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Gesine wachte nach zwei Stunden sehr frisch auf. Sie frottierte sich heftig, indem sie sich mißbilligend im Spiegel ansah. Sie war eitel und sehr ungerecht gegen sich. Denn abgesehen davon, daß sie im Typus ein wenig stämmig war, mit breiten Schultern und breiten Hüften (ein Erbteil ihrer schwedischen Mutter), hatte sie einen frischen, festen Körper, sehr schöne kleine Brüste, einen wohlgeformten kräftigen Hals, auf dem frei und ungezwungen der breite, schön durchmodellierte Schädel aufsaß.

Gesine zog an diesem Tage zu den Reithosen einen schwedischen blauen Leinenkittel an.

Sie kam vergnügt zum Frühstück. Tante Monica lächelte. Die Morgensonne schien einen Augenblick auf den Eßtisch. Nur Kornmann, der Diener, war schlechter Laune. Er brauchte seine acht Stunden ungestörten Schlaf, sonst haßte er das Leben. Er hatte seiner Frau noch nachts die Meinung gegeigt über Landstreicher, denen ein Bad ins Zimmer geschleppt werden muß. Adlige natürlich. Ob sie, Frau Kornmann, noch immer nicht soviel Verstand aufgepickt hätte, um zu begreifen, daß alles Unglück in Deutschland von den Adligen kam. Nicht von den Herren. Nein, die mußten sein. Aber die Adligen waren schuld.

Jetzt sah er unzufrieden auf die zufriedene Herrin. Nichts hatte sie gelernt, wenn sie schon wieder Adlige verwöhnte.

Tante Monica sprach über den Regen und den Frühling. Kein Wort über die Nacht. Sie kam nicht darauf, nach Dingen zu fragen, die man ihr nicht erzählte. Gesine telefonierte mit Dr. Rückert in Wangerin, sprach lange mit ihm über Wickel und Bäder, Hungerkrankheiten und Lungenaffektionen. Bestellte ihn.

„Es sind ungewöhnliche Kerle“, sagte sie dann endlich zur Tante.

„Auf dem Marsche nach Kurland. Balten.“

„Wollen sie zu Fuß durch den Korridor?“ fragte Tante Monica, „oder über das Meer?“

„Sie haben überhaupt kein Geld“, sagte Gesine, „also werden sie wohl ganz laufen müssen. Erstmal bleiben sie ein paar Tage.“

„Sie sollten vielleicht hier essen“, schlug Tante Monica vorsichtig vor. Sie konnte nicht durch Kornmanns empörtes Schulterzucken beeinflußt werden. Denn sie sah es nicht. Gesine war nicht dafür, daß man sich gleich zu sehr zusammen tat. Man mußte wirklich abwarten, wie die Herren waren. Außerdem mußte Brincken noch im Bett bleiben. Es genügte, wenn man sie nicht der Gesindeküche zuteilte, sondern der Herrschaftsküche, in der allerdings oft aus Tellern dasselbe gegessen wurde, was das Gesinde aus Schüsseln aß.

Gesine machte ihren Morgenritt. Für eine Stunde kam die Sonne heraus. Am langen Hang war es sommerwarm. Kohlisch fuhr emsig mit seinem Traktor schnurgrade Furchen, in denen sich Nebelkrähen balgten. Eine Traube von Staren saß erwartungsvoll in den Erlen.

„Der Kerl geht nun großartig“, rief er und klopfte seiner Maschine freundlich das Hinterteil. Endlich konnte er seine Erzählung vom Tag zuvor beenden. Daß die zwei Barone „wie im Kino“ aus dem Dobbenwald herausgekommen waren, der eine nicht sicher auf den Beinen. Daß er aber gleich munter geworden war, als er den Traktor hatte stehen sehen. Daß er gleich „den Kniff“ heraus hatte, trotz seines Fiebers „wie ein Wunderdoktor mit Handauflegen“, und obwohl der lange Ziegenbart ihn nicht in Ruhe ließ, sondern weiterziehen wollte, und ob die gnädige Frau noch böse war, weil er die Herren gleich auf den Hof gefahren hatte.

Gesine bot ihm eine Zigarette an und zeigte damit, daß sie nicht böse war. Nein, sie war sogar vergnügt und ließ sich das Vergnügen nicht nehmen durch die Einwände ihres klugen und von vielerlei Kummer skeptisch gewordenen Kopfes, durch die „nüchterne Stimme“ ihres hellen und sauberen Gewissens.

Die „nüchterne Stimme“ ritt natürlich nach Brandhoff mit, auf das Unglücksvorwerk, das fortwährend Katastrophen hatte, sie begleitete die Gutsherrin über das sanft gehügelte Ackergelände, das die große Freiheit genannt wurde (die Roggenwinterung stand ausgezeichnet, zwei Hasen hoppelten humoristisch langsam davon), und sie ritt um den Ellernsee mit bis zum Holzhof, auf dem die Sägemühle jammerte und das Holz harzig roch.

Die nüchterne Stimme wiederholte unermüdlich, daß man nicht glücklich wird, wenn man anderen Leuten ein paar Kilometer weiterhilft, daß Hilfe am andern Geschlecht (außer unter Greisen) meist eine zweigesichtige Sache ist. Daß hinter der kleinen Abwechslung und Verliebtheit (Brr ... halt, das war doch ein bißchen scharf ausgedrückt), hinter der kleinen Verliebtheit (bitte, war sie etwa nicht schwach in den Knien geworden, als der Kranke nach ihr griff, gleich bei ihrem ersten Krankenbesuch?), daß hinter der kleinen und sinnlosen Verliebtheit wieder der große Katzenjammer der Einsamkeit und Arbeit dreinmarschieren mußte.

Gesine ritt vom Holzhof ohne die nüchterne Stimme ab. Sie ritt durch den schwarzen Grund am Karpfenteich vorbei, in einem einzigen Galopp, die Akazienallee hinauf in den Gutshof. Horka, die Stute, mußte sich ja schließlich auch mal austoben.

Der Diener Kornmann erwartete sie schon vor dem Haus. Der Bevollmächtigte der Landstelle, der Treuhänder Dr. Zamtien, war da.

Gesine ging erst zu Tungern hinüber, den sie gebückt an der Pumpe hatte stehen sehen. Tungern wusch seine und Brinckens Wäsche. Er küßte der gnädigen Frau die Hand. Der Junge schlief noch, nachdem er einmal um acht Uhr noch einen Anfall von „fiebrigem Weggehn und bolschewistischen Erinnerungen“ gehabt hatte.

„Ich glaube, es wäre ganz gut, wenn Sie ihn in den nächsten Tagen nicht gerade nach seinen Eltern und Geschwistern fragen würden“, sagte Tungern. „Das kommt ja leicht. Die sind aber alle tot.“

„Das hängt wohl auch mit der Geschichte vom Keller in Goldingen zusammen?“ fragte Gesine.

„Das war die Schwester. Auf der Flucht aus dem Geiselkeller angeschossen. Sie starb eine Woche später.“

„Und die anderen?“ Tungern brauchte das nicht zu beantworten, denn Dr. Zamtien von der Landstelle war aus dem Hause gekommen und begrüßte die Gutsherrin burschikos und herzlich.

Gesine war nun den Mittag über voll beschäftigt. Sie mußte wieder allerlei Unterlagen zusammensuchen, sie mußte genaue Auskünfte geben, die die Osthilfe nachträglich in der Umschuldungsangelegenheit verlangte. Bestimmte Schulden, gerade der letzten beiden Jahre, in denen Gesine allein und sehr tüchtig gewirtschaftet hatte, blieben unerklärlich. Die Landstelle mußte eine Übersicht haben, ob es sich hierbei um den nicht gestatteten übermäßigen persönlichen Aufwand handelte.

Gesine antwortete ausweichend, ungenau, schließlich böse. Wenn sie über jeden Pfennig der letzten zehn Jahre Rechenschaft ablegen mußte, so nahm das mehr Zeit, als sie hatte, und das Gut verkam wieder. Man hatte ihr das Geld doch nach dem ganzen Zustand von Grünwalde gegeben, im Vertrauen auf ihre Kraft. War man etwa hinterher mißtrauisch? Gut, Dr. Zamtien nicht, sondern die obersten Behörden. Gut. Sie verweigerte trotzdem ausdrücklich weitere Auskünfte. Man sollte annehmen, daß sie das Geld zum Fenster hinausgeworfen hatte, in den Wind, der hier fast immer wehte. Punktum.

Tante Monica, die mit bei Tisch saß und durch eifriges Anbieten die gefährlichen Ecken der Unterredung abzuschleifen versuchte, wurde mit einemmal blaß und ging hinaus. Sie hatte endlich verstehen müssen, was sie bisher nie ganz verstanden hatte. Wohin das Geld gegangen war und wohl zum großen Teil noch ging. Gesine war immer noch nicht frei.

„Man muß“, sagte Dr. Zamtien, als sie wieder hineinkam, „man muß verstehen, daß wir mit Staatsgeldern vorsichtig geworden sind. Gerade jetzt muß Sauberkeit herrschen.“

Gesine antwortete nicht mehr. Sie überlegte, daß sie, wenn wirklich Schwierigkeiten gemacht wurden, immer noch zwei Möglichkeiten hatte. Sie konnte Brandhoff verkaufen, das der Malheure und des mäßigen Bodens wegen nicht viel wert war, und zudem eigentlich Tante Monica gehörte, oder sie konnte Herrn von Peipper heiraten. Vielleicht war es Unsinn, daß sie sich davor fürchtete. War der andere Mann vielleicht besser gewesen?

Nach Tisch, beim Mokka am Kamin, sprach sie sehr weiblich schlau und liebenswürdig mit dem Treuhänder. Sie begab sich gewissermaßen unter Regierungsschutz. Verlangte Zamtiens Rat, war hübsch und hilflos. Sie mochte diese Rolle nicht. Sie spielte sie für ihr Gut, das Gut ihrer Vorfahren, das sie behalten wollte, ohne das sie wirklich nicht leben konnte, äußerlich nicht, aber vor allem auch innerlich nicht.

Oder? Lebten die beiden Balten drüben im Kuhstallzimmer etwa nicht? Nein, sie lebten tatsächlich nicht. Sie waren nur am Leben. Sie waren unterwegs, seitdem sie nicht mehr wurzelten und mußten unterwegs bleiben, bis sie wieder wurzelten. Das erkannte sie genau, und sie erkannte hellsichtig, daß das Kriegerische in diesen Menschen, das Nomadische, nicht ihre Wirklichkeit war, sondern ein böser Traum, durch den hindurch sie sich nach Hause tasten mußten.

Zamtien sprach unterdessen lange und väterlich. Ein Fachmann in seinem Fach. Daß Grünwalde in Ordnung war und bleiben mußte. Daß die Landstelle Gesines Leistungen anerkannte. Daß er, Zamtien, keine angenehmere Umschuldung bisher gemacht hatte, keine Verwaltung mit geringeren Scherereien. Daß alles in Ordnung war, bis auf die persönlichen Schulden, die man aber auch schon noch kriegen würde, vorausgesetzt natürlich, daß nichts mehr hinterdrein kam.

Zum Schluß mußte Gesine eine Erklärung unterschreiben, daß sie alle Schulden aufgezeichnet hatte, neue nicht machen würde, widrigenfalls sie sich der sofortigen Zwangsvollstreckung unterwerfe.

Zamtien diktierte das Schriftstück im Büro in die Maschine und nahm es gleich mit. Gegen fünf Uhr erst fuhr er fort.

Gesine machte darauf nur einen Fünfminutenritt. Sie hatte ein Gefühl, als hätte sie schulfrei verdient und dürfte sich ein Fest machen. Aber sie wußte nicht, mit wem sie feiern sollte. Oder? Sie nahm eine Flasche Kognak, drei Gläser, etwas Schokolade und Feigen. Feigen essen alle Balten gern, hatte mal ein baltisches Fräulein erklärt.

Sie wurde von Brincken kaum begrüßt. Er lag mit dem Gesicht zur Wand und sagte nichts. Nur als Tungern von drei oder vier Tagen sprach, die man wohl noch werde bleiben müssen, schnellte er herum und flüsterte böse: „Das werden wir sehen, Tungo. Ich jedenfalls, ich bleibe nicht solange.“

Gesine fragte, was ihm denn hier fehlte, ob sie ihm irgend etwas besorgen könnte. Er schüttelte den Kopf und sah Gesine so strafend und durchdringend an, daß es ihr unbehaglich wurde und sie hinausging. Sie wartete unten ein, zwei Minuten, daß Tungern nachkommen würde, um ihr das merkwürdige Benehmen des Kranken zu erklären. Der Ziegenbart kam aber nicht. Seufzend gab sie diesen Tag als Festtag auf.

Um sechs erschien endlich der kleine Hanomag des Dr. Rückert, pustend und kollernd auf Gut Grünwalde. Der bissige kleine Doktor, mit den O-Beinen in Wickelgamaschen, feldgrau gekleidet und mit einem hohen Kriegsorden, war über eine Stunde bei dem Kranken und kam dann zu Gesine.

„Großartige Kerle sind das“, murrte er. „Beide. Aber besonders der Kranke, der kleinere. Na, gegen Tungern ist jeder ein kleines Kind. Also großartig. Und nun . . . da sehen Sie nun die Früchte . . .“

„Was fehlt ihm?“ unterbrach Gesine ungeduldig. Denn sie wußte, daß der Doktor nun gegen Rußland und alles Russische loslegen würde, das er schon vor 1914 als Weltpest gehaßt hatte, Zaren, Popen, Polen, Bolschewisten, Kirgisen, Ukrainer und Letten in einen Topf. „Was fehlt ihm?“

Sie setzte dem Arzt die Flasche mit Kirschwasser und die langen dünnen Brasilzigarren hin und mußte geduldig abwarten, bis er die Zigarre mittels Strohhalm und Licht bis zur Unkenntlichkeit verkohlt hatte. Dann sagte er: „Was ihm fehlt, kann ich Ihnen genau sagen: so ein kleines nettes Rittergut wie Ihres, so eine hübsche vernünftige Frau, wie Sie sind, ein bis zwei nette Kinder, wie sie Ihnen fehlen, nicht zuviel Arbeit. Sagen wir die Hälfte von dem, was Sie zum Beispiel tun. Also immer noch genug. Dann könnte vielleicht aus dem Manne was werden.“

„Sie sind verrückt“, antwortete Gesine.

„Verrückt ist zuviel gesagt“, sagte Rückert ruhig. „Aber natürlich ein bißchen geradeaus und überspannt bin ich. Wenn Sie wünschen, erkläre ich Ihnen feierlich, daß ich das mit der Heirat zwischen Ihnen und diesem Brincken nicht ganz ernst meine. Ich habe nur über die Therapie nachgedacht, als ich über den Hof ging. Und da Sie mich fragen ... Bitte.“

„Können Sie nicht auch einmal vernünftig reden, real, über das, was wirklich los ist?“ fragte Gesine.

Der Arzt schüttelte den Kopf. „Nein. Ich weiß noch zu wenig. Daß er Tuberkulose hat, rieche ich natürlich. Aber wie weit das ist, kann ich nicht auf Anhieb sagen. Rechts ist er wohl noch in Ordnung, links ist nicht viel los. Außerdem, gestatten Sie, daß ich das sage, wird die Tuberkulose überschätzt. Sie ist eigentlich leicht heilbar. Die meisten Menschen wissen das nicht. Schlimmer ist, daß er unterernährt ist, in schlechtem Nervenzustand, körperlich total überanstrengt, und falls es eine Seele gibt, auch seelisch.“

„Wie lange also müßte er sich ausruhen, um überhaupt weiter zu können?“ examinierte Gesine.

Rückert konnte es nicht genau sagen. Vier, sechs, besser acht Wochen, waren das Mindeste.

„Und wenn er vorher losmarschiert? Er wollte heute mittag schon wieder los. Warum. Weiß ich nicht.“

Rückert kniff das linke Auge zusammen, weil ihm der stinkende Dampf der Brasil hereingekommen war. „Warum? fragte er, „warum? Großartige Psychologen seid ihr Frauen schon immer gewesen. Wenn Sie die Meinung eines sechzigjährigen Landarztes interessiert: er will sich nicht an das Wohlleben über dem Kuhstall gewöhnen. Er hat Angst, daß es ihm für kurze Zeit gut geht und nachher wieder so wie vorher. Wenn er aber losgeht ... dann geht er hops. Ich habe es dem Ziegenbärtigen auseinandergesetzt. Wollte es zuerst nicht glauben, natürlich nicht. Es paßt ja verdammt schlecht in seinen Kram.“

Damit erhob sich Dr. Rückert, klopfte Gesine auf die Schulter, weil er alle Angehörigen von Kranken immer auf die Schulter klopfen mußte. Er legte ein paar Rezepte auf den Tisch. „Lassen Sie wohl besorgen“, knurrte er, „könnte nichts schaden. Die beiden haben natürlich kein Geld, und die Landstreicherkrankenkasse in Freienfelde bei Niemandsdorf ist gerade geschlossen. Ich komme morgen wieder.“

Damit marschierte er hinaus, kroch in seinen botanisiertrommelartigen Wagen und ratterte ab.

Gesine ging in ihr Zimmer hinauf. Sie mußte ein bißchen nachdenken. Es war doch immer das gleiche, fing man erst an zu helfen, so gab’s kein Ende. Da hatte man also die beiden auf dem Hals. Eine Nacht Quartier ... schon war man mit zwei merkwürdigen Leben behaftet. Sie war auch böse auf Rückert, der sie fortwährend verheiraten wollte. Sie tat sich in diesem Augenblick überhaupt leid. Entweder wollten die Männer sie heiraten oder sie wollten sie verkuppeln. Gab es etwa wirklich keine vernünftige und anständige Art für eine Frau, ein Leben allein zu führen? Machte sie denn, zum Donnerwetter, ihren Laden nicht ganz gut?

Und die nüchterne Stimme antwortete auf diese Frage: ‚Deinen Laden schon, meine liebe Gesine Otten. Den machst du sogar ausgezeichnet. Davon könnte sich mancher Herr Obergutsbesitzer eine runde Scheibe abschneiden. Aber dein Leben ... Ehrlich gesagt ... das ist noch nicht fabelhaft. Da könntest du zum Beispiel . . .‘

Gesine drehte sich um, sah das Bild an, das auf dem Schreibtisch stand, einen Herrn darstellend in der Uniform der Wandsbeker Husaren, und sagte leise: „Lassen wir das Beispiel.“

Alle Straßen führen nach Haus

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