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Gespräch im Obstgarten über Emmy

Es war ein Herbsttag, genau gesagt, der 9. September. Die Sonne schien warm in den etwas verwilderten Garten der Hohmanns draußen in Blankenese. Die Äpfel waren bunt und gut geraten. Die Birnen an den schlechtgeschnittenen, kleinen Bäumen hingen rissig und borkig im üppigen Laub. Violette Herbstastern und gelbe Goldraute blühten in großen wuchernden Büschen. Im Hintergrund des Gartens, dicht vor dem baumbestandenen Abhang, der zum Fluß hinabging, sah man ein paar verunkrautete Erbsenbeete und eine noch grüne Wand von Stangenbohnen mit handlangen, fingerdicken Schoten. Unten von der Elbe her hörte man die Dampfer tuten. Aber man sah den Fluß nicht. Denn es lag ein leichter Nebelschleier über dem Wasser.

Hilla, die Frau des Architekten Hannes Hohmann, Ende Dreißig, schwarzhaarig, mit einem weißen kühnen Streifen durch das Haar, mit einem nicht besonders geschmackvollen grünen Sommerkleid, strumpflos, Sandalen an den Füßen, Hilla Hohmann saß in einem der Liegestühle und schnippelte unaufmerksam Bohnen in eine etwas angeschlagene Emailleschüssel. Ab und zu blickte sie zu Conrad Brederopp hinüber, der in dem anderen Liegestuhl lag, eine Illustrierte vor der Nase. Er trug ein blaues Leinenhemd mit aufgekrempelten Ärmeln und zu weitem offenem Kragen. Auch die Hose war aufgekrempelt und viel zu weit. Es waren nicht seine eigenen Sachen. Hannes Hohmann hatte sie ihm gepumpt. Brederopp warf die Illustrierte ärgerlich fort. Man konnte sein Gesicht sehen. Es mußte einmal sehr hübsch gewesen sein. Aber jetzt war es ungesund gedunsen. Aufgeschwemmt. Schweißperlen standen auf der schön gewölbten Stirn. Die sehr hellen Augen hatten einen Schleier. Das Haar des Vierzigjährigen war eisengrau, eigenwillig gelockt, mit einem Scheitel, der nur mühsam durch das Gewirr gezogen war.

Brederopp gähnte gewaltig: „Schön ist es bei euch. Märchenhaft schön.“

Hilla Hohmann lächelte: „Nur verdammt langweilig, nicht wahr?“

Brederopp sah sie erstaunt an. „Für euch muß es allerdings verdammt langweilig sein“, sagte er etwas spitz, „ein aufgedunsener Plenni, der sich in der Sonne herumräkelt, ein Psychiater a. D., der mit der eignen Psyche nicht fertig wird. Da habt ihr euch was Schönes aufgeladen.“

„Mit Erbitterung kommen Sie bei mir nicht weiter, Conrad“, sagte Hilla ruhig, „ich bin froh, daß Sie da sind, und Hannes ist es auch.“

Ein Apfel polterte vom Baum. Brederopp erhob sich schwerfällig, betrachtete die bunte Frucht und legte sie auf die geschnippelten Bohnen. „Dann ist es ja gut“, sagte er und wandte sich dem Hause zu. „Setzen Sie sich wieder her“, sagte Hilla friedlich, „ich muß endlich mit Ihnen reden.“ Mit einem Seufzer setzte sich Conrad. Er holte aus seiner Hosentasche ein primitiv gehämmertes Messingbüchschen, schaute bekümmert hinein, weil nur noch wenig Tabak drin war, drehte sich mit fixen Fingern eine Zigarette und begann das Zigarettenbüchschen auf einem Finger zu balancieren. Er entwickelte dabei eine beachtliche Geschicklichkeit. „Also bitte“, sagte er, scheinbar in sein Spiel vertieft, und da Hilla schweigend ihre Bohnen weiterschnippelte: „Sie wollen wissen, warum ich hier bei euch herumsitze. Sechs Wochen sind es bald. Und die Tätigkeit eines Rauchers ausübe, eines Schläfers zur Not noch und eines Fressers.“

„Essen können Sie ruhig mehr“, stellte Hilla sachlich fest, „das täte Ihnen bestimmt gut.“

„Ich mag nicht“, brummelte Conrad und wirbelte das Büchschen immer schneller, bis es hinfiel und der spärliche Tabakrest sich auf dem Rasen verstreute.

„Ich mag auch keine Bohnen schnippeln“, sagte Hilla ärgerlich, „ich bin nämlich eine miserable Hausfrau. Mich langweilt alles, was mit dem trauten Heim zusammenhängt. Von Natur aus bin ich Frauenrechtlerin, damit Sie es endlich wissen.“

„Gräßlich“, seufzte Conrad, „alle Frauenrechtlerinnen sind borniert, hochnäsig und verbittert, außer Ihnen natürlich. Übrigens, warum haben Sie dann geheiratet?“

Hilla lachte: „Kein Mensch weiß, warum er heiratet. Bestenfalls weiß er, warum er verheiratet bleibt.“

Conrad schielte mißtrauisch zu Hilla hinüber. „Sie sind ein listiger Indianer, Hilla“, sagte er anerkennend, „aber Sie brauchen gar nicht auf Schleichpfaden heranzukriechen.“

„Also kurz und direkt: Warum gehen Sie nicht einmal zu Ihrer Frau?“

„Ich war ja da“, sagte Brederopp, „tatsächlich. Sie wohnt in Wandsbek. Eine greuliche Backsteinstraße ist das, eingequetschte Gärtchen hinter Eisenzäunen, wissen Sie: Zäunchen aus lauter stumpfen Lanzen zusammengeschweißt. Kümmerliche Obstbäumchen, Beerensträucher, verregnete Astern und stabile Gerüste zum Teppichklopfen und dahinter putzig verzierte Häuschen, zweistöckig, aus roten und gelben Backsteinen. Stück für Stück der Traum eines Krankenkassenangestellten. Mittlere Laufbahn. Samtportieren vor den Fenstern mit Troddeln ...“

„Ich kenne Wandsbek“, unterbrach Hilla ungeduldig.

„Na ja ... und in einem solchen Haus wohnt Dr. med. Ilse Brederopp. Sprechstunden 9 bis 10 und 16 bis 17 Uhr. Erste Etage, Geranien in Blumenkästen vor den Fenstern. Ich mag Geranien nicht. Sie stinken, finde ich.“

„Und warum sind Sie nicht hinaufgegangen?“ fragte Hilla hellsichtig.

„Wegen Emmy“, sagte Conrad heiter, „tatsächlich wegen Emmy.“

„Wer ist denn Emmy?“

„Das habe ich mich auch gefragt“, seufzte Conrad. Er begann wieder seine Kunststücke mit dem Messingbüchschen, warf es von den Fingerspitzen auf die Handfläche, von der Handfläche auf die Fingerspitzen. Scheinbar völlig in das Spiel vertieft. Dabei begann er endlich zu erzählen, schnell und tonlos, eine Geschichte also, die er sich selbst schon oft erzählt hatte: „Sie müssen sich das einmal vorstellen, Hilla, ein Waldlager in der Ukraine; irgendein freier Fleck mitten in einer Waldwüste. Das ist nämlich auch Wüste, wenn man nichts zu sehen bekommt als Bäume, Bäume, Bäume. Und natürlich Stacheldraht rings ums Lager und ein paar Wachttürme mit Azetylenscheinwerfern, ein paar Baracken, ein paar Pritschen drin, ein Tisch und gräßlich viele marode, dreckige, hungrige, überanstrengte Männer. Drei Fragen gibt es da nur: Hältst du das aus? Was gibt es zu essen? Was macht die Frau zu Hause? Was für prächtige samtene Venusse diese ausgemergelten Kerls zu Hause hatten, wundervolle Wesen. Ich kannte sie alle: Käthe, Maria, Anna, Hermine. Sogar eine Fritzi hatten wir, eine Langblondine in Maulwurfspelz und, soweit man das auf der zerknitterten Fotografie erkennen konnte, ein gieriges Biest. Aber auch sie eine gütige Venus von Herz und Humor. Und alle schrieben sie. Die meisten: Ich warte auf Dich. Einige auch: Lieber Walther oder Karl oder Emil: ich habe einen anderen und ein Kind. Und Emil — oder war es Karl? — schlich sich während der Frühstückspause weg und hängte sich an einem Baum auf. Aus Liebe. Es gab ja genug Bäume.“

„Ihr werdet auch keine Engel gewesen sein“, sagte Hilla merkwürdig hart, „und wenn Ilse ...“

„Wenn es das gewesen wäre“, lachte Conrad böse. „Ich sehe es durchaus nicht ein, warum eine Frau drei oder fünf Jahre warten soll, ob sie ihr Wrack von Mann vom lieben Staat gütigst wieder franko Haus zurückgeliefert bekommt.“

„Sie soll warten, das gehört sich so“, unterbrach Hilla heftig. „Aber wenn es das nicht war ...“

„Stellen Sie sich einmal vor: alle bekommen ihre Post, Johann und Hermann, Krischan und selbst der schielende und O-beinige Otto. Nur einer nicht, den sie Doktor nennen. Doktor Conni. Und er malt immer wieder in Blockbuchstaben auf die schmierigen Postkarten die gleiche Adresse: Dr. Ilse Brederopp, Berlin-Wilmersdorf, Kaiserallee 12. Aber er bekommt keine Antwort. Frauen haben eben keine Phantasie. Und wenn sie gekränkt sind, werden sie grausam, dumm, blind und taub. Über die Schwerhörigkeit des Herzens hat der junge Brederopp mal einen glänzenden Artikel geschrieben. Stimmte großartig.“

Hilla lachte freundlich. Und Brederopp winkte ab: „Lassen wir doch den alten Kohl. Kapusta auf russisch. Er ist längst gegessen, verdaut, vergessen.“

Jetzt wurde Hilla ärgerlich: „Ich denke, Sie sind ein Psychologe? Nichts haben Sie vergessen und gar nichts verdaut. Also reden Sie schon. Eines Tages bekamen Sie doch einen Brief. Und was stand drin?“

„Blödsinn“, fauchte Conrad.

„Genauer: Was für ein Blödsinn?“

„Lieber Conrad, ich gebe Dich frei für Emmy. Deine Ilse.“ Und ich habe ihr geantwortet, postwendend sozusagen, d. h. nach vierzehn Tagen: „Sehr liebenswürdig. Leider geben mich die Russen nicht frei. Übrigens: Wer ist Emmy?“

„Na, und wer war Emmy?“ fragte Hilla lächelnd.

„Das habe ich mich auch gefragt“, murrte Conrad, „man hat ja dort Zeit. Man kann sich immer wieder die gleichen blödsinnigen Fragen stellen. Wenn man die Äste von den Bäumen schlägt. Wenn man die Säge hin- und hergleiten läßt. Wissen Sie: zuerst habe ich immer auf die Säge gedrückt, bis ich Schwielen hatte. Aber dann habe ich es gelernt, sie elegant anzufassen, ganz zart wie ein leichtes Mädchen. Macht eigentlich Spaß, wenn die Zähne sich durchs Holz fressen. Nur ein bißchen sinnlos. Hat man ein Ende abgesägt, ist das nächste Ende dran und nach dem nächsten wieder das nächste. Zehn Stunden, zwölf Stunden, bis das ständig wachsende Soll erfüllt ist. Und zum Lohn aufgewärmte Kohlsuppe abends. Kapusta in Wasser. Oder Kascha: eine Grütze, die den Hals auszementierte. Beim Sägen: Wer ist Emmy? Beim Stämmeschleppen: Wer ist Emmy? Beim Essen: Wer ist Emmy? Wenn man nicht schlafen kann, weil die anderen schnarchen oder träumen: Wer ist Emmy?“

„Herrgott ... das mußte doch rauszukriegen sein, wer Emmy ist“, sagte Hilla ungeduldig, „oder haben Sie die Damen bundweise verzehrt wie die Spargel?“

„Spargel bekommen wir nicht“, lachte Conrad knabenhaft, „ich habe empfindliche Nieren. Aber schließlich habe ich’s doch rausgekriegt. Emmy war eine Patientin von mir. Eine ansehnliche Dame. Ungemein blondlockig, stupsnasig, mit flinken Mausaugen, von jenem Alter, wo’s Alter unbestimmt wird. Eine, die ungeheuer viel reden mußte. Sie konnte es sich leisten, eine Stunde, zwei Stunden im Sprechzimmer bei mir zu sitzen. Der Herr Gemahl fabrizierte Zahnpasta und zahlte gern jede Rechnung. War froh, daß er das alles nicht anhören mußte. Außerdem schrieb sie viele Briefe. Erst höfliche, dann ausführliche, dann abgründige, dann Liebesbriefe. Gehört zu meinem Beruf. Ich habe sie nachher nicht mehr gelesen. Gehört auch zu meinem Beruf. Ich denke mir, so einen Brief hat Ilse gefunden. Sie ist sehr ordentlich, und meine Anzüge wurden alle vier Wochen geklopft. Da hat der Teppichklopfer wahrscheinlich den Brief herausgeklopft. Das ist alles. Oder ich müßte im Traum mit ihr geschlafen haben.“

Er stand mit einem Ruck auf. Er trat auf Hilla zu. „Sagen Sie selbst: ist das verzeihlich? Wegen so einem Dreck einem Mann hinter Stacheldraht so was zu schreiben?“ Damit drehte er sich um und ging ins Haus. Seufzend sah Hilla ihm nach. Verständlich ist es, dachte sie. Aber nicht verzeihlich. Und nach einer Weile: Nein, es ist auch nicht verständlich. Warum gehen die Menschen so schauderhaft miteinander um?

In diesem Augenblick schlug die Standuhr oben im Wohnzimmer elf. Aus dem großen Atelier, abseits des Hauses, kamen Hohmanns Angestellte, von ihm „die Sklaven“ genannt. Bruhn, der erste Assistent, klein, langlockig, schmallippig, mit jenem hochmütigen Zug, den die ersten Mitarbeiter so oft haben, weil sie mehr zu können meinen als die Chefs und weil es ihnen bestimmt ist, nie ein Chef zu werden. Dahinter, klein, breit und pummelig, mit bronzebraun geschminktem Gesicht und rubinroten Lippen, Carla Pfeiffer, die Sekretärin schon aus Berliner Tagen, die unentbehrliche Kraft, kaltschnäuzig, warmherzig, unbedenklich in Worten und Taten, frech und tüchtig. Dann drei technische Zeichner ohne Gesicht und eigentlich auch ohne Namen, tüchtige, schlechtbezahlte junge Männer in weißen Kitteln, und schließlich, nur zögernd in die Sonne tretend, „die Neue“: Christina Keller, eine Gutsbesitzerstochter aus Mecklenburg, die sich hier ihr Geld zum Studium an der Kunstakademie verdiente, eine zierliche hochbeinige Frau, nein, ein Mädchen, in dessen helles, schmales Gesicht dunkle Erfahrungen eingezeichnet waren. Oder schien es Hilla nur so, weil Hannes, ihr Mann, von den trüben Kriegserlebnissen Christinas erzählt hatte? Nun — er erzählte immer etwas übertrieben. Er machte sich gern ein dramatisches Bild von Menschen, vor allem von Frauen. Hilla sah zu Christina hinüber. Sie stand abseits von den anderen, die lärmend und fröhlich schwätzten, halb abgewandt, beide Arme auf den Zaun gestützt, und starrte unbewegt auf die Baumwipfel am Abhang. Ein hübsches Bild, dachte Hilla, aber kein fröhliches.

Oben vom Balkon rief Hannes Hohmann nach ihr. Da stand er: riesig, breit, vergnügt. Sein rötlicher Assyrerbart glänzte in der Sonne. Er trug seine neuen schokoladenfarbenen Hosen, ein silbergraues Jackett aus grobem Stoff, ein mädchenhaft-rosa Seidenhemd und ein grasgrünes Schmetterlingsschleifchen davor. Wie immer war er zu bunt, zu lustig, zu auffällig angezogen für einen Mann von fünfundvierzig Jahren, und wie immer rief er mit seiner lustigen, zu hellen Stimme: „Ich fahr’ in die Stadt, Hillachen. Nicht warten. Weiß der Deibel, wie lange es dauert. Was mitzubringen?“

Und Hilla, die Schüssel mit den Bohnen unter dem Arm, den schönen Kopf über dem häßlichen Sommerkleid zum Balkon erhoben, antwortete: „Danke schön. Ich brauch’ nix, und beeil dich nicht mehr als nötig.“

Hohmann beugte sich über das Balkongeländer. Er schrie ärgerlich: „Warum du wohl nie Wünsche hast? Wenn ich dir wenigstens ’n kleenen Mohren besorgen dürfte, der die Zimmer aufräumt und die blödsinnigen Bohnen schnippelt.“ Hilla lachte: „Ach ... dann hätte ich nichts mehr zu tun. Wäre gräßlich.“ In diesem Augenblick fiel es ihr ein, daß die meisten Männer unentschlossene Geschöpfe sind und daß man sie zuweilen stupsen muß, damit sie das tun, was sie sollten. Sie rief: „Du kannst doch was für mich tun. Nimm Conrad mit hinein. Du fährst doch über Wandsbek?“

„Über Wandsbek? Nanu, was will er denn in Wandsbek?“

„Seine Frau besuchen.“

„Was? So plötzlich eheliche Absichten?“

„Ja, aber ganz genau weiß er’s noch nicht. Also nimm ihn untern Arm und setz ihn in Wandsbek ab!“

„Gemacht“, sagte Hannes, „du bist eine tolle Frau.“

Damit verschwand er vom Balkon. Hilla hörte seine Elefantenschritte die Treppe hinunterstampfen, hörte ihn nach Conrad rufen, hörte das aufgeregte Murmeln der beiden Männer, das dröhnende Gelächter Hohmanns, hörte das Auto anspringen. Sie lief ums Haus und sah, durch den Taxusbaum verdeckt, wie das Auto abfuhr. Conrad saß steif und ablehnend neben Hannes. Hannes redete eifrig auf ihn ein.

Als wäre nichts geschehen

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