebte, konnte man auch warten. Wenn man aber nicht warten konnte ... liebte man dann noch? Sie riss sich mit einem Ruck von den Nebelbildern der Landschaft los und ging sehr schnell, ihren Wanderstock schwingend, nach Schloss Hagendörp zu. Der Wind stand von Westen her. Man hörte Stimmen vom Schloss, Kinderstimmen. Die Garberding sah zwei Kinderballons mondähnlich über den Wipfeln der Edelkastanien erscheinen. Sie hörte eine Fontäne aufspringen — Pelll ... pelll ... pelll ... und sah die Büsche rosa im Fontänenlicht aufstrahlen. Sie wandte sich nach links und ging eine ganze Strecke an der Schlossmauer entlang. Die Mauer endete in einem Zaun. Der war zehn Minuten lang, fünfzehn Minuten lang, ein Wildzaun aus Latten, die stufenartig übereinander genagelt waren.

Die Garberding ging immer schneller. Aber der Lattenzaun, dieser hochmütige Wildzaun, der den Grundbesitz der Hagendörps abgrenzte, endete nicht. Schliesslich stieg sie auf den Latten wie auf einer Leiter hinüber. Sie kam auf eine riesige Wiese. Der Viertelmond gab genügend Licht, dass sie einen kleinen Pfad erkennen konnte. Sie kam zu einem Pavillon, einem Rundbau, der barock war wie der Torbogen, von der gleichen Üppigkeit der Formen und Ornamente. Sie sah Blumensträusse aus Stein, Putten mit feisten Beinen und dicken Hinterchen, Sterne und Tiere. Es war ein unbewohntes Miniaturschlösschen mit breiten Türen und mit Fenstern, die fast bis zur Erde reichten. Verschlossen natürlich alles und teilweise mit Fensterläden verrammelt, umgeben von einem Altan, von dem aus man die riesige, muldenartig nach allen Seiten aufsteigende Wiese überblicken konnte. Helene Garberding setzte sich auf die Stufen des Mätressenhauses. Sie hatte ein schwaches Gefühl in den Knien. Merkwürdig: von diesem Lustschlösschen hatte Hans Adalbert nie erzählt, von diesem Park nicht, von der rosa Fontäne auch nicht. Überhaupt nicht viel von zu Hause. Sie hatte nur zufällig einmal ein Bild des Schlosses gesehen, eine Postkarte mit dem berühmten Torbogen, eine Fotografie seiner Mutter, der er ähnlich sah und die eine geborene Schwalenbeeck gewesen war, aus der gräflichen Linie, eine winzige, zierliche Viertelfranzösin. Auch ein Bild des Vaters hatte sie gesehen, des alten Oskar Freiherrn von Hagendörp, der ein Meter fünfundneunzig gross gewesen war, hakennasig, mit einem buschigen Schnurrbart, vielen Orden und wenig Humor. Und natürlich ein Bild Julianens, der Schwester, von der er viel erzählte, die verschwiegen sein sollte und kameradschaftlich, derb und sehr gescheit. Weiter wusste sie nichts von ihm. „Ist nicht nötig, Lena“ hatte er gesagt „brauchst nichts von Hagendörp zu wissen. Gehört mir ja doch nichts ausser sechs Jagdgewehren, zwei Pferden, einem Kleiderschrank und einem grossen Stuhl. Also ...“ Ja, also ... Das mochte sein, dass ihm nichts gehörte. Aber er gehörte hierhin, und sie gehörte nicht hierhin.

Sie ging um das Lustschlösschen herum. Eine verschämte Nymphe stand auf der Südseite, vor Hunden flüchtend. Sicherlich hatte dieselbe Dame Modell gestanden, die schon auf dem Torbogen ihre Reize zeigte. Es war übrigens eine recht lebendige Plastik, trotz der Falten, Schleifen und Blumen, mit denen die Flüchtende besteckt war. Eine etwas aufreizende Frau, überaus nackt in der Art, in der sie das faltenreiche Gewand raffte und um sich schlug.

Helene Garberding strich vorsichtig, nein, etwas mitleidig über die Marmorhaut. Fühlte sich angenehm glatt und kühl an. Dann ging sie, ohne sich viel um die Richtung zu kümmern, tief in Gedanken versunken weiter in den Park hinein, kam in einen Gang zwischen Taxushecken, durch ein Stück Birkenwald, der farbig im Dunkeln leuchtete, und blieb erschreckt stehen. Das Gekläff eines Hundes war zu hören, das Gebelfer junger Hunde, Pfiffe, Rufe. Sie wandte sich, lief ein paar Schritte, blieb trotzig stehen. „Das wäre ja noch besser“, sagte sie ... „davonlaufen!“

Da war auch schon Laura, die Wolfshündin, herangekommen, stellte sie knurrend, drei junge Wolfshunde umjankten sie, schnappten nach Helenes Rock, wälzten sich spielend um sie. Die Garberding stand steif, mit erhobenen Armen. „Lass mich“, sagte sie leise zu Laura, „lass mich. Ich will jetzt gehen. Ich bin ... ich wollte ... na schön, ich stehe ja schon ganz still ...“ Endlich blinkte eine Taschenlaterne auf dem Weg, ein zwölfjähriger Junge — Clemens Hagendörp — kam herangelaufen, leuchtete ihr ins Gesicht, schüttelte den Kopf, unwillig und ein bisschen feindlich.

„Es ist eine Dame, Papa“, rief er ins Dunkel und leuchtete nach rückwärts. Im Licht erschien der Majoratsherr Oskar von Hagendörp, Hans Adalberts Bruder also, eine kaum mehr verjüngte Ausgabe des alten Hagendörp, übernormal gross, hakennasig mit einem buschigen Schnurrbart. Er trug ein kleines, verschossenes Jägerhütchen, ein langes Jägerwams mit aufgesetzten Taschen, kurze, grüne Hosen. Er liess nun auch eine Taschenlaterne aufblinken, leuchtete die weisse Jacke ab, das helle Gesicht mit den riesigen rehfarbenen Augen und dem grossen, weichen Mund, der weissen Mütze aus Hasenwolle, in der wie in einem Beutel das Haar steckte, den Hakenstock, die guten, derben Strapazierschuhe.

„Ich habe mich verirrt“, sagte Helene Garberding und liess nun die Arme endlich sinken ... „es ist sicher hier Privatbesitz. Entschuldigen Sie, bitte.“

Oskar Hagendörp zog seinen Hut. Was für eine angenehme Stimme! Was für eine hübsche und anmutige Frau! Wenn Clemens nicht dabeigewesen wäre, hätte er bestimmt ein längeres Gespräch angefangen. So aber sagte er nur: „Ruhig, Laura! Ist gut! Setzen!“ Und zu Helene: „Sie müssen entschuldigen, meine Gnädigste, aber natürlich lässt man die Hunde hier frei laufen. Wahrscheinlich hat wieder irgendein Idiot die Gattertür aufgelassen. Stimmt’s? Na also. Clemens, wir werden die Dame zum Birkengatter hinauslassen.“ Sie nahmen Helene in die Mitte. Die Hunde trabten geduldig hinterdrein. Baron Hagendörp machte eine verbindliche Konversation. Über diesen Herbst, der so sommerähnlich war, über die Reize von B., welche die Gnädigste sicher kennenlernen wollte. Er empfahl ihr zum Beispiel einen kleinen Ausflug auf den Eichenberg gleich über der Stadt oder zum Nussturm, der höchsten Erhebung der Hagenberge, Sonntags überlaufen, aber an einem Herbsttage der Woche empfehlenswert. Man konnte bis Braunschweig und Hildesheim, ja bis Hameln hinübersehen. Er sprach über die Hirsche, die nun zu schreien begonnen hatten und die man in den Vollmondnächten, nach acht Tagen also, in voller Pracht werde sehen und hören können, falls sich das Wetter hielt. Aber es war durchaus nicht einzusehen, warum das Wetter sich nicht halten sollte. Es gab dann ein paar Schritte Schweigen und Räuspern, und dann war man am Birkengatter. Hagendörp entschuldigte sich nochmals, Helene dankte mit ihrer warmen und herzlichen Stimme, mit der berühmten Stimme, die so viele Männer beunruhigte. Eine Verbeugung des zwölfjährigen Clemens mit Handkuss, Verbeugung seines Papas. Das Wildgatter wimmerte in den Angeln. Aus.

Schweigend gingen Hagendörp Vater und Sohn nebeneinander. Sehr nett, dachte der Vater und zerrte an seinem Kragen, der ihm eng vorkam, sehr nett, aber es geht einen ja nichts an. Leider. Und der Sohn dachte: Das ist sie, natürlich! Liebster Ali. Schon ist sie da. Mag ganz nett sein. Aber das ist einerlei. Für mich ist sie eine Feindin.

Fräulein Garberding aber tauchte gegen neun Uhr in der Stadt auf. Sie ging schnell über den fast menschenleeren Plan, über dessen Kopfsteinpflaster drei Bogenlampen im Winde schwangen. In den Hauseingängen standen einige Bürger bei der Abendunterhaltung. In einem Hause wurde Liszt gehämmert, Zweite Rhapsodie, hart, plump, aber sehr geläufig, wie Liszt eben gespielt werden muss. In einem Fenster lag eine blasse Frau und starrte marionettenhaft auf die Strasse. Ihr Kopf ging mit jedem Vorübergehenden mit. Im nächsten Fenster sassen vier Männer und hieben Karten auf den Tisch. Das Café Gresshorn folgte mit hellen Scheiben, hinter denen Schatten hockten, eine dünne Musik quoll mit dem Rauch aus der Tür. Dann kam das Schwarze Lamm, in dem die Garberding zu Abend essen wollte.

Es war ein ziemlich grosses Restaurant, durch Wände in Nischen geteilt, die zumeist von Stammtischen besetzt waren. Hinten ging es zu einem Vereinszimmer, aus dem man die Glocke eines Vorsitzenden und die Rufe einer Versammlung hörte. Der einzige freie Tisch stand ziemlich in der Mitte des Restaurants, war also von fast allen Stammtischen einzusehen. Als die Garberding sich setzte, verstummte das ganze Lokal. Vierzig, fünfzig Männeraugen, sechs, acht Frauenaugen waren auf sie gerichtet. Die Garberding war es ja gewöhnt, angestarrt zu werden. Es war ihr Beruf, sie konnte eigentlich nicht leben, wenn man sie nicht anstarrte. Aber hier war es ihr unangenehm. Fast so unangenehm wie die Begegnung im Park.

Der Kellner beugte sich vertraulich über sie. Wie? Ja, natürlich, essen. Trinken? Na schön, einen Schoppen Wein. Was für einen Wein? Rotwein. Rotwein nicht da? Na schön, dann eben Weisswein. Sie holte das Zigarettenetui aus der Handtasche, steckte eine Zigarette in den Mund, nahm sie wieder heraus und legte sie still neben den Teller. Nein, hier rauchten die Frauen nicht. Hier rauchten nur die Männer, und Zigaretten konnte sie überhaupt nicht entdecken.

Der Kellner brachte ihr endlich den Wein und den Beobachter für B. und Umgegend. Sie entfaltete die Zeitung und versteckte sich.

Langsam setzte das Gespräch wieder ein. Sie hörte, dass um diese Zeit Fremde in B. sehr selten waren, dass die Damen ihre Jacke zu modern, die Herren ihre Hüften zu schmal fanden. Dann lenkte das Gespräch wieder auf die Angelegenheiten von B. Die Versammlung im Vereinszimmer war die Gründungsversammlung irgendeiner Aktiengesellschaft. Der Name Grossmann wurde fortwährend genannt. Es kamen Herren aus dem Zimmer, um Herren, die hier draussen sassen, zu informieren. Sie sprachen von einem Umtauschangebot 137 : 100, von Vorzugsaktien einer Hotelgesellschaft, von einer Gesellschaft für die Kanalisation von B., von einer Holdinggesellschaft, die beide Unternehmen zusammen mit dem Elektrizitätswerk unter einen Hut bringen sollte. Es waren aufgeregte, unverständliche Besprechungen.

Helene Garberding las dabei von Unfällen, von Ereignissen aus der Gesellschaft. Eine bevorstehende Schnitzeljagd bei den Töches in Quennfeld wurde ausführlich erwähnt. Die Garberding war froh, wenigstens einen bekannten Namen zu finden. Denn Quennfeld war der Besitz der Eltern von Klaus Töche, und Klaus Töche war ein Kamerad von Hans Adalbert von Hagendörp und ausserdem der Freund der Soubrette Techemeier. Sie las von einem Dank des Staatsministeriums an Herrn Grossmann in B. für die Schaffung des Elektrizitätswerkes. Dazwischen musste sie an den Park denken, an den Pavillon, an die von Hunden verfolgte Nymphe und dass sie beinahe von der Wolfshündin aufgefressen worden war; musste sie grübeln, was denn nun weiter werden sollte und was sie erreichen wollte. Denn damit, dass sie hier im Schwarzen Lamm sass und Eierkuchen ass, damit, dass sie allein durch ihr Dasein die Frauen von B. ärgerte und die Männer erregte, damit war nichts geschafft.

Während sie noch sass, trat wieder das eisige Schweigen ein. Aber diesmal galt es einem breiten, spitzbärtigen Herrn in einem grauen Cutaway mit schwarzer Plastronkrawatte, der, einen grauen, steifen Hut in der Hand schwingend, eintrat, nach allen Seiten freundlich grüsste und im Versammlungszimmer verschwand. Es war natürlich der vielerwähnte Herr Grossmann, und die durchdringende, helle Stimme, die sich jetzt im Nebenzimmer erhob, war Grossmanns Rednerstimme. Da niemand im Restaurant mehr sprach, konnte man ihn gut verstehen. Er riet den versammelten Herren von der geplanten Gründung ab. Die Sicherheiten genügten ihm nicht. Die Aussichten bezeichnete er als unzureichend. Man könne bestimmt mehr herausholen. Er taxiere 110 : 100. Also Hotelaktien plus zehn Prozent Zuzahlung gleich Industrie-Aktien.

Bald nach Grossmanns Rede schien sich die Versammlung aufzulösen. Erst kamen einige Opponenten, Assessor Pluhm, wie die Garberding erfuhr, und Rittmeister von Schwiering, danach Grossmann mit drei Herren, die eifrig auf ihn einredeten. Zu viel Vorsicht sei nicht am Platze. Man solle mit Berlin telefonieren und möglichst bald zum Abschluss kommen. Grossmann lud die Herren ein, mit in seine Villa zu kommen.

Helene fand diesen Herrn Grossmann merkwürdig. Er war bestimmt rücksichtslos. Aber seine Augen waren liebenswert, ja ein bisschen schwärmerisch. Seine Haltung war freier und selbstverständlicher als die der anderen Männer, die eine Würde zur Schau trugen, die sie gar nicht besassen. Die Herren verliessen übrigens bald das Lokal.

Man hörte gleich darauf eine Trompete schmettern.

Fräulein Garberding zahlte. Sie ging schnell durch das Städtchen, das ganz still geworden war. Ein junger Mann mit steifem Hut und langer Nase liess sie vorübergehen, kehrte kurz um und ging hinter ihr her. Er überholte sie zweimal, um sie immer wieder an einem Schaufenster zu erwarten, einmal an einem Delikatessengeschäft, einmal an einem Handarbeitsladen, der in einem Plakat mahnte, jetzt die Weihnachtsarbeiten für die Lieben sofort anzufangen. Dieses Plakat starrte Helene sehr traurig an. Um Gottes willen, in drei Monaten war Weihnachten schon vorüber, und ein neues Jahr begann. Das gute alte Jahr war dann vorbei, in dem sie mit Ali Hagendörp zusammengekommen war. Wie, wenn ihre Liebe genau so spurlos verschwand, so unwiederbringlich wie dieses Jahr?

Langsam ging sie in ihre Pension zurück.

In der Nacht träumte sie, dass sie eine Marmorgöttin geworden sei. Mit kühler, glatter Haut. Die Hunde verfolgten sie, und sie schrie: „Ali, Ali!“ Aber er hörte sie nicht. Sie wachte auf, lag lange im Dunkeln und grübelte. Wo war Ali? Wie kam sie zu Ali? Was sollte sie ihm sagen, wenn sie zu ihm kam?

Was sollte werden?

Vorbei ...

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