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In die Seen des pommerschen Landrückens fielen gegen Abend die Taucherenten auf ihrem Frühlingsflug ein und lärmten bis in die Dunkelheit auf der Suche nach den alten Nestern. Die Wälder standen fast bewegungslos, unter dem blanken Sternenhimmel des April, kahl, kühl, mit Schneeflecken auf der Nordseite und den ersten Waldblumen an den Südrändern. Mit undurchdringlichen Tannendichtungen und lichten Kiefern über Heideboden.

Gegen zwei Uhr drehte der kalte Nordwestwind nach Westen ab. Wolken kamen von der See her. Der Regen begann in den Bäumen zu knistern, rann an den Stämmen herab und tropfte schließlich auf die beiden Schläfer im Dickicht.

Der Jüngere rückte vorsichtig von seinem Kameraden ab, wischte mit der Hand über das nasse Gesicht und versuchte den Husten zu unterdrücken, der immer quälender, stechender in der Brust rumorte. Er lag, die Augen offen, den Mund zugekniffen. Das Herz klopfte laut: Fieber. Ekelhaft.

„Huste nur los, mein Junge“, sagte der Ältere aus dem Dunkeln, „die Vögel wachen nicht auf.“

Der Jüngere richtete sich vorsichtig auf, lehnte den Kopf zurück und begann bellend zu husten.

„Greulich“, stöhnte er, „eine richtige Gemeinheit“, und nach einer Weile, wieder in seinem etwas aufgeregten baltischen Dialekt: „Wirklich abscheulich.“

Der Ältere kroch unter der Zeltbahn hervor, deckte den Kameraden zu und fing an Feuer zu machen. Er begleitete seine Handgriffe, nach der Art aller Einsamen, Junggesellen, Landsknechte, mit kleinen knurrenden Anmerkungen, gleichfalls in baltischem Dialekt. „Konnten den Regen noch entbehren“, sagte er, und „gut, daß ich ein bißchen Holz trocken gelegt hatte“ und „Wasser haben wir ja schon. Na dann gibt’s gleich Tee.“

Das Feuer schwelte zuerst, flammte dann prasselnd auf und beleuchtete die Gesichter der beiden Wanderburschen. Der Jüngere hielt die Augen geschlossen. Das blasse lange Gesicht unter der hellen Baskenmütze war naß von Regen und kaltem Schweiß. Auf den vorstehenden Backenknochen brannten zwei Fieberflecken. Der Ältere, ein sehr langer und dürrer Mensch, sah scheinbar gespannt in die Flammen. Sein Gesicht, durch einen ungepflegten Ziegenbart ins Lächerliche oder Unheimliche verlängert, mit kleinen Augen, die rot gerändert und wimpernlos waren, hatte den Ausdruck eines aufmerksamen, sprungbereiten Tieres.

Er war dabei, alle Schwierigkeiten zu durchdenken, die sich aus der Krankheit des Kameraden ergaben. Man war schließlich nicht beinahe zwanzig Jahre in der Welt herumgeschmissen, man hatte sich nicht fast ein Menschenalter mit Feinden aller Art, mit Not jeder Größe herumgebalgt, um hundertfünfzig Kilometer vor einem Ziel — jawohl einem Ziel! — in einem hinterpommerschen Dickicht den Freund zu verlieren. Unsinn.

Aber man hatte auch zu viel durchgemacht, um sich noch was vorzumachen. Der Junge war krank. Schwerkrank, Die Lunge, schon immer schwach, hatte jetzt etwas weg. Man mußte vorsichtig sein. Man mußte ein paar Tage Ruhe haben, Wärme, gutes Essen. Man mußte das haben. Also kriegte man es.

Das Wasser im Kochgeschirr brodelte. Der Ziegenbärtige warf eine ganze Handvoll Tee hinein, den letzten, aber das half nichts, man mußte sich stärken. „Trink, Roland“, sagte er und hielt dem Kranken den heißen Becher an die Lippen.

Der Junge griff gierig nach dem Getränk. „Angenehm“, flüsterte er zwischen den Schlucken, „kochst großartigen Tee, Tungo.“

„Die Meisen zwitschern schon“, antwortete der Ältere, „es ist halb vier. Wenn der Pott leer ist, wird es hell. Dann gehn wir los.“

„Gut“, bellte der Jüngere, „mir ist wieder ganz leidlich. Meine zwanzig bis dreißig Werst mache ich auch heute.

„Und wenn du zehn machst“, murrte der Ziegenbart, „wir haben Zeit.“ Er entfaltete eine Karte, steckte eine Nadel in den Wald, in dem sie saßen, maß mit einem Faden zehn Kilometer ab und schlug einen Halbkreis nach der See zu.

„Keine große Auswahl“, berichtete er, „bei sieben nordwestlich Dorf Wangerin, bei neun westlich Domäne Groß-Schörnitz, bei elf nördlich Vorwerk Brandhoff und bei ungefähr fünfzehn Gut Grünwalde. Kannst dir aussuchen.“

Der Kranke lächelte. „Ich werde mir’s aussuchen. Die sind schon alle ganz wild auf uns. Der Pächter von Rochitz, gestern, hat das sehr hübsch ausgedrückt: ‚Zwanzig junge Leute pro Tag, sechshundert im Monat, ein kriegsstarkes Bataillon Lungerer und Bettler ... Ich kann nicht, meine Herren.‘ Großartig, was? Lungerer und Bettler, meine Herren. Ein Ausgleich. Man kann sich wählen, was man ist.“

„Wir können auch noch mal schlafen“, schloß der Lange, schichtete ein halbes Dutzend ordentliche Knüppel über das Feuer, bettete den andern mit dem Gesicht gegen die Flammen und legte sich hinter ihn. Zwischen Holzwärme und Menschenwärme gebettet schlief der Junge sofort ein. Der Wind ließ etwas nach, der Regen verstärkte sich. In einem sanften, gleichmäßigen Rauschen ging er über den Wald, die Seen, die Felder, die Gehöfte und Dörfer, die langsam vom grauen Tag überhellt wurden.

Alle Straßen führen nach Haus

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