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Der Sturm verstärkte sich im Laufe der Nacht immer mehr. Gegen drei Uhr mußte Gesine durchs Haus wandern und Fenster schließen. Sie kletterte auf den Boden und sah den Wipfel der einen Tanne mit gesträubten Ästen hin- und herwanken, sie mußte die Fensterläden im Sterbezimmer der Mutter festmachen. Die Winterkälte, eine Kälte wie von den Toten, saß in den Zimmerecken. Das Bild des Vaters sah fremd auf Gesine hinunter, ein Riesenbild, nach einer Photographie gemalt. Rittmeister der Landwehr Otto Otten, stand darunter, gefallen am 10. Oktober 1918 auf dem Rückzuge der großen Armee. Eine Unterschrift, die nicht zu dem stillen, bescheidenen Mann paßte, der eher ein Bauer gewesen war als ein Offizier. Daneben hing ein kleines Bild des Bruders. Felix Otten, gefallen in Flandern 1914. Wie jung er geblieben war. Wie fern dieses Gesicht, wie unverändert und fremd in der veränderten Zeit. Gesine ging schnell aus dem Totenzimmer. Hinunter ins Eßzimmer, an den Bildern der Ottens vorbei, die eher zu leben schienen, als die kurz Verstorbenen.

Das Feuer im Kamin glimmte noch. Der Tabakqualm behauptete sich gegen die herbe Nachtluft. Gesine schloß schnell das Fenster. Drüben im Kuhstallzimmer war noch Licht.

Sie lag wach, „repetierte“ ihr Leben und haderte mit sich. Daß sie weder zugreifen noch verzichten konnte. Daß sie nicht ohne und nicht mit Männern zu leben vermochte. Daß sie sich überflüssigerweise frei gemacht hatte, um auf eine verfluchte Weise gebunden und treu zu bleiben. Daß sie jenen auf dem Schreibtisch, den Spöttischen mit der zarten Stimme, den lyrischen Offizier, daß sie Herrn von Schneiwind nicht loswerden konnte, obwohl sie sich losgesagt und losgekauft hatte.

Wie paßte das zu ihr, die von einer stolzen, selbständigen Mutter kam, einer aufbrausenden, herrischen, aber klaren Frau und einem stillen, grüblerischen, fanatisch um Gott und Wahrheit ringenden Bauern, dem Gutsbesitzer Otto Otten.

Von solchen Eltern stammte sie, und so lebte sie und fand keinen Ausweg, obwohl sie mit dem Herzen und mit der Seele (falls es eine gab, würde Rückert, der Arzt, gesagt haben) gegen das Verhängnis anging.

Es war übrigens zum Ersticken heiß im Zimmer. Sie wälzte sich hin und her, sie warf die Decken ab, wickelte sich wieder schutzsuchend hinein, sie lauschte auf den Sturm und auf ihr Herz. Schließlich nahm sie ein Tuch um, stellte sich ans Fenster. Sie mußte diese wilde und süße Luft atmen. Sie stand lange und sah hinaus. Immer noch brannte das Licht im Kuhstallzimmer.

Immer noch brannte das Licht im Kuhstallzimmer. Brincken schlief, den Kopf auf den ausgestreckten Arm gelegt, die Locken wieder tief im Gesicht, Fieberträume, Alkoholträume, Erschöpfungsträume gingen über ihn hinweg. Gesine Otten sprengte im Viererzug seiner Mutter die Allee von Brinckenhof hinunter. Der Husten schüttelte ihn, als wäre er der Wagen, auf dem Brincken mit einem Male selber stand.

Tungern lag auf dem Rücken im Bett. Die Knie hatte er wie immer hochgezogen. Denn seit man zwölf Jahre zuvor sein riesiges Bett in Domingen verbrannt hatte, mußte er immer so liegen, sofern er überhaupt ein Bett hatte. Die Hände hatte er unter den Zitronenschädel gefaltet, die Arme flügelartig beiseite gelegt. Er starrte mit seinen Luchsaugen aufmerksam die Decke an.

Aber er konnte jetzt nichts anderes ablesen, als was er die drei Stunden zuvor abgelesen hatte. Daß er zum erstenmal wieder eine Frau liebte, daß er zum erstenmal an diesem Abend den Knaben Roland vergessen hatte.

„Seit damals“ hatte er nicht mehr geliebt. Seit damals hatte er eine einzige Freundin gehabt, vier Jahre lang, Kläre Nott, Hamburg, die Schneiderin für sehr feine Damen war, ein anständiger gerader Kerl, eine einfache, allzu einfache Seele. Ehre ihrem Angedenken und ihrem Grab. Seit „damals“ keine Frau, die er seiner Frau an die Seite setzen konnte. Hier war sie. Gut. Hier fand er sie. Was folgte daraus? Abschied.

Abschied, das folgte aus seinem Leben und aus seinem Plan. Er konnte nicht hier bleiben. Er hatte auch nicht die Kraft, eine Frau zu erobern, er hatte nicht mehr den Willen. Liebe nützte ihm gar nichts.

Er stand vorsichtig auf. Das Herz war ihm so schwer, daß es ihn durch alle Knochen schmerzte. Er setzte sich ans Fenster und starrte hinüber zum Herrenhaus. Er sah drüben, hinter den schwankenden Ästen, ein Licht, und im Licht des Fensters den Schatten Gesine Ottens. Er wurde böse auf sich. War es schon so weit, hatte sich die Liebe schon so tief eingefressen, daß er Halluzinationen bekam, dann war es höchste Zeit davonzulaufen.

Er bemühte sich lange, solange hinüberzusehen, bis die Halluzinationen auslöschten. Er starrte zehn Minuten, fünfzehn Minuten in das Licht hinter den schwankenden Ästen. Dann ging er kopfschüttelnd ins Bett.

Alle Straßen führen nach Haus

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